Warum du dir (noch) keine befreite Gesellschaft vorstellen kannst
Alles ist wie immer: arbeiten, mieten, kaufen, besitzen. Wir gehen 40 Stunden die Woche zur Arbeit, wir bezahlen mit unserer Zeit und Energie und bekommen dafür Geld, wir sind gestresst und werden mitunter davon krank. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wirken vorbestimmt und naturgegeben. Wie eine Käseglocke stülpt sich der Kapitalismus über unser Leben, Handeln und Denken. Es entsteht eine Atmosphäre, die sich über Kultur, Arbeit und Bildung legt. Stickige Luft, die über Jahrhunderte als die beste Luft zum Atmen vermarktet wurde. Tatsache, naturgegeben, Luft halt. Der Mief des Kapitalismus wird nicht nur als einzig mögliches System gesehen. Es ist (fast) unmöglich, sich eine Alternative auch nur vorzustellen. Der Sauerstoff des Kapitalismus ist ganz klar das Wachstum und die ewige Ausdehnung des Marktes. Psychische Gesundheit oder Umweltressourcen werden als gegebene, nicht endende Nährstoffe gesehen.
Die kapitalistische Käseglocke stülpt sich über alle gesellschaftlichen Strukturen. Gesundheitsvorsorge und Bildungssysteme werden wie Unternehmen geführt: größer, schneller, günstiger. Aber das System ist auch auf die Mitarbeit der Mehrheit angewiesen. Ganz »natürlich« werden auch persönliche Entscheidungen in der Logik des kapitalistischen Denkens getroffen. So entscheiden wir uns für den nervigeren Job, um mehr Geld zu verdienen, um vielleicht Geld anzusparen, um vielleicht irgendwann eine Eigentumswohnung zu kaufen, die dann vielleicht irgendwann abbezahlt ist. Besitz wird als Sicherheit vermittelt und Sicherheit fühlt sich gut an. Doch nicht nur Besitz wird vom Kapitalismus durchdrungen, sondern auch Bedürfnisse, Gefühle und persönliche Wertigkeit.
Begriffe wie Work-Life-Balance stehen in direkter Verbindung zu Selbstoptimierung: Wenn die Work getan ist, muss das Life effektiv genutzt werden. Sport, gesunde Ernährung, Gartenprojekte und BaristaKurse sollten geplant werden. Und wenn du Schwierigkeiten dabei hast, gibt es Lifecoaches, die du von deinem Work-Geld bezahlen kannst, um dein Life besser zu machen. Top!
»Bad romance«
Auch in der Liebe werden Beziehungen kalkuliert, verglichen und auf ihre Nützlichkeit geprüft. Auf Dating-Apps werden wir aufgefordert, uns selbst zu vermarkten und unsere Vielschichtigkeit in einen Scroll-Moment eines anonymen Publikums zu packen. Und auch wir konsumieren fließbandähnlich Menschen und wägen ab, ob Größe, Kinderwunsch und der süße Hund auf dem dritten Bild zu uns passen. Das Erfolgsrezept für viele Matches ist ein sprachlich origineller Text und ein physisch konventionelles Erscheinungsbild. Die Auswahl ist riesig. Um effizienter zu sein, werden Emojis wie Pfirsiche oder Flammen benutzt und auf ersten Dates werden drehbuchartig die gleichen Fragen abgespult, um vergleichen zu können. Und schließlich die alles entscheidende Frage: Könnte es noch etwas Besseres auf dem Liebesmarkt geben?
Die kapitalistische Käseglocke umschließt sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse: Natürlich kostet die Miete, natürlich geht es um gute Noten, natürlich ist Karriere machen sexy, natürlich ist die Altersvorsorge wichtig, natürlich muss ich im Supermarkt zahlen, natürlich kann ich für Sex bezahlen, natürlich haben manche Menschen mehr Macht als andere, natürlich brauchen Länder Aufrüstung und Menschen Pässe, natürlich gibt es Waldbrände und Überschwemmungen, natürlich gibt es die Polizei, natürlich gibt es in Deutschland Rassismus, Antisemitismus, Ableismus und Sexismus, natürlich ist jede:r sich selbst am nächsten. Natürlich kann es nicht ganz anders sein.
»It´s me, hi, I´m the problem, it´s me«
Auch Linke sind nicht immun gegen diese scheinbare Alternativlosigkeit. Viele haben die Hoffnung verloren und versuchen gar nicht mehr, politisch etwas zu ändern. Oder sie stellen zwar politische Forderungen, zielen aber nur noch auf kleine Veränderungen im großen Ganzen – nicht mehr als Ergänzung, sondern als Ersatz für die Revolution. Quasi Politik unter der Käseglocke: Die Kuppel bleibt, aber vielleicht lässt sich ja der Geruch darunter ein bisschen erträglicher machen. Andere verschreiben sich dem blinden Aktionismus: Im Angesicht der aktuellen Krisen und Katastrophen treten sie wild gegen die Kuppel, in der Hoffnung, dass irgendwas passiert – und brechen sich dabei doch nur den Fuß. Die fehlende Möglichkeit einer ganz anderen Welt wurde auch hier verinnerlicht.
