Ein immer aktuelles Thema bekommt mit dem 9. November 2009 eine besondere Relevanz: Die Deutung der Geschichte. Vergangenheit lässt sich nicht „bewältigen“. Sie ist geschehen und lässt sich nicht mehr verändern. Das einzig Variable an der Vergangenheit ist die Art und Weise, wie sie gedeutet wird.
Erinnerungspolitik behandelt nichts Abgeschlossenes, sondern wird immer wieder neu verhandelt und hat aufgrund ihrer politischen Funktion einen Bezug zur Gegenwart: Erinnerungspolitik ist die Selbstvergewisserung einer gemeinsamen Identität. Sie soll aktuelle Handlungen und politisches Geschehen legitimieren.
Das kollektive Bild der Vergangenheit, die Nationalgeschichte, wird immer wieder neu definiert. Im Laufe der Zeit ändert sich die Geschichtsschreibung, das ist zum Beispiel sehr gut an dem Nazi Stauffenberg ersichtlich, der in Deutschland erst als Verräter galt – auch noch lange Zeit nach 1945. Nun wird er als Held gefeiert. Auch das Bild der Wehrmacht hat sich im Laufe der Zeit verändert. Lange galt sie in der gemeinsamen Erinnerung als unbefleckt und frei von den nationalsozialistischen Verbrechen. Dieses Bild wurde erst nach sehr langer Zeit zurechtgerückt und vor allem die Mittäterschaft der Wehrmacht am Holocaust deutlich gemacht.
Das, was wir Geschichte nennen, ist nichts Festes oder Wahres. Es ist eine Verbindung aus tatsächlich Geschehenem, Erinnertem und Ideologie. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte hat in einer Gesellschaft stets eine politische Brisanz und einen direkten Bezug zu aktuellen Geschehnissen. „Die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“, meinte sogar der konservative Historiker Michael Stürmer. Die bürgerliche Gesellschaft formuliert hier selbst, dass die Geschichtsschreibung eine hohe Bedeutung für sie hat.
Die Generation der Täter_innen des Nationalsozialismus zeichnete sich vor allem durch Verdrängung, Verleugnung, Schuldabwehr und kollektiven Opferreflex aus. Noch heute werden die Debatten um die NS-Geschichte von einer Darstellung eines allgemein erfahrenen Leids dominiert. So hat die deutsche Oma auf einmal aufgrund der fehlenden Kohlen gelitten und Hitlers „fünfte Kolonne“, die Sudetendeutschen, wurden vertrieben. Die großen Städte Deutschlands wurden im Zweiten Weltkrieg bombardiert. Nun sehen sich die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs, als Opfer von Vertreibung und „Bombenholocaust“ z.B. in Dresden. Die Tatsache, dass der nationalsozialistische Wahnsinn nur durch den Luftkrieg beendet werden konnte und dass der Vertreibung der Sudeten ein Jahrzehnt des Terrors gegen die tschechische Zivilbevölkerung vorausgegangen war, spielt dabei keine Rolle mehr. Vielmehr werden die Grenzen zwischen Opfern und Täter_innen zum Verschwimmen gebracht. Damit wird versucht, die Frage nach Schuld und den historischen Voraussetzungen dieser deutschen Geschichte als irrelevant zu deuten.
Im Laufe der Zeit und oft nur durch beständigen Druck wandelte sich die Verdrängung der eigenen Schuld um in eine „Vergangenheitsbewältigung“. Doch was bedeutet das?
Die historische Schuld wurde zu einer historischen Pflicht umgedeutet. Die (vermeintlichen) Lehren aus der Vergangenheit dienen nun der Legitimation aktueller Politik, niemand kann es schöner als Bundespräsident Köhler formulieren: „Wir haben heute guten Grund, stolz auf unser Land zu sein. Das Erreichte ist undenkbar ohne die Lehren, die wir gezogen haben, und ist das Ergebnis ständiger Anstrengung“. In diesem Verständnis sei die BRD angeblich aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS vollständig geläutert hervorgegangen.
Deutschland etablierte sich als demokratisch-kapitalistische Nation, die Faschismus und Sozialismus überwunden hat. Auschwitz wurde als Zivilisationsbruch schlechthin betrachtet und als etwas verstanden, was außerhalb der eigentlichen Nationalgeschichte steht. Eine längst überwundene Jugendsünde, aus der gelernt wurde. Die vielbeschworenen „Lehren der Vergangenheit“ taten ihre Wirkung: Seither wird der Anspruch der erwachsenen und geläuterten Nation auf Weltniveau durchgesetzt, die politische und militärische Macht nicht nur am Hindukusch verteidigt. In der aktuell vorherrschenden Debatte liest sich das so: Unter großen Anstrengungen habe sich die Nation an ihrem eigenen Schopfe aus dem Schlamm gezogen.
