DANKE EBERT!!

Wie vor 100 Jahren die Utopie verhindert wurde

Deine Geschichtslehrerin hat dir nicht die Wahrheit gesagt.

Sicher nicht absichtlich. Aber sie hat dir beigebracht, was sie im Studium gelernt hat. Und an der Uni herrscht bis heute ein einseitiger Blick auf Geschichte. Kein Wunder, in der Vergangenheit durften ja auch nur ausgewählte Menschen ihr Leben der Wissenschaft und Forschung widmen: nämlich reiche und privilegierte Männer. Darum gibt es auch so große Lücken in der Frauengeschichte (logisch – in Mecklenburg durften Frauen zum Beispiel erst ab 1909 studieren) oder im historischen Wissen über arme Menschen am Rand der Gesellschaft. Erst seit ein paar Jahrzehnten interessiert sich die Geschichtswissenschaft für sogenannte Alltagsgeschichte und begibt sich auf die Spuren von Bäuer:innen oder einfachen Handwerker:innen, statt sich nur Königshäusern, Fürsten und Kriegen zu widmen. Da es schon immer viel mehr bürgerliche Akademiker:innen gab als solche aus Arbeiter:innenfamilien, haben sich auch sehr bürgerliche Perspektiven auf unsere Geschichte durchgesetzt. Und genau diese werden uns letztlich in der Schule vermittelt.

Vermutlich hast du schon mal von der »Novemberrevolution 1918/19« gehört? Geschichtslehrer-Voice on: »Denkt noch mal nach, ihr wisst das alle. Erster Weltkrieg, alle waren kriegsmüde, dann haben die Kieler Matrosen gemeutert und es ist kurz Revolution ausgebrochen (logisch, im November), Kaiser Wilhelm musste abdanken und – das ist klausurrelevant – Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann haben am selben Tag in Berlin die Republik ausgerufen. Dann fanden zum ersten Mal im ganzen Reich freie Wahlen statt.« Lehrer-Voice off. Nun ja, Liebknecht wurde dann ermordet, Scheidemann wurde Reichsministerpräsident und regierte zusammen mit seinem Bro Friedrich Ebert die erste deutsche Demokratie: die Weimarer Republik. Und falls du das alles nicht mehr wusstest, vergiss es direkt wieder, denn tatsächlich lief alles ganz gehörig anders ab.

Wie kann man jemand so krass hassen wie ich die scheiß Weimarer Republik

Allein der Begriff »Novemberrevolution« ist eine Frechheit. Der Begriff kam aus reaktionären Kreisen, die die Revolution verhindern und zurückschlagen wollten. Verbreitet wurde er außerdem von der Sozialdemokratie – Ebert, Scheidemann und Co –, um der Bevölkerung zu vermitteln: Die Revolution ist vorbei, ihr habt ja jetzt auch wählen dürfen, Feierabend, ab nach Hause, hier gibt’s nichts mehr zu sehen. In Wahrheit war die Revolution aber nicht im November 1918 vorbei, auch nicht im November 1919 – nein, sie tobte noch bis 1923(!) durch die Republik. Da half es auch nichts, das Ganze als »Novemberrevolution« abzutun. Im Gegenteil: Die revolutionären Bestrebungen waren so stark, dass Ebert und seine Atzen sie nur noch mit krasser Gewalt, Bestechung und Manipulation aufhalten konnten. Zwischen 1918 und 1923 wurden Tausende Menschen in Deutschland brutal ermordet, weil sie für ihre Utopie kämpften und sich nicht mit dem, was sie abfällig »Weimarer Republik1« nannten, zufriedengeben wollten. Der spöttisch abwertende Unterton, der beim Ausdruck »Weimarer Republik« früher mitschwang, ist heute fast vergessen. Auch wissen die wenigsten, dass die »Novemberrevolution« fast fünf Jahre anhielt oder dass in dieser Zeit zum ersten Mal ein Deutscher durch eine Fliegerbombe starb – und zwar durch ein deutsches Geschoss auf Berlin. Im Kampf gegen die Revolution waren alle Mittel recht. Aber halt – bevor wir auf diese Eskalation eingehen, lasst uns kurz durchatmen und zwei Schritte zurückgehen. Was genau ist da ab 1918 passiert? Warum wurden so viele Menschen ermordet, was genau wollten sie und was hat diese ganze Scheiße mit Utopie zu tun?