Wir alle sind ein Teil des Kapitalismus, in dem wir leben und der uns von klein auf vorgelebt und beigebracht wurde. Wie wir laufen gelernt haben, haben wir schließlich auch kaufen gelernt. Aber nach dem Motto »Don‘t blame the clown if you are in a circus« lohnt es sich, diese gesellschaftliche Realität zu hinterfragen. Es lohnt sich, einmal Pause zu machen, tief durchzuatmen und sich zu fragen, ob die Luft nicht eigentlich krank macht. Ob das, was für normal erklärt wird, auch naturgegeben ist. Spoiler: Ist es nicht. Was ist also real und was wird uns nur so verkauft?
»Love the way you lie«
Eine moralische Kritik am Kapitalismus, nach der man nur dessen Symptome wie Krieg und Armut bekämpfen müsse, ist zwecklos. Die Kernidee wird so nicht hinterfragt. Ebenso gilt das für die Kritik an Einzelpersonen, die als Gesicht für unpersönliche und abstrakte kapitalistische Prozesse herangezogen werden. Elon Musk oder Jeff Bezos sind zwar schwer zu ertragen, wenn sie jedoch weg wären, wäre das System immer noch da. Wichtig ist stattdessen die Entschleierung des angeblich naturgegebenen Status quo und das Aufzeigen der tatsächlichen Realität. Verhältnisse müssen nicht so sein, wie sie jetzt sind, und Erwartungen an Menschen sind konstruiert.
Real beispielsweise sind Umweltkatastrophen, die Klimakrise und das drohende Ende natürlicher Ressourcen. Die Probleme sind konkret und beängstigend: Waldbrände, Überschwemmungen, Artensterben und immer wachsende Gefahrenzonen. Nur in einer Fantasiewelt können diese behandeln lassen. position? Herausforderungen mit E-Autos, Ökostrom und befestigten Deckeln an Plastikflaschen gemeistert werden. Aber tatsächlich ist es eben so, dass Umweltkatastrophen immer mehr menschengemacht sind, nicht einfach so wieder aufhören und sich auch nicht mit kapitalistischen Spaßpflastern behandeln lassen.
Ebenso real sind alltäglich gewordene psychische Störungen, wie Depressionen und Burn-out. Gerade weil sie alltäglich sind, ist es wichtig, sie zu politisieren und zu beleuchten, wie toll die Lebensqualität im Kapitalismus wirklich ist. Anstatt zu hinterfragen, warum gerade so viele junge Menschen unter Stress, Ängsten Verhandlungs- und Konkurrenzkämpfen leiden, wird das Individuum verantwortlich gemacht. Die Quelle des Glücks liegt in dir selbst! Aber tatsächlich ist es eben anders: Du kannst es nämlich nicht immer schaffen, wenn du es nur wirklich willst. Und diejenigen, die unter körperlichen Krankheiten wie ME/CFS leiden, die die Betroffenen komplett lahmlegen, werden wortwörtlich totgeschwiegen. Wer im kapitalistischen Apparat unbrauchbar wird, der hat Pech gehabt. Aber tatsächlich ist es eben anders: Du bist nicht nur etwas wert, wenn du arbeitest.
»The rest is still unwritten«
Eine ausgefeilte Utopie oder den einen Masterplan werden wir nicht liefern können. Das liegt auch an der Utopie an sich, die laufend weiterentwickelt wird und somit kein fester Plan ist. Es geht eher darum, die Naturalisierung der Umstände zu hinterfragen, um dadurch überhaupt (wieder) an Alternativen denken zu können.
Neben dem Hinterfragen der Verhältnisse hilft jedoch auch, die Möglichkeit der Utopie anzuerkennen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Das, was einmal für unmöglich gehalten wurde, scheint heute machbar oder ist sogar schon Realität geworden. Das Frauenwahlrecht zum Beispiel oder auch Reisen zum Mond. Und auch umgekehrt: Was einmal realistisch wirkte, wird nun als unmöglich gesehen. 1918 schien die befreite Gesellschaft etwa deutlich näher als heute, wie du in diesem Artikel nachlesen kannst.
Letztendlich ist für all diese Ansätze das Wichtigste, Räume für den Austausch miteinander zu schaffen. Dies kann in organisierten Gruppen wie auch in Gesprächen mit Freund:innen passieren. Um kleine Schritte in die richtige Richtung zu gehen, hilft es, groß zu denken, zu sprechen und sich zu erlauben, von etwas Besserem zu träumen. Die kapitalistische Käseglocke könnte Risse bekommen, wenn viele über frische Luft nachdenken.
Zum Weiterlesen:
Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? 2013. 13 €.
Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. 2007. 16 €.