No future starts today

Erleben wir das Ende linker Utopien?

Richtig geil ist es gerade ja nicht. Der Klimawandel wird immer katastrophaler, Rechtsruck und nationale Abschottung erfassen die ganze Welt – und viele Menschen haben sich damit arrangiert. Who cares, solange man (noch) nicht selbst ertrinkt? Nebenbei werden soziale Standards gestrichen und geschlechtsneutrale Sprache scheint vielen eine größere Bedrohung zu sein als das Ende der Demokratie. Gleichzeitig ist für viele der Krieg und für einige das terroristische Massaker salonfähig geworden. Autoritäre Abschottung und Gewalt siegen über Vernunft und Solidarität – Trumps Wahlsieg ist dafür ein besonders grelles Symbol. Wir erleben nicht nur einen historischen Umbruch, sondern auch einen gesellschaftlichen und politischen Rückschritt. Und als wäre das nicht schlimm genug, fehlt dabei etwas, das in anderen historischen Umbrüchen sehr präsent war: eine relevante linke Utopie und Bewegung. Die gibt es in Deutschland, in Europa und in der Welt gerade nur in Ausnahmefällen – und kaum stark genug, um Verhältnisse zu verändern. Das Ende der Welt ist näher als das Ende des Kapitalismus.

Das war bis vor Kurzem anders. »Eine andere Welt ist möglich«, hieß es bis in die 2010er Jahre bei weltweiten Protesten gegen die neoliberale Globalisierung. Hier war eine echte linke Utopie auf dem Tisch: Diese Welt könnte gerecht gestaltet werden. Passend dazu gab es in den letzten Jahrzehnten tatsächlich einen gesellschaftlichen und politischen Fortschritt. Es gab Sensibilität für Klimawandel und Gleichberechtigung, es gab Politik gegen Rassismus und für globale Gerechtigkeit. Offensichtlich war das weder umfassend noch ausreichend – aber auch besser als vieles, was das 20. Jahrhundert zu bieten hatte.

Doch heute scheint vor allem eine schlechtere Welt möglich. Selbst Liberale und Konservative, die sich vor wenigen Jahren noch gegen linke und solidarische Krisenlösungen durchgesetzt haben, werden heute von rechts bedroht. No future starts today? Das akzeptieren wir natürlich nicht. Dagegen kämpfen wir. Aber eigentlich wollen wir doch mehr, als eine schlechtere Welt zu verhindern. Wir wollen eine bessere Welt.

Alles könnte gut sein

Sie wäre ja nach wie vor möglich, die bessere Welt! Die Voraussetzungen sind dafür sogar mehr erfüllt als je zuvor. Denn noch nie gab es so viele Errungenschaften und so viele Erfahrungen, aus denen zu lernen war. Die Menschen wissen nicht nur um den Horror des Krieges, um die Auswirkungen des Klimawandels, um die Konsequenzen des Faschismus – sie wissen auch von Diplomatie und Klimaschutz, von Bildung und Solidarität. Die Menschen können den Mars erreichen und Kernfusionen erzeugen. Sie können Krebs heilen, Traumata behandeln und in weltweiten Videokonferenzen mit Hunderten Expert:innen die Umsetzung klimaneutraler Städte planen. Künstliche Intelligenz kann Ernteausfälle verhindern und Sprachbarrieren überwinden. Die Menschheit hat erlebt, dass US-Präsidenten nicht weiß sein müssen und dass Frauen in Führungspositionen auch nicht mehr falsch machen als Männer. Instagram und Netfl ix machen andere Lebensrealitäten auf der ganzen Welt erfahrbar – ob im Regenwald, in Slums, in Megacitys oder in Osnabrück. Ganz zu schweigen davon, dass die Mittel längst da sind, um alle Menschen zu ernähren. Oder um Klimaneutralität zu erreichen. Diese Welt könnte platzen vor Möglichkeiten. Ein gutes Leben für alle wäre möglich.

Leider ist es scheiße

Aber warum tritt sie dann nicht ein, die bessere Welt? Warum erleben wir trotz riesigen Fortschritts diesen wahnsinnigen Rückschritt? Dafür fallen uns mehrere Gründe ein: zum Beispiel die Angst Einzelner, Privilegien zu verlieren. Aber insbesondere glauben wir, dass in diesem Fortschritt selbst ein Keim zum Rückschritt liegt.

Denn der Fortschritt folgt ja meist der Funktionsweise dieser Welt. Und dabei geht es eben nicht um ein gutes Leben für alle. Es geht darum, unter den Bedingungen von Kapitalismus und Nation zu funktionieren. Ein Gesundheitssystem zum Beispiel, das weltweit alle Patient:innen mit den passenden Expert:innen verknüpft und ihnen rasch und kostenlos die bestmögliche Diagnose und Behandlung verschafft – grundsätzlich wäre das ja möglich. Die Mittel sind da. Die Utopie ist greifb ar. Nur: Es würde die Funktionsweise von Pharmaunternehmen und nationalen Gesundheitssystemen völlig auf den Kopf stellen.

