Hassen für die Gemeinschaft

Warum in letzter Zeit noch mehr Scheiße gelabert wird. Und warum einige deswegen von Sozialchauvinismus reden.

Wie lange geht das jetzt schon? Anfang 2009 behauptete der deutsche Außenminister, ihn erinnere der Lebensstil von Arbeitslosen an spätrömische Dekadenz. Im Fernsehen schwatzte ein renommierter Philosoph davon, dass mittlerweile Arme die Reichen ausbeuten. Wem in der Schule gesagt wurde, dass aus ihm_ihr sowieso nichts wird, bekommt jetzt die geringe Qualifikation vorgeworfen. Skandalnudel Sarrazin inszeniert sich als Opfer, indem er sich samt Medientross aus einem Kreuzberger Dönerladen schmeißen lässt.
Auch in deinem Umfeld hast du sicher schon gehört, wie sich jemand abwertend oder mitleidig über Menschen in einer beschissenen Lage äußert. Gleichzeitig wird denen die Schuld an ihren Problemen gegeben und sie sollen sie gefälligst auch selbst lösen.

Ok, das ist nicht gerade neu. Fiese Mitschüler_innen kannten deine Eltern bestimmt auch. Und dass gestresste Workaholics Arbeitslosigkeit für ein Paradies halten, hat seinen Ursprung eher in deren Phantasie als in der Realität. Aber festzuhalten ist, dass es in der Gesellschaft einen deutlichen Trend zum Abwerten von Personen und Gruppen gibt: wegen ihrer Bildung, wegen ihres sozialen Status, einfach wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung. Denen wird vorgeworfen, dass sie den Staat ausnutzen würden. Und weil die meisten Menschen den Staat für den Verwalter des Wohls all seiner Bürger_innen halten, fühlen sie sich persönlich angepisst. Kritiker_innen der Veranstaltung reden in letzter Zeit von Sozialchauvinismus.

Sozio-Schumi was?
Die beiden Worte „sozial“ und „Chauvinismus“ kreisen ganz gut das Phänomen ein, das beschrieben werden soll. Chauvinismus ist der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe, meist der Nation. Aber auch ein Mann, der sich Frauen überlegen fühlt, kann als „Chauvi“ bezeichnet werden. Und das Adjektiv „sozial“ bedeutet so viel wie: auf das Zusammenleben bezogen. Beim Sozialchauvinismus wird die behauptete Überlegenheit der Gruppe nicht ausschließlich gegen Menschen außerhalb dieser Gruppe gerichtet – nicht nur gegen die andere Nation oder gegen das andere Geschlecht. Sondern die Feindseligkeit trifft ebenso Mitglieder der eigenen Gemeinschaft, die sich – in den Augen der Sozialchauvinist_innen – nicht aktiv für die Gruppe und die Gruppeninteressen einzusetzen.

Im Interesse der Gemeinschaft sollen Hilfebedürftige auf die persönlichen Interessen und Vorlieben verzichten. So wie zum Beispiel bereits jetzt die Hartz IV-Empfänger_innen, deren Freiheit, sich den Job oder den Wohnort selbst auszusuchen, eingeschränkt ist. Protest gegen diese behördliche Praxis ist verstummt. Mittlerweile spekulieren Politiker fast aller Parteien, welche Gegenleistung die Arbeitslosen als Dienst an der Gemeinschaft noch erbringen könnten: Schnee schippen, Parkpflege, Senioren- und Krankenbetreuung. Auf solche verbalen Ausfälle folgen nicht immer gleich Taten. Aber es entsteht ein Klima, in dem so manch Ekelhaftes möglich wird. Wegen ihrer Identifikation mit Standort und Nation verzichten selbst die meisten Betroffenen auf Widerstand gegen ihre Benachteiligung, da diese doch dem „nationalen Interesse“ diene.
Altbewährtes Hausmittel gegen Abstiegsängste.
Wo das alles enden wird, ist noch offen. Zunächst einen großen Schritt zurück, in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: 1914 stimmte die SPD-Fraktion mit großer Mehrheit den Kriegskrediten zu. Vor allem die Angst, wieder einmal als „vaterlandslose Gesellen“ beschimpft zu werden, hatte die sozialdemokratischen Abgeordneten (damals nur Männer) dazu bewogen. Sie glaubten an die nationalistische Propaganda, die behauptetete, Deutschland werde von Russland bedroht. Manche sahen es sogar als ihre „sozialpatriotische“ Pflicht, mit den Krediten das deutsche Aufrüsten zu ermöglichen. Lenin, der spätere Häuptling der russischen Revolution, benannte diesen „Sozialpatriotismus“ verachtend „Sozialchauvinismus“ und schuf damit einen neuen Begriff.
Heute wird dieser allgemeiner verwendet. Es geht nicht unbedingt, um die Zustimmung zur „Ausplünderung fremder Völker“, wie Lenin sich ausdrückte. Die derzeitige sozialchauvinistische Stimmungsmache – neben der antisemitischen und der rassistischen – begründet sich selbst häufig mit den Erfahrungen der Wirtschaftskrise. Nachdem 2008 der US-Immobilienmarkt zusammenbrach, kommt es nun weltweit zu „Nachbeben“, bei denen auch ganze Staaten in den Ruin getrieben werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es vielen gerechtfertigt, wenn die Ansprüche des Staates an die Einzelnen zum vermeintlichen Wohle aller hoch gesteckt werden. Gerade deutsche Spießer_innen fühlen sich im Krisenverlauf bestätigt.
Deutschland steht dank vorherigem Sozialabbau und niedriger Löhne noch immer gut da. Als eine vermeintliche Ursache für Griechenlands Pleite gelten wiederum die dortigen hohen Löhne und Staatsausgaben. Der Sozialchauvinismus rät deshalb dazu, kein Mitleid zu haben.
Auch innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird der Ausschluss am deutlichsten gegenüber Nicht-Deutschen gefordert. Wer hier als Migrant_in nichts leistet, solle gefälligst abgeschoben werden. Rassistische Behauptungen werden gern bekräftigend herangezogen. Deutschen hingegen wird vor allem mit dem Ausschluss von der staatlichen Versorgung gedroht. Für diese sollen Gegenleistungen erbracht und Disziplinierungsmaßnahmen hingenommen werden.

Lass die Leute reden? Besser nicht!
Wir wollen nicht abstrakt von Sozialchauvinismus reden, um irgendwelche reaktionären Strömungen in einer „wissenschaftlichen Kategorie“ zusammenzufassen. Mit dem Begriff soll die umfassende Verschärfung unsolidarischer Politik, Ideologien und Alltagspraxen auf den Punkt gebracht und bekämpft werden. Die aktuelle Gefahr besteht darin, dass der Stimmungsmache bald Taten folgen, die den ohnehin beschissenen Alltag unerträglich machen.
Die Ursache der großen und kleinen Wirtschaftskrisen, die der Sozialchauvinismus den ohnehin sozial Benachteiligten in die Schuhe schieben will, ist vielmehr in der kapitalistischen Wirtschaft und im bürgerlichen Staat selbst zu finden. Sozialchauvinismus ist eine Form von verkürzter Kapitalismuskritik: Die Spielregeln werden nicht in Frage gestellt, sondern behauptet, dass sich nur zu viele Leute nicht daran halten. Wer die Regeln aber ändern will, wird sich zwangsläufig mit den Sozialchauvinist_innen auseinandersetzen müssen.

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