Mein erstes Mal im Westen

Lieber Dr. Zucker,

mein erster Tag im Westen war der 9. Februar 1990. Die ersten drei Monate nach dem Mauerfall verbrachte ich damit, mich an die bunte Warenwelt und die unverschämten Preise der Westprodukte zu gewöhnen. An diesem 9. Februar beschloss ich also mit zwei Freunden, dass die Zeit gekommen war. K., ein Maler, der mit seiner blonden Perücke und der übergroßen rosa Sonnenbrille entfernt an Andy Warhol erinnerte, und D., ein charmanter, hyperaktiver Pegeltrinker und Kellner, waren meine Begleiter.

Wir trafen uns morgens um 9 im Hotel Jägertor, damals eine Institution in Potsdam und unser Ausgangspunkt. Nach einem famosen Frühstück (Anm.: Bier+Sekt) machten wir uns im Schneetreiben auf zur Glienicker Brücke, dem Schauplatz legendärer Agentenübergaben zwischen KGB und CIA. Über die menschenleere Brücke wanderten wir zum Gasthaus Moorlake, unserer ersten Station in West-Berlin, um dort weitere Herrengedecke (Anm.: dito) zu uns zu nehmen. Der Wirt musterte uns abschätzend, plauderte dann aber doch zwei Stunden mit uns über sein Gasthaus und wünschte uns beim Abschied am Taxi, „dass mal alles gut geht für euch“.

Ich hatte ausreichend Devisenreserven von meiner Tante aus Freiburg, und so fuhren wir für 20 Mark zum Europa-Center. K. verschwand sofort für zwei Stunden in einem Spezialgeschäft, um Magazine mit Bildern nackter Jünglinge zu erwerben. D. und ich setzten uns in den Flur des Europa-Centers, dort freundete sich D. mit der Kellnerin eines nahe gelegenen Restaurants an, die uns kostenlos mit Schnäpsen versorgte. Um 17 Uhr schlug K. wieder auf und führte uns alsdann durch „sein“ Westberlin, wo er in den 50er Jahren aufgewachsen ist.

Auf dem Kudamm kam er auf die Idee, in ein Sex-Kino zu gehen. Nach zwei Minuten hauten wir ernüchtert ab. Wieder auf den Straßen, herrschte beschauliches Alltagsleben, und wir genossen die friedliche Atmosphäre. Die bunten Schaufenster faszinierten D. und mich. K. war wenig beeindruckt, da er schon häufiger in den Westen durfte, um Verwandte zu besuchen. Auf einer dieser Reisen setzte er sich nach Paris ab, dagegen konnte Charlottenburg nicht anstinken. Der Kudamm langweilte ihn, also zogen wir weiter.

Gegen neun Uhr verschlug es uns in die Fuggerstraße, damals ein Szenetreffpunkt in Schöneberg. Überall Menschen und Kneipen, es herrschte angenehmes Laissez-faire und Umherschweifen. Wir betraten also auf K.s Anregung eine der Spelunken, die meisten Gäste waren in schwarzes Leder gekleidet und starrten uns an. Wir fühlten uns eingeschüchtert und deplatziert. Zwei bärtige Rocker in Lederjacken standen auf und gingen auf uns zu. K. verschwand daraufhin im Darkroom und D. ging an die Bar, somit war ich allein. Einer der Bären nahm mich in den Arm (Anm.: Schraubstock) und rief: „Junge, wie kommst du denn hier her?“ Nach kurzer Zeit wurden uns aus der Tiefe der Trinkhöhle mehrere Schnäpse gebracht, und zwar so lange, bis ich nicht nicht mehr stehen konnte.

Ich fragte: „Gibt’s was zu essen?“ Und die Antwort lautete: „Da ham wa wat janz besondrit für dich!“ Der Bär teilte das schwarze Meer und führte mich an die Bar, welche aus vergitterten Bankschaltern bestand. An den Gittern hingen Handschellen, ich wurde freundlich auf einem Hocker platziert und mein auch schon schwer angeschlagener Begleiter setzte sich neben mich. Wir beschlossen, es den meisten Tresensitzern gleich zu tun und uns festzuketten, da unser Gleichgewicht stark beeinträchtigt war. Dann wurde mir mein ersehntes Essen gebracht, nachdem ich desaströs einen riesigen Hawaii-Toast verzehrt und noch zwei Klare gekippt hatte, ließ mein Erinnerungsvermögen nach.

Offensichtlich hatte der Rocker mich und meine zwei Kumpanen zum Taxi begleitet. Im Auto redete K. im Rhythmus einer Kalaschnikow von der beeindruckenden Freiheit der Szene und D. lag im Suffkoma. Verwirrt, betrunken und mit einigen Adressen in der Tasche fuhren wir nach Hause.
Das war also mein erster Tag in West-Berlin.

Freundschaft, dein M.