Dienstags um sieben klingelt bei Franziska der Wecker. Seit einigen Wochen mag Franziska Dienstage nicht mehr. Weswegen es ihr sehr schwer fällt, aufzustehen. Denn heute gibt es wieder das Fach „Politik und Wirtschaft“. Seit herausgekommen ist, dass die deutschlandkritischen Aufkleber in der Schule von ihr stammen, wurde das auch in „Politik und Wirtschaft“ thematisiert. Dann kamen die ganzen Argumente, die sie schon so oft gehört hat. Jede_r brauche eine nationale Identität. Deutschland hätte schon so viel geleistet. Goethe, Schiller, Luther, Einstein. Andere Nationen seien auch stolz, das sei total normal. Und auch in Polen gebe es Nazis. Am Ende wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte und auch nicht so richtig, was sie denken sollte. Und heute will Herr Hoffmann mit den Schüler_innen auch noch zu dieser Veranstaltung „20 Jahre Wiedervereinigung“ gehen.
Franziska zieht das Frühstück in die Länge, ohne es zu merken, und dann ist es schon acht Uhr. Eigentlich müsste sie jetzt rennen und würde trotzdem zu spät kommen. Stattdessen entscheidet sie sich, Bauchschmerzen zu haben. Das ist eine von den Krankheiten, die erstmal nicht geprüft werden können. „Bauchschmerzen, O.K., ich gebe es weiter“. Die Lehrerin, die sie am Telefon im Sekretariat erwischt, wirkt gestresst und stellt keine weiteren Fragen. Jetzt sitzt Franziska zu Hause und ihr gehen die ganzen Diskussionen, die sie in den vergangenen Schulwochen hatte, nicht aus dem Kopf. Also beschließt sie, sich das mal näher anzusehen: Deutschland, was ist das eigentlich? Warum wurde es wiedervereinigt? Auf Wikipedia klingt erstmal alles total harmlos: 16 Bundesländer, Grundgesetz, 82 Millionen Einwohner_innen, Regierungsform Parlamentarische Demokratie. Hier findet sie auf die Schnelle nur viel Positives über Deutschland. Nichts, was ihrem Unbehagen entspricht, das fest in ihrer Magengrube sitzt.
Deutschland sei schon uralt, hatte ihr Mitschüler gesagt, Tausende von Jahren. Es ging dabei um die Varusschlacht im Teutoburger Wald im Jahre neun und um die Germanen. Auf dem Weg in die Bibliothek sammelt Franziska nochmal die ganzen Argumente, die ihr entgegengebracht wurden. Und dann fängt sie an, sich verschiedene Bücher anzusehen, die sie mit der Schlagwortsuche gefunden hat. Deutschland ist eine Nation oder auch Nationalstaat, steht dort. Und diese Nationen sind entstanden, als sich der Kapitalismus herausgebildet hat. Wann passierte das mit Deutschland? 1871. Vorher, steht da, gab es Preußen, Bayern und ganz viele andere Kleinstaaten, die sich zusammengeschlossen haben. Aber…1871! Dann ist Deutschland nur…Scheiße, Mathematik mag sie eigentlich auch nicht so gern…138 Jahre alt. Das sind ja gerade mal vier Generationen. Doch Franziskas Mitschüler_innen und Herr Hoffmann haben ja immer von den Germanen und dem deutschen Volk gesprochen. Dann müsste es ja das deutsche Volk schon vor 1871 gegeben haben, was damals nur durch Grenzen getrennt war. Gab es damals auch eine Vereinigung, so wie 1989? Aber in den Geschichtsbüchern der Bibliothek wird so etwas nicht erwähnt. Im 19. Jahrhundert hat der Handel aufgrund des Kapitalismus stark zugenommen und die vielen Zölle, die an jeder Grenze entrichtet werden mussten, waren hierbei ein großes Hindernis. Vor allem der Vergleich mit dem fortschrittlichen Frankreich führte dies den Deutschen vor Augen. Erst vor diesem Hintergrund bildete sich im aufstrebenden Bürgertum ein gemeinsames deutsches Nationalbestreben heraus. Einige der Kleinstaaten haben sich sogar gegen die Reichsgründung 1871 gewehrt. Die wurden dann mit militärischer Gewalt gezwungen. Also gab es zuvor kein deutsches Volk?!