Nirgendwo besser als hier zeigt sich auch die integrative Funktion von Erinnerungspolitik: Die vielen Bilder der deutsche Geschichte – und dabei auch über die deutschen Verbrechen – lassen ein nationales „Wir“ entstehen. Die Gegensätze der Gesellschaft verblassen angesichts einer gemeinsam erzählten Geschichte. Dem ist entgegenzuhalten: „Bewältigt wäre die Vergangenheit erst dann, wenn ihre Ursachen beseitigt sind.“ (Adorno)
…es geht voran!
Mit dem Verschwinden der UdSSR und der neu erlangten gesamtdeutschen Selbstständigkeit kämpfte Deutschland endlich wieder um einen Platz ganz vorne (UN-Sicherheitsrat-Vorsitz, Exportweltmeister, Vorreiterrolle in der Green-Capitalism-Klimapolitik, internationale Bundeswehr-Kriegseinsätze…). Der gemeinsame Kampf um Weltmarkt, Teilhabe und Anerkennung ist der nationale Kitt und das hehre Ziel, das Arbeitgeberin und Lohnabhängiger gemeinsam schaffen. Alle sollen für „das größere Wohl“ den Gürtel enger schnallen, statt dass sie sich mit ihrer unversöhnlichen Gegensätzlichkeit, ihrem Zwang zur Konkurrenz im Sinne des Alle-gegen-alle und dem Zwang der Verhältnisse, unter denen sie leben, auseinandersetzen.
Mit der neuen Epoche, deren Beginn durch das Ende der Sowjetunion markiert ist, wurde eine neue Weltanschauung begründet: Das Ende der Geschichte. Damit behaupten die Vertreter_innen dieser These, dass sich die Geschichte nach dem weltweiten Durchsetzen des Kapitalismus nicht mehr wirklich weiter entwickeln wird. Ohne den Konflikt mit dem Ostblock gibt es keinen weltumspannenden Widerspruch mehr, auf dessen Basis die Menschheitsgeschichte noch große Qualitätssprünge machen könnte. Der neoliberale Kapitalismus, so wird behauptet, hätte sich konkurrenzlos durchgesetzt und würde unangefochten weiterexistieren, ab jetzt bis ans Ende aller Tage. Das ist nicht nur eine höchst einfältige These, sie zeigt auch großartig die herrschaftslegitimierende Funktion der Geschichtsdeutung. Mit dem Begriff „Ende der Geschichte“ hat Politikwissenschaftler Francis Fukuyama klarzumachen versucht, dass die Menschheit am Ende ihrer Entwicklung sei. Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft, so wird damit behauptet, verwalten die Menschheit, bis die Erde in die Sonne stürzt. Widerstand zwecklos. Amen.
Welche Freiheit?
Im 20. Jahr nach dem Mauerfall müßten angesichts der Wirtschaftskrise der nationale Taumel und die Euphorie über das Ende der DDR verblassen. Gerade deshalb werden in der Geschichtsschreibung die Argumente immer absurder. Insbesondere wird sich weiterhin darauf bezogen, was unter dem kapitalistischen Zwang zur Kapitalverwertung und Wertproduktion alles geschaffen wurde. Doch das sollte eigentlich keine vordergründige Rolle spielen, wenn es um menschlichen Fortschritt geht.
Mit der Rede von der gewonnenen Freiheit nach dem Ende der DDR macht es sich die Berliner Republik und die Öffentlichkeit sehr leicht, denn wahre Freiheit misst sich nicht daran, welche Unfreiheit vorher herrschte, sondern welche Freiheit eigentlich möglich ist. Dass es zur Zeit mit der vom Realsozialismus befreiten Welt nicht allzu gut bestellt ist, lässt sich mit einem wohligen Bauchgefühl gut ausblenden, wenn die Vergangenheit besonders düster betrachtet wird (cool war die DDR trotzdem nicht, siehe Artikel zum Realsozialismus in dieser Ausgabe). Begriffe wie Zwang, Unfreiheit, Überwachung, Umweltverschmutzung, Dreck und die Starrheit von Apparat und Wirtschaft dominieren hierbei, um die Gegenwart stärker leuchten zu lassen als je zuvor. Die Freiheit nach der DDR ist aber lediglich der Zwang, sich im Hauen und Stechen der Konkurrenz sein Ausbeutungsverhältnis selbst zu wählen. Toll, oder?
