Killing in the name of… Mehrwertproduktion

Warum Arbeit im Kapitalismus krank macht und oft auch tödlich endet

Was ist eigentlich gesund? Je nachdem, wen man fragt, bekommt man vermutlich sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Die einen werden vielleicht siebenmal die Woche Sport als gesund empfinden, die anderen denken sich eher „Sport ist Mord“. Was auch immer Menschen genau unter „Gesundheit“ verstehen, sicher ist: Alle Menschen sind verletzliche Wesen. Und die Art, wie unsere Gesellschaft wirtschaftet, macht systematisch die Leute kaputt – physisch wie psychisch. Bis heute wird gerne gesagt, dass Gebrechen „in der Familie liegen“. Rückenleiden oder Alkoholismus können durch gleiche Berufs- und Klassenzugehörigkeit über Generationen hinweg begünstigt werden.

Aber wagen wir doch einfach mal selbst einen Blick in die Arbeitsstätten des Kapitals. Stell Dir dazu folgende Szene vor, die 2019 tatsächlich so passiert ist: Du machst einen Ferienjob bei VW in Wolfsburg. Nachtschicht am Fließband und gerade zählst Du die verbleibenden Stunden, bis Du endlich nach Hause fahren kannst. Neben Dir arbeitet Dein älterer Kollege Erol. Auf dem Rückweg vom Pausenraum kippt er einfach aus den Latschen. Notärzt*innen kommen und versuchen, ihn wiederzubeleben, aber da ist nichts mehr zu machen. Bis ein Bestattungsunternehmen den Verstorbenen abholt, vergehen zwei Stunden. Für Deine Kolleg*innen und Dich kommt ein Notfallseelsorger und am nächsten Tag kannst Du mit den VW-Sozialcoaches über den Vorfall reden. Scheinbar machen sich die Verantwortlichen im Werk Gedanken darum, wie es ihren Mitarbeiter*innen geht und ob sie im Job zurechtkommen. Gerade große Betriebe bieten ihren Arbeitskräften alles Mögliche an, damit diese gesund bleiben und begleiten sie in Notfällen: Manager erhalten psychosoziale Trainings, damit sie den Druck im Alltag besser aushalten. Und wenn jemand mal während der Schicht draufgeht, kommen eben die Seelsorger*innen.

Es mag sicher Unternehmer*innen geben, denen aufrichtig etwas daran liegt, dass ihre Beschäftigten sich körperlich und psychisch gut fühlen. Gleichzeitig schreiben Markt und Staat den Unternehmen die Regeln vor. Zurück also in die VW-Werkshalle: Was meinst Du, haben die Chef*innen der Schicht das Band angehalten oder musstet Ihr am Fließband munter fort malochen, während die Rettungssanis daneben den Defibrillator angesetzt haben? Unternehmen, die dank Marktwirtschaft profitorientiert wirtschaften müssen, haben zunächst mal keinerlei Interesse daran, dass es ihren Arbeitskräften wirklich gut geht. Der Laden muss halt am Laufen gehalten werden und aus marktwirtschaftlicher Perspektive sind Erol und Du vor allem eins: Arbeitskräfte, die weiter Karren montieren müssen, damit VW in der Konkurrenz mit Hyundai oder Toyota nicht den Kürzeren zieht.

Im Schlachthaus der Marktwirtschaft

Um unter Konkurrenzbedingungen möglichst schnell und billig Produkte herzustellen, können Unternehmen vor allem an den Arbeitsbedingungen drehen. Viele Leute sprechen dabei von „Stellschrauben“, als ginge es um etwas rein Mechanisches. Das verdeckt, welche brutalen Konsequenzen miese Arbeitsbedingungen haben können. Wer früher etwa als Kumpel Untertage gearbeitet hat, ist nicht selten später an seiner Staublunge krepiert. Und an diesen Bedingungen hat sich seit den Kindertagen der Industrialisierung nur bedingt etwas geändert. Allein in den letzten zehn Jahren starben mindestens 6500 Gastarbeitende in Katar, wo fleißig für die kommende Fußballweltmeisterschaft der Herren gebaut wird: Herz-Kreislauf-Versagen, Stürze in die Tiefe, (Selbst-)Strangulationen – you name it. Auf riesigen Schweinefarmen in West-Utah saufen Arbeiter*innen in Tümpeln aus Schweineexkrementen ab. Was teilweise wie ein effekthaschender LowBudget-Splatterfilm klingt, ist in der Welt des Kapitals business as usual.

Damals wie heute hat vor allem die Arbeiter*innenbewegung Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen erkämpft, die dann der Staat den Unternehmen als Sozialgesetzgebung aufzwingen musste – etwa eine maximale Arbeitszeit, Sozialversicherungen oder ein Verbot von Kinderarbeit. Damit nicht zu viele Lohnabhängige in zu kurzer Zeit verrecken oder verstümmelt werden, schreibt der Staat heute auf Baustellen Stahlkappenschuhe und einen Helm vor oder legt fest, welchen Anteil von giftigen Dämpfen eine Atemschutzmaske für Lackierer*innen filtern muss. Ob alle Richtlinien auch tatsächlich immer so umgesetzt werden, sei mal dahingestellt. Aber selbst grundlegende Regeln zum Schutz von Menschen halten Unternehmen nur ein, weil sie dazu gezwungen werden. Und das soll dann angeblich die sinnvollste Art und Weise seit Menschengedenken sein, Wirtschaft zu organisieren.

