Sind wir Merkeljugend? Corona und der Staat

Warum der Staat manchmal Richtiges tut und wir trotzdem keine Fans werden

Ein schöner Frühlingsabend im April 2021, einer der ersten. In Stuttgart würden normalerweise junge Menschen im Park liegen, schlendern, trinken. Jetzt aber: Totenstille. Die Ausgangssperre beginnt um 21 Uhr und auch alle, die sonst in Jugendzentren, AZs, WG-Küchen oder auf Technopartys abhängen, haben sich auf den Heimweg gemacht, um alleine, mit ihrer Zweierbeziehung oder einem anderen „Haushaltsmitglied“ die Zeit bis zum frühmorgendlichen Ende der Ausgangssperre zu verbringen. Was ist da los? Warum ist niemand mehr Punk? Where have all the rebels gone? Es kann doch wohl nicht die Angst vor 500 Euro Bußgeld sein, die sonst ja auch noch niemanden vom Ladendiebstahl, Ohne-Ticket-Fahren oder einer Sitzblockade abgehalten hat. Sind jetzt alle Merkeljugend?

Awareness-Team Deutschland

Corona hat staatskritische Linke auf eine harte Probe gestellt. Denn obwohl sich nicht immer alle an alles gehalten haben – es gab stets die illegalen Partys, das Brechen der Ausgangssperren, ob allein oder kollektiv, und einiges anderes, was gegen die Vorschrift war – erschien doch das, was der Souverän da anordnete, nicht immer nur blöd. Es machte Sinn, dass alle ab irgendwann eine Maske tragen sollten oder sich nicht im Fußballstadion in den Armen liegen durften oder fröhlich durch halb Europa jetteten mit der neuesten Mutante im Gepäck. Und weil nicht alle Leute Einsicht in die solidarische Notwendigkeit hatten, gabs halt wen, der über die Schulter guckte. In etwa so, wie auf linken Solipartys das Awareness-Team oder die bulligen Türsteherinnen auf freundliche Umgangsformen achten. Nur, dass dieses Mal der Türsteher eben D. Schland war und dieser auch Schlagstock, Wasserwerfer und Tränengas parat hatte.

Und eigentlich wissen wir ja, dass Deutschland und alle anderen Staaten sich nicht sonderlich um unser Wohl kümmern. Ihre Aufgabe ist es stattdessen, dafür zu sorgen, dass es dem heimischen Kapital – den Unternehmen und den Unternehmer*innen – gut geht und dass es sich in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt gegen andere Staaten durchsetzen kann. An dieser grundsätzlichen Aufgabe ändert auch so etwas Läppisches wie eine globale Pandemie erstmal wenig, nur musste dann abgewogen werden: Wie viel Lockdown führt zu wie viel Gewinnverlusten? Wenn die Grenzen geschlossen werden, kommt dann ausreichend wenig Virusmutante, aber noch ausreichend viel Warenverkehr durch?

Auf der Strecke bleibt beim Rennen um die Wertschöpfung und Profitmaximierung notwendigerweise so einiges: die Rechte und das Gehalt von Arbeiter*innen und Angestellten (kosten zu viel, woanders lässt sich billiger produzieren), das Lebensglück von denen, die zufällig nicht in genau diesem Staat geboren wurden (gehören nicht hierher, müssen draußen bleiben, auch wenn das das Ertrinken im Mittelmeer heißt), die Umwelt (Ökostandards im eigenen Land kosten, andere halten die auch nicht ein).

Gleichzeitig braucht es so einiges anderes: etwa ein Militär (sonst klappt das mit dem Einhalten der Grenzen nicht) oder eine Polizei (um gegen die vorzugehen, die mit der so eingerichteten Ordnung ein Problem haben). Das sind alles Dinge, die jeder Staat dieser – nun mal leider kapitalistisch eingerichteten – Welt so machen muss, unabhängig davon, ob die Regierung grün, rot, braun oder regenbogenfarben-mit-Glitzer ist. Damit wollen wir nicht sagen, dass es nicht einen großen Unterschied macht, ob man in der Türkei, Iran, USA, Brasilien oder etwa Schland lebt. Es gibt himmelweite Unterschiede, etwa im Hinblick auf die Rechte von Frauen*, LGBTIQs, Gewerkschafter*innen und anderen – und je autoritärer eine Regierung, desto mehr Härte und Brutalität im Alltag. Und natürlich freuen wir uns auch hier über jede Stimme, die die AfD weniger erhält und jede Politikerin, die sich für mehr Transrechte, Mindestlöhne, Kindergeld oder die Freigabe von medizinischen Patenten einsetzt. Aber wie wir auch an der Geschichte von Parteien wie den Grünen sehen, ist der Weg vom Turnschuhrebellen (Joschka Fischer, ehemaliger linksradikaler Aktivist aus der Student*innenbewegung, der schon auch mal auf Cops einprügelte) über den kriegsführenden Außenminister (ebenfalls Joschka Fischer) bis zum rassistischen law-and-order-Bürgermeister (Boris Palmer) keiner, der mit Charakterschwäche zu tun hat, sondern strukturell vorgegeben, wenn man das verwalten will, was der alte Friedrich Engels den „ideellen Gesamtkapitalisten“ genannt hat.

