Schluss mit Doomscrolling, her mit der Utopie
You know the drill: Klimawandel, Pandemie, Kriege, steigende Preise, kaum bezahlbarer Wohnraum, ein kaputtes Gesundheitssystem, Rechtsruck und so weiter. Die Hütte brennt.
Immer wieder auf das Feuer hinzuweisen, hat bisher nicht dazu geführt, diese Brandherde zu löschen. Stattdessen resignieren viele Menschen, ziehen sich in ihre eigenen vier Wände zurück und verdrängen, dass es überhaupt brennt. Die Krisen erscheinen übermächtig, das eigene Schicksal unausweichlich. Die Welt geht den Bach runter – und wir haben uns irgendwie daran gewöhnt.
Das ist alles ziemlich deprimierend. Statt nur daran zu verzweifeln, können wir auch überlegen, was wir anstelle der brennenden Hütte aufbauen wollen. Diese Skizzen von einem neuen Haus sind nichts anderes als Utopien.
Das Bauvolk der kommenden Welt: »Yo, wir schaffen das!«
Es gibt nicht die eine Utopie, sondern viele verschiedene Ansätze und Ideen: Manche Menschen träumen von einer Stadt auf dem Mars, andere von einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und wieder andere von beidem. Gemeinsam haben all diese Vorstellungen, dass sie den Status quo ablehnen und eine Veränderung wollen. Das Utopische daran ist, dass sie sich nicht von heute auf morgen umsetzen lassen und uns deshalb völlig unrealistisch vorkommen können.
In manchen Zusammenhängen bedeutet Utopie an sich schon etwas Unmögliches: etwa Orte, an denen physikalische Gesetze außer Kraft gesetzt sind und wir alle fliegen können. Anders als so etwas oder religiöse Vorstellungen vom Paradies können linke Visionen aber durchaus Realität werden – nur nicht unbedingt jetzt sofort. Der Kapitalismus ist schließlich kein Naturgesetz, wie du in diesem Artikel lesen kannst. Und eine Gesellschaft, in der niemand hungern muss, in der unsere Bewegungsfreiheit nicht mehr durch Pässe und willkürlich gezogene Grenzen eingeschränkt ist, in der alle ohne Angst verschieden sein können und solidarisch zusammenleben, ist durchaus machbar – auch wenn sie erst mal unerreichbar scheinen mag. Das tat der Mond bis zur Landung der ersten Kosmonaut:innen schließlich auch.
Auch die befreite Gesellschaft wird sich um die Erzeugung von Lebensmitteln, die Wartung von Maschinen und die Pflege von Senior:innen kümmern müssen. Wir können dann aber gemeinsam entscheiden, welche Arbeiten nötig sind, und sie möglichst fair aufteilen. Spoiler: Sich Werbetexte für Handyspiele ausdenken oder in gigantischen Burger-Kostümen schwitzen muss dann jedenfalls niemand mehr.
Von Traumschlössern und Gruselkabinetten
Konservativen geht es dagegen gar nicht um eine Umgestaltung der Gesellschaft: Sie wollen die windschiefe Hütte genauso stehen lassen – die stand da ja schließlich schon immer. Dass der Schuppen einsturzgefährdet ist, wird dabei gern ignoriert. Stattdessen geht es dann darum, wer die Hütte eigentlich betreten darf und wer vor der Tür schlafen muss. Konservative haben also gar keine Utopie: Alles soll so bleiben, wie es ist, oder wieder so werden, wie es war. Und wer sich nach etwas Besserem sehnt, wird als Traumtänzerin abgetan oder sollte mit seinen Visionen mal zum Arzt gehen.