Denn selbstverständlich müssen Unternehmen in dieser Welt Profi t machen. Immerhin müssen sie Angestellte bezahlen und Aktienkurse nach oben treiben, um im Wettbewerb gut dazustehen. Staaten interessiert die Gesundheit ihrer Bürger:innen viel mehr als die Gesundheit von Menschen sonst wo auf der Welt. Auch ganz normale Menschen müssten sich auf dem Weg zur Gesundheitsutopie von vielen Gewissheiten und Privilegien verabschieden. Und das wird schwer – immerhin sind sie ja mit der Funktionsweise dieser Welt groß geworden. Schau dir nur die Ablehnung an, die es bereits gegen eine Bürger:innenversicherung in Deutschland oder eine Krankenversicherung in den USA gibt. Und dann sollen noch mehr Mittel mit noch mehr Menschen geteilt werden? Tschau, Gesundheitsutopie.

Dass der Fortschritt nicht in besseren Verhältnissen mündet, das liegt also nicht nur an individueller Bösartigkeit. Es liegt am Denken und Handeln in der Funktionsweise dieser Welt. Und das ist nun einmal die Logik von Verwertungszwang und Konkurrenz, von Privilegien und von Ausgrenzung.

Heimvorteil für Arschlöcher

Was die Sache noch schlimmer macht: Die Rechten müssen einfach nur die Ängste verstärken, die die Menschen in dieser Welt ohnehin schon haben. Zum Beispiel die Angst davor, im Kampf um Vorteile (auch nur scheinbar) etwas abgeben zu müssen. Der rechte Schlachtruf »Wir zuerst« bedient die Funktionsweise dieser Welt also ganz gut – genauso wie das Bedürfnis, vermeintliche und tatsächliche Probleme dieser komplizierten Welt auf Sündenböcke abwälzen zu können. »Die anderen1 sind schuld« ist daher eine weitere Parole der Rechten, die brutal gut funktioniert. Rechte und Fundamentalisten müssen die Logik von Ausgrenzung und Konkurrenz also nur noch zuspitzen. Sie haben in der schlechten Welt Heimvorteil.

Hurra, die Welt geht unter
Geschichte wird gemacht

Also ist jetzt alles egal? Hurra, die Welt geht unter? Überhaupt gar nicht, denn es gibt doch noch eine gute Nachricht: All das, all der Fortschritt, all die uneingelösten Utopien – all das wurde von Menschen gemacht. Also kann es auch von Menschen verändert werden. Denn so schlimm es auch aussehen mag: Weder Naturgesetze noch Götter hindern uns daran, diese Welt zu einer besseren zu machen. Was dem entgegensteht, ist »nur« das Denken und Handeln der Leute in einer Welt voller Grenzen, Profit und Ungleichheit. Wir müssen also um die Köpfe der Menschen kämpfen.

Möglichkeiten gibt es dafür immer wieder. Die eben beschriebene Gesundheitsutopie passt zum Beispiel kaum in diese Welt, aber mit der Coronapandemie waren viele Gewissheiten für Pharmaunternehmen und Staaten auf einmal aufgehoben. Wenn eine globale Linke stärker gewesen wäre, vielleicht wäre die Gesundheitsutopie dann umgesetzt worden? Jedenfalls war die Geschichte plötzlich off en. Und genau das passiert ja ständig, im Großen wie im Kleinen.

Und nein, diese Welt soll nicht brennen und untergehen, damit sie besser werden kann. Untergangswünsche gibt‘s woanders schon genug. Wir sind nicht dystopisch. Wir sind utopisch, und wir sind sehr praktisch: Wir wollen die riesigen Errungenschaften dieser Welt endlich für das Glück aller Menschen nutzen. Und was für Errungenschaften erst möglich wären, wenn der Fortschritt von der traurigen Funktionsweise dieser Welt befreit wäre und sich tatsächlich um das gute Leben für alle drehen würde …

Immer noch eine Welt zu gewinnen

Und noch eine gute Nachricht: Mit linken Utopien haben wir unendlich viel mehr anzubieten als alle rechten Arschlöcher dieser Welt zusammen. Denn die wollen Hass und Ausgrenzung, also eine niemals endende Gewalt. Wir wollen ein gutes Leben für alle. Das Ende der Gewalt.

Und damit haben wir nicht nur die sozialere und nachhaltigere, sondern auch die vielvielviel angenehmere Antwort auf die Probleme dieser Zeit. Dein Nachbar ist unzufrieden mit den Verhältnissen? Dann redet doch mal nicht über seine Angst vor Migranten und Heizungsgesetzen. Sondern darüber, wie sehr diese Welt schon längst ein gutes Leben für alle gewährleisten könnte. Und zwar auch für ihn: für seine Gesundheitsversorgung, für die lebenswerte Zukunft seiner Kinder und für alles, was von seinen verkümmerten Vorstellungen von Nächstenliebe oder Solidarität noch übrig ist. Das ist alles noch nicht verloren.

Nein, wir erleben nicht das Ende linker Utopien. Wir erleben ihre Notwendigkeit. Es ist an uns, den Menschen ihre Machbarkeit zu zeigen. Denn sie haben immer noch eine Welt zu gewinnen.

  1. Wahlweise: Migrant:innen, queere und/oder jüdische Menschen, Linke, progressive Klimapolitiker:innen, Demokrat:innen, … ↩︎