Scheiß auf Reformismus, gib mir Räterepublik!

Im Geschichtsunterricht wirkt es manchmal so, als würden Revolutionen vom Himmel fallen. Surprise, das tun sie nicht! Auch 1918 wurden die Leute nicht spontan von den revolutionären Gedanken ergriffen, sondern diese waren längst da. Der Matrosenaufstand entfachte Revolten im ganzen Land, und zwar bis in die hinterletzten Käffer. Überall dort, wo ein Betrieb stand, wurde rebelliert. Denn die Menschen waren massenhaft organisiert (in Gewerkschaften, Vereinen und Parteien) und redeten miteinander darüber, wie alles anders sein könnte – in den Hinterhöfen mit der Nachbarschaft, in der Umkleide mit den Kolleg:innen, in der Kneipe mit den Genoss:innen. Sie redeten über das Ende des Krieges und darüber, endlich keinen Hunger mehr haben zu müssen. Sie redeten darüber, den Kapitalisten die Produktionsmittel wegzunehmen und endlich nicht mehr ausgebeutet zu werden. Sie redeten über eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und darüber, endlich über sich selbst entscheiden zu können. Zum Beispiel durch Räte, in die Menschen gewählt werden und so ihr gesellschaftliches Miteinander organisieren. Räte sind für kleine Personengruppen und deren Interessen verantwortlich, zum Beispiel für ein Dorf, einen Betrieb oder Krankenhaus. Sie können jederzeit wieder abgewählt werden, wenn sie nicht im Interesse derer handeln, die sie vertreten. Mit einer Räterepublik sollte eine neue Form der Selbstregierung geschaffen werden, bei der die arbeitende Bevölkerung direkt an politischen Entscheidungen beteiligt ist. Darüber hinaus zielte die Bewegung auf die Überwindung der Klassengesellschaft, die Gleichberechtigung der Geschlechter und den Zugang zu einer säkularen Bildung für alle ab. Unerhört utopische Ideen geisterten also damals durch das Deutsche Kaiserreich.

Kanzler Ebert: Snitch von Kaisers Gnaden

Als nun die Matrosen in Kiel meuterten, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Überall trugen die Menschen ihre Solidarität und ihren Protest gegen das bestehende System samt Kaiser, Krieg und Kapitalismus auf die Straße. Sie wählten Räte und waren bereit für einen großen Umsturz. Der Kaiser wurde auch gestürzt, allerdings suchte sich dieser vorher noch aus, an wen er seine Macht weitergab – und wie du dir denken kannst, war dies keine Wahl im Sinne der Revolution. Nein, des Kaisers wichtigster Mann (so ein Max mit Adelstitel) übergab sein Amt an Friedrich Ebert und der hatte natürlich wenig Bock darauf, seine neu gewonnene Macht schnell wieder abzugeben. Ebert war zu diesem Zeitpunkt SPD-Vorsitzender. Außerdem befürwortete er den Krieg, unterdrückte Gegenpositionen in der Partei mit harter Hand und war gegen die großen Anti-Krieg-Massenstreiks, die während des Ersten Weltkriegs immer wieder organisiert wurden. Deswegen sahen einige seiner früheren Genoss:innen in ihm vor allem eins: einen Arbeiterverräter.

Die SPD hatte sich seit 1891 auf die Fahnen geschrieben, neben bürgerlich-demokratischen Rechten auch den Sozialismus samt der Vergesellschaftung der Produktionsmittel durchzusetzen. Dank Ebert und seinen Jungs wurde das Parteiprogramm nie Wirklichkeit. Im Gegenteil: Sie kämpften mit allen Mitteln gegen die Ziele ihrer eigenen Partei – also auch gegen ihre Wählerschaft und die eigenen Genoss:innen sowie alle anderen, die am Sozialismus festhielten. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind die Promis unter den Opfern dieser Zeit: Liebknecht verkündete am 9. November noch die »Freie Sozialistische (Räte-) Republik«; zwei Monate später war er tot. Er wurde am selben Tag wie Luxemburg ermordet, die auch international als Ideengeberin und Agitatorin für eine befreite Gesellschaft gefeiert wurde. Der Kampf für diese Utopie kostete nicht nur sie das Leben.

Mit Artillerie und Fliegerbomben gegen Zivilist:innen

Kommen wir zum absoluten Desaster und den Gräueltaten: Ebert und seine Atzen brauchten Waffengewalt und skrupellose Kämpfer, um ihre Macht durchzusetzen. Darum arbeiteten sie mit Freikorps zusammen. Das waren Söldner, die nach dem Ersten Weltkrieg nix mehr zu tun hatten (und von denen übrigens viele später zu Hitlers SA gingen). Dazu gehörten nicht nur einfache Soldaten, sondern auch hochrangige Offiziere. Ebendiese waren es auch, die Luxemburg und Liebknecht ermordeten. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs: In den Berliner Märzkämpfen 1919 wurden mindestens 1.200 Menschen in blutigen Straßenkämpfen getötet. Ebert and friends schickten nämlich das Militär mit schweren Geschützen, Artillerie und sogar Fliegerbomben nach Berlin-Lichtenberg und organisierten ein Massaker. Der Grund? Die Menschen hatten einen Generalstreik organisiert, um ihre Forderungen durchzusetzen: Vergesellschaftung der Betriebe und die Demokratisierung des Militärs. Nur passte das nicht in den Kram der Weimarer Regierung und musste darum ausgemerzt werden.

Auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Massenstreiks mit vielen Millionen Menschen, zu Aufständen, Straßenschlachten und Bürgerkriegszuständen. Ohne den Glauben an eine Utopie hätten die Menschen damals nie so lange den Aufstand geprobt – und das, obwohl auf sie geschossen wurde. Die Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaft hielt das revolutionäre Aufbegehren so lange am Leben. Niedergeschlagen wurde es schließlich trotzdem. Und schlimmer noch: Am Ende setzte sich der Faschismus durch.2

Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse

Warum wird das so nicht im Unterricht behandelt? Geschichte wird meist von ihrem Ergebnis ausgehend erzählt. Es kann dazu kommen, dass Ursache und Wirkung vertauscht, historische Ereignisse gar nicht erst überliefert oder als Kette von Fortschritten betrachtet werden – insbesondere dann, wenn eine Perspektive der Siegreichen vorherrscht. Geschichte wird sehr oft ideologisch getränkt, verkürzt und verzerrt, um damit eigene Perspektiven zu stärken. So wurde diese Revolutionsgeschichte in der BRD größtenteils ignoriert oder so zurechtgebogen, dass sie in ihre kapitalistische Demokratieerzählung passte. In der DDR hingegen wurde die Revolutionsgeschichte schon erzählt, allerdings mit einer völlig übertriebenen Rolle der Kommunistischen Partei. Auch hier wurde vieles völlig verzerrt und verzogen vermittelt. Doch nicht nur früher, auch heute dient die Geschichtsschreibung der Stabilisierung unserer Gesellschaftsordnung. Die kapitalistischen Verhältnisse sind keine historische Selbstverständlichkeit. Indem wir uns an die Revolution (richtig) erinnern, können wir dem Eindruck der Alternativlosigkeit unserer bestehenden Ordnung, aber auch der Naivität und Unterlegenheit aller anderen Alternativen etwas entgegensetzen. Es hätte alles anders sein können und es kann noch immer alles anders werden.

Zum Weiterlesen und -hören:
Daniel Kulla: Recherchen und Vorträge zur Revolution 1918-23.
Klaus Gietinger: November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. 2018. 20 €.
Dietmar Lange: Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919. 2012. 20 €.
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. 1940.

  1. Kein Witz, »Weimarer Republik« war ein Ausdruck des Spottes darüber, dass die Nationalversammlung für ihr Vorhaben bis nach Weimar fliehen musste, weil eine ungestörte Tagung im umkämpften Berlin nicht möglich war. Darum versuchten sie es in Jena, aber dort vertrieben Einwohnende die Freikorps, die die Versammlung schützen sollten. Erst in Weimar konnte die Nationalversammlung ungehindert zusammenkommen. ↩︎
  2. Zur ganzen Geschichte gehört übrigens auch, dass Kommunist:innen schwerwiegende Fehler gemacht haben. So wurde die brutale Massenbewegung des Faschismus lange geleugnet: Dahinter stünden doch nur die Kapitalisten und die SPD. Eine katastrophale Fehleinschätzung. Ganz zu schweigen vom autoritären und mörderischen Stalinismus. Der hat unzählige, auch unschuldige Menschenleben gekostet – nicht zuletzt die Leben von sehr vielen Linken, die nicht »auf Linie« waren. ↩︎