Viele Leute meinen, die offene Brutalität der kapitalistischen Produktion früherer Tage sei aus Ländern wie Deutschland weitgehend verschwunden. Doch sie ist bestenfalls ausgelagert – etwa an Arbeitsmigrant*innen oder in ärmere Teile der Welt. Denn auch in der „sozialen“ Marktwirtschaft müssen Menschen für ein mageres Einkommen ihre körperliche Unversehrtheit oder ihr Leben aufs Spiel setzen. Am schlechtesten stehen dabei diejenigen da, die beispielsweise aus Bulgarien extra für den Job in die deutsche Provinz ziehen, um zusammengepfercht in kleinen und überteuerten Zimmern einquartiert zu werden. Nur um dann bei irgendwelchen Subunternehmen für Löhne zwischen drei und fünf Euro die Stunde zu ackern oder als Erntehelfer*innen Spargel zu stechen. Wie die Lohnarbeiter*innen in den Sweatshops in Pakistan, Bangladesch oder Guatemala leben und arbeiten müssen, fragt man lieber erst gar nicht.

Montag wieder Büro: richtig Bock

Klar, es macht einen Unterschied, ob Menschen in der Fleischindustrie tote Schweine zerschneiden oder ob sie in Berlin bei einer hippen Agentur angestellt sind. Dort steht die Obstschale neben dem Kicker im Pausenraum, freitags gönnen sich alle gemeinsam ein Feierabendbierchen. Wer Lust hat, streckt den eigenen Körper nach dem vielen Sitzen im betriebsinternen Pilates-Kurs – work hard, play hard. Weniger zwangvoll als in anderen Branchen geht’s hier aber trotzdem nicht zu. Denn oft genug erkaufen sich Unternehmen mit all den Feel-Good-Vibes die 15 unbezahlten Überstunden und erwarten, dass E-Mails auch mal um 23 Uhr beantwortet werden. Oft müssen die Chef*innen das nicht mal selber aussprechen und einfordern. Schließlich will keiner seinen Job verlieren oder in Ungunst bei den Kolleg*innen geraten, die die Arbeit übernehmen müssen, die man selbst nicht schafft. Viele haben absurde Erwartungen und Deadlines längst selbst verinnerlicht.

Wenn sich die Aufgaben im Büro stapeln, hören die stressigen Phasen nicht mehr auf. Auch in den mehrheitlich von Frauen* ausgeführten Dienstleistungs- oder Carejobs ist das der ganz normale Alltag: Waren einräumen, Schlangen abarbeiten, jede Frage freundlich beantworten, dem hochgetakteten Zeitplan im Krankenhaus oder Altenheim hinterherhecheln. All das nehmen die Menschen mit nach Hause, wo auch noch die Arbeiten warten, für die man keinen Cent sieht: Gereiztheit? Schlafstörung? Depression? Um hochtourig laufende Jobs lange durchzuhalten, müssen Leute dann schon mal in den Medikamentenschrank greifen. Aber YOLO: So richtig geil ist Lohnarbeit doch erst dann, wenn Sonntagabend beim Gedanken an den nächsten Morgen die Panikattacke kickt.

Das geht nicht spurlos an den Menschen vorbei, aber sie nehmen es auf sich: Weil auf dem Weltmarkt der Möglichkeiten aktuell nichts anderes im Angebot ist – außer vielleicht Psychoterror durchs Jobcenter im Tausch gegen ein paar Peanuts. Wer ein Leben führen will, das nicht durch Mangel an Grundlegendem bestimmt ist, muss seine Arbeitskraft verkaufen. Die Folge: Viele Menschen haben Angst, irgendwann nicht mehr verwertbar für Unternehmen zu sein und deswegen den Job zu verlieren oder keinen neuen mehr zu finden. Darüber nachzudenken, kann ganz schön niederschmetternd sein. Denn weder kommen die Unternehmen in der Marktwirtschaft aus der Konkurrenz zueinander heraus, noch wir als Menschen, die in diesen Betrieben den Buckel krumm machen und unser Wohlergehen aufs Spiel setzen.

Es geht uns nicht darum, Krankheit gänzlich aus der Welt zu schaffen oder eine Norm für gesunde Menschen zu formulieren, die dann einzuhalten wäre. Auch Zeiten, in denen es uns körperlich oder psychisch nicht gut geht, gehören zum Menschsein dazu. Worum es uns geht: Wir wollen eine (Arbeits-)Welt, die die Menschen nicht kaputtmacht, sondern sich an ihren Bedürfnissen orientiert. Das Fließband bei VW lief übrigens weiter.

Zum Weiterlesen:

Interview mit Wolfgang Hien über Gesundheit und Kapitalismus: „Gesundheitsschutz kann systemsprengend sein“. 2020
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 23, 1962. S. 278-315. 25 Euro.
Guido Sprügel: Ab in die Reparatur. 2017