Dass das noch lange nicht wirkliche Freiheit bedeutet, sondern der bloße Verweis auf ein „Noch-Schlimmer“ ein gelinde gesagt bescheuertes Argument ist, zeigt sich offensichtlich. Doch leider gehört es nicht grad zum gesellschaftlichen Mainstream, dass Freiheit nicht die Wahl zwischen Schwarz und Weiß (Lidl und Plus, FDP und Grüne, Hartz IV und Lohnarbeit, MäcGeiz und Lafayette) ist, sondern dass die wahre Freiheit vielmehr meint, aus einer solch vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.
Niemand hat die Absicht, die Nation abzuschaffen…
Dass unserer Gesellschaft die Zwangsläufigkeit zur Krise, zu beschissenen Lösungsansätzen und Konfliktbewältigungsstrategien (Neoliberalismus, Staatshörigkeit, soziale Befriedung durch Hartz IV,…) innewohnt, spielt am 9. November keine Rolle. Abgefeiert wird hier die vermeintliche Freiheitsliebe der Deutschen. Ausgeblendet werden im Feiertaumel die Missstände des kapitalistischen Verwertungszwangs.
Die Leute sind im Herbst ‘89 für bessere Lebensbedingungen und Freiheit auf die Straße gegangen. Sie verlangten ihren Zugang zur westlichen Welt auch wegen des Glücksversprechens, dass der Kapitalismus ihnen gab. Dass dieses Versprechen zwar gegeben, aber nicht eingelöst werden kann, steht leider nicht mal im Kleingedruckten dieser Gesellschaft. Dieser Kampf für „ich will‘s verdammt noch mal besser haben“ wird nun umgedeutet in einen Akt des nationalen Schulterschlusses, einer historischen Zwangsläufigkeit und einer zur Reife gekommenen, auf dem Weltmarkt selbstbewusst positionierten Nation. Hier zeigt sich einmal mehr die identitätsstiftende und herrschaftslegitimierende Funktion von Geschichtspolitik.
Gerade am 9. November gibt es nichts zu feiern außer der Hoffnung, einmal in der befreiten Gesellschaft wirklich feiern zu können. Der widerliche Zynismus an diesem Datum wird gerade in der Verdrängung des Gedenkens an die Opfer der Pogromnacht am 9. November 1938 durch den nationalen Einheitstaumel deutlich. Aus dem Baukasten der Erinnerung wird das zusammengefügt, was dem Fortkommen des Projekts Deutschland dient. Die Betroffenheit über die Verbrechen der Täter_innengeneration weicht dem wiederstolzen „Wir sind wieder wer“ der Berliner Republik. In Erinnerung an die Opfer des NS gilt es auch im postfaschistischen Deutschland den Kampf weiterzuführen um die Interpretation der Geschichte und um eine wirklich freie Gesellschaft jenseits der Zwänge von Staat, Nation und Kapital.
Aus der eingangs gestellten These, dass Nationalgeschichte gemacht wird, folgt vor allem, dass sie immer mit Vorsicht genossen und kritisch hinterfragt werden muss. Das heißt nochmal bildlich an dem Gerede vom nationalen Gründungsmythos, der Varusschlacht, und ihrem Helden Hermann verdeutlicht: Ein paar ungewaschene Barbaren haben sich, zahlreiche Jahrhunderte bevor von Deutschland überhaupt geredet wurde, im Wald gekloppt. Und? Was hat das mit uns zu tun?
Geschichte und Gesellschaft sind menschengemacht. Sie können von Menschen verändert werden. Der These, dass das Ende der Geschichte erreicht sei, gilt es entgegenzuhalten: Das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen. Der Zeitpunkt, an dem die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse umgeworfen werden und die befreite Gesellschaft, die freie Entfaltung und die Befriedigung der Bedürfnisse aller erreicht sind, ist für uns der Zeitpunkt, an dem mit der Revolution die Notbremse der Geschichte gezogen wird. Oder, um es mit Karl Marx zu formulieren, der Zeitpunkt, an dem „die wahre Geschichte der Menschheit beginnt.“