Fuck Authority

Das alles ist Grund genug, eine recht grundsätzliche Skepsis zu hegen, wenn der Staat nun in einer Krise seine Befugnisse ausweitet. Wenn plötzlich Ausgangssperren verhängt werden, das Demonstrationsrecht eingeschränkt wird, Grundlagen der Menschlichkeit wie In-Den-Arm-Nehmen unter Strafe gestellt werden oder irgendwelche neuen Apps verwendet werden sollen, die sich an jeden Kaffee-to-go von uns und unserem Date erinnern, fragten sich viele Linke zu recht, ob hier nicht autoritäre Maßnahmen eingeführt werden, die langfristig bleiben würden: Ist das nicht endlich ein Anlass, umfassendere polizeiliche Maßnahmen akzeptabel zu machen, den Datenschutz zu lockern und alle daran zu gewöhnen, dass es irgendwie ganz normal ist, dass man nach 22 Uhr das Haus nicht mehr zu verlassen hat?

Es ist richtig und wichtig, hier wachsam zu sein. Aber die pauschale Angst, dass alles notwendigerweise auf mehr Autoritarismus zulaufen würde, war überzogen. In Deutschland waren alle eingeführten Maßnahmen ja auch im Parteitheater höchst umstritten – da wollten die Länder was anderes als die Bundesregierung und innerhalb derer war sich auch niemand grün. Es gab hier kein arschklares staatliches Handeln. Und es zeigte sich auch, dass die Regierung natürlich nicht einfach nur fröhlich fürs Kapital rumtröten konnte: Der Einzelhandel war lange geschlossen, was die Händler*innen richtig scheiße fanden und das Bruttoinlandsprodukt auch – und doch gab es hier auch ein Abwägen: Wenn jetzt noch mehr Menschen in überfüllten Krankenhäusern landen, ist das auf Dauer weder freundlich noch irgendwie besser für besagtes BIP. Gleichzeitig war es aber auch kein Zufall, dass bestimmte Positionen – etwa ein solidarischer Lockdown bei vollem Lohnausgleich – jenseits von linken Kampagnen wie „ZeroCovid“ nie wirklich diskutiert wurden.

Harte Tür

Das Blöde ist: Wie so oft kommt man am Staat nicht vorbei und in der globalen Pandemie wohl noch weniger als sonst. Zurzeit gibt es auf der gesamtgesellschaftlichen Corona-Party quasi wenig andere Türsteher*innen als ihn. Klar, in den ersten Wochen der Pandemie gab es tolle Beispiele von Nachbarschaftshilfe und auch ohne die Mahnungen von oben gingen viele Menschen achtsam miteinander um. Aber als es um die Impfstoffproduktion und -lieferung ging, da ging halt nicht so viel DIY. Das einzige Awareness-Team waren die Nationalstaaten – mal besser, oft schlechter. Das andere Blöde: Nicht alles, was der Staat gemacht hat, war falsch. Ein bisschen so, wie wenn wir im Auto bei Rot an der Ampel stehen bleiben – nicht wegen des empfindlichen Bußgeldes, das uns droht, sondern weil wir die Fußgängerin nicht überfahren wollen und auch selber nicht in eine Massenkarambolage kommen wollen. Auch in einer kommunistischen Gesellschaft hätten wir – wenn das Virus denn überhaupt so weit gekommen wäre – für eine Weile Abstand gehalten, Masken getragen, uns getestet, die Partys ausgesetzt. Hätten eine Möglichkeit finden müssen mit denen umzugehen, die weiterhin jede*n einfach umarmen wollten. Und bräuchten eine kollektive Organisierungsform, die so hilfreiche Zahlen wie den R-Wert, Inzidenzwerte etc. errechnet – auch dann, wenn das RKI in Rosa/Karl-Institut umbenannt wurde. Bis dahin waren und sind wir vorsichtig. Nicht, weil der Staat es will, sondern weil es notwendig, vernünftig und solidarisch ist.

Kurzum: Das Auf-der-Hut-Sein in Bezug auf den autoritären Staat ist richtig. Wenn es reflexhaft passiert, dann kann es aber schnell peinlich werden: wenn der Staat plötzlich solidarischer ist als die, die gegen ihn sind und fröhlich feiern, reisen und maskenfrei rumlaufen. Aber wenn dann plötzlich Ausgangssperren in lauen Frühlingsnächten verhängt werden, obwohl alles darauf hinweist, dass die Ansteckungsgefahr draußen gering ist, und gleichzeitig die Großraumbüros und Fleischereibetriebe weiterhin fröhliche Infektionsherde bleiben, weil keine Maßgaben kontrolliert werden – dann zeigt sich auch mal wieder, dass es um Wertschöpfung und nicht um Gesundheit geht. Auf den Staat ist kein Verlass, das Awareness-Team müssen wir weiterhin notgedrungen selber ausbilden.

Zum Weiterlesen:

Johannes Hauer und Marco Hamann: Die Seuche und das Ungeheuer. Thesen zum Staat in der Pandemie. 2021

Gruppen gegen Kapital und Nation: Die Corona-Pandemie und der politisch verhängte Ausnahmezustand. 2020