Warum reden Franziskas Mitschüler_innen nun die ganze Zeit von Volk und tausendjähriger Geschichte? Besonders interessant findet Franziska, dass in Berlin und Brandenburg früher ein Drittel der Bevölkerung französisch gesprochen hat, wie kann das sein? Sie entdeckt ein wissenschaftliches Buch, das ein paar Antworten parat zu haben scheint. Es ist furchtbar unverständlich geschrieben und Franziska überfliegt nur ein paar Seiten. Dort steht, dass sich erst durch die Entstehung der Nation eine einheitliche Sprache durchgesetzt hat. Auch die Vorstellungen, dass es eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Zusammengehörigkeit gebe, sind erst mit dieser Nationenbildung aufgekommen. Jetzt fängt es langsam an, für Franziska Sinn zu ergeben. Sie notiert sich, um das nicht zu vergessen: Deutschland wurde im 19. Jahrhundert erfunden.
Dann klingen wieder die Worte von Herrn Hoffmann in Franziska Ohren: Deutschland habe so viel Gutes geleistet. Im Geschichtsunterricht ist sie immer dazu gedrängt worden, sehr genau zu sein. Sie konnte sich die ganzen Jahreszahlen nie merken und musste sie trotzdem auswendig lernen. Also, denkt sie sich, bin ich jetzt auch einmal ganz genau: Wenn es Deutschland erst seit 1871 gibt, dann fallen Bach, Goethe und Luther raus. Dann notiert sie sich die herausragenden Ereignisse der Geschichte der deutschen Nation aus dem großen Lexikon um ihren Mitschüler_innen davon berichten zu können: 1884 bis 1919 deutscher Kolonialismus (Deutschland hatte zahlreiche Kolonien in Afrika und Asien.) 1904 Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, erster Weltkrieg, Nationalsozialismus, zweiter Weltkrieg, Holocaust. Deutschland ist ein Gruselkabinett, denkt sich Franziska und versteht langsam, warum sie dieses starke Unbehagen hat, das sich nicht verabschieden wollte. Jetzt wird ihr auch klar, weswegen sie heute nicht zu der Gedenkveranstaltung zur Wiedervereinigung gehen wollte. Sie wäre auf die Gedenkveranstaltung zur Wiedervereinigung des Gruselkabinetts gegangen.
Beim nächsten Treffen der Schulzeitung liegt ihr eifrig geschriebener Artikel auf dem Tisch. Er ist schon viel zu lang geworden und sie weiß nicht, wo sie noch kürzen soll. Franziska ist ein bisschen aufgeregt und unsicher. Dann blicken nacheinander alle auf, nachdem sie fertig mit Lesen sind. „Dein Text ist ganz gut. Ist ja eigentlich interessant. Aber so Geschichtsstunde…in der Schulzeitung, ist das nicht ein bisschen zu dröge?“ Stimmt, denkt sich Franziska. Eigentlich müsste sich auch gefragt werden, was das eigentlich mit uns zu tun hat. Was ist eigentlich heute das Problem damit, dass alle den Blödsinn kaufen?
Nach der längeren Diskussion in der Redaktion der Schulzeitung setzt sie sich hin und schreibt ihren Artikel weiter. Sie fängt damit an, dass nach der Wiedervereinigung sichtbar wurde, dass die Vorstellung von einem „deutschen Volk“ vor allem Gewalt bedeutet. Wie nie zuvor seit dem Nationalsozialismus gibt es rechte und rassistische Attacken, Pogrome und Morde. Bei der Wiedervereinigung haben sich nicht einfach nur zwei Gebilde zusammen geschlossen, sondern etwas ziemlich Gewaltvolles.
Aber vielleicht sammle ich erstmal die ganzen Sachen, die an so einer Nation unerträglich sind, bevor ich hier einfach drauflos schreibe, denkt sich Franziska und beginnt eine Liste. Es werden fast täglich Leute abgeschoben. Das gehört rein, denn eigentlich sollten alle dort wohnen können, wo sie wollen. Und diese Pogromstimmung aus den 1990ern gibt heute immer noch. Eine Freundin, die nicht weiß ist, hat ihr erzählt, dass sie nie nach Brandenburg fährt, weil das zu gefährlich ist. Seit dem Nationalsozialismus leben nur noch sehr wenige Jüdinnen und Juden in Deutschland wegen der nach wie vor starken Judenfeindschaft. Es treffen sich immer noch Vertriebenengruppen, die fordern, dass die Gebiete, die 1945 an Polen abgetreten wurden, wieder zu Deutschland dazugehören sollten… Oh je, das wird eine lange Liste. Franziska beschließt, daraus eine ganze Reihe in der Schulzeitung zu machen.