Weil die Linke statt dem Bestehenden ein ganz anderes Ganzes möchte, ist sie so etwas wie die Architektin einer anderen Welt, die wir noch bauen müssen. Manchmal wird ihr vorgeworfen, dass sie eine falsche Vorstellung von der Welt habe, dass es Fehler im Bauplan gebe. Und da kann durchaus was dran sein: Denn auch Ideen, die als linke Utopien angefangen haben, können menschenverachtend sein, wie die Massensäuberungen des Stalinismus und Maoismus gezeigt haben. Eine gute Architektin ist also offen für Kritik. Manchmal wird die Linke auch dafür kritisiert, dass sie zu realitätsfern handle. Schließlich lässt sich die Umsetzung von Utopien nicht erzwingen, solange die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. So kann man aktuell zum Beispiel noch keine Menschen zum Mars schicken. Und auch gesellschaftliche Ideen lassen sich erst umsetzen, wenn es dafür genug Rückhalt gibt. Ansonsten hört die Utopie auf, eine Utopie zu sein, und wird stattdessen zur Rechtfertigung von Unterdrückung und Terror.
Es ist allerdings Quatsch, der Architektin vorzuwerfen, dass sie überhaupt einen Bauplan, eine Vorstellung der kommenden Welt hat.
Linke Utopien unterscheiden sich dabei ganz grundlegend von faschistischen Idealbildern: Wo die einen Paläste für alle bauen wollen, setzen die anderen auf Bunker mit riesigen Konservenvorräten und Selbstschussanlagen vor dem Eingang. Linke haben Utopien, Faschisten haben Dystopien.
Rollrasen, Raufasertapeten oder Revolution
Utopien fangen im Kleinen an: als individuelle Vorstellung davon, wie eine andere Welt aussehen könnte. Wenn sie sich ausbreiten und viele andere anstecken, können sie aber zur Triebkraft von großen Bewegungen werden. Utopie ist deshalb nicht nur eine Theorie, sondern auch Begründung und Antrieb der Praxis: Sie motiviert Bewegungen, weiterhin auf die Straße zu gehen, politische Gruppen, über ihre Strategie nachzudenken, und dich, am Frühstückstisch mit Onkel Bernd zu streiten.
Utopie ist deshalb die Bedingung für revolutionäre Bewegungen: Denn deren Ziele müssen schon bestehen, bevor sie überhaupt realisierbar sind. Nur dann kann man darauf hinarbeiten und die Gelegenheit beim Schopf packen, wenn es so weit ist. Die meuternden Matrosen konnten 1918 zum Beispiel nur deshalb bundesweite Aufstände auslösen, weil sozialistische Ideen und Arbeiter:innenorganisationen schon im ganzen Land verbreitet waren – mehr dazu kannst du in diesem Artikel nachlesen.
Es kann zwar frustrierend sein, über so lange Zeiträume zu denken und zu planen. Es nicht zu tun, ist aber keine Alternative: Denn wer nur an Kleinigkeiten im Hier und Jetzt herumdoktert, kann zwar die Dekoration oder die Wandfarbe der Hütte ändern, der Schuppen wird dadurch aber noch lange kein Palast. Wenn zum Beispiel der Mindestlohn um ein paar Cent angehoben wird, ist das besser als nichts und macht einen realen Unterschied im Leben vieler Menschen. Eine befreite Gesellschaft ohne Ausbeutung wird aber weder in einem Gesetzesentwurf der Regierung noch der Opposition stehen. Die Verhältnisse lassen sich eben nur durch Utopien umwerfen.
Eine revolutionäre Bewegung muss den aktuellen Bedingungen also immer einen Schritt voraus sein. Die Linke darf nicht nur bei der Kritik am Bestehenden stehen bleiben: Dass die Hütte brennt, wissen wir. Katzenjammer allein reicht aber nicht aus, um sie zu löschen. Eine starke, mitreißende Utopie hat hingegen die Kraft, eine linke Bewegung gegen die Krisenherde zu mobilisieren und ihnen die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft entgegenzusetzen. Wir haben nichts zu verlieren, aber eine Welt zu gewinnen.
Zum Weiterlesen:
Leszek Kołakowski: Der Sinn des Begriffs Linke. In: Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein. 1974.