Warum Protest notwendig ist
Preise und Mieten steigen, die Durchschnittstemperaturen auch. Wer die Nachrichten verfolgt, hört täglich neue Meldungen über Hunger, Leid, Krisen und Krieg. Allen dämmert inzwischen, dass die Menschheitsgeschichte keine Geschichte des alleinigen Fortschritts ist, bei der automatisch alles immer besser wird, und dass es nicht einfach so weitergehen kann wie bisher. Protest ist daher nicht nur gerechtfertigt, er ist sogar nötig.
Gegenwärtig werden Gesellschaften rund um den Erdball vor allem über Marktwirtschaft und Nationalstaaten organisiert. Das war sicherlich einst eine Verbesserung gegenüber der Leibeigenschaft, Willkür und Kleinstaaterei des Mittelalters und hat großen technischen Fortschritt gebracht.
Längst scheint diese Organisationsweise jedoch hinter den Möglichkeiten der Menschheit zurückzubleiben. Denn Markt und Nationalstaat legen die Spielregeln so fest, dass die Menschen ihr Leben nicht solidarisch bestreiten und zusammenarbeiten, sondern in Konkurrenz zueinander stehen. Und diese Konkurrenz führt keineswegs immer zu besseren Ergebnissen. Im Gegenteil: Sie blockiert an allen Ecken und Enden. Einige Beispiele gefällig?
Die Verteilung von Arbeit
Marktwirtschaft verteilt Arbeit auf eine Art und Weise, die viele Menschen daran hindert, ein besseres Leben zu führen. Arbeit könnte insgesamt viel gleichmäßiger und sinnvoller verteilt werden. Aber stattdessen musst Du im Streit um einen Job Deine Ellenbogen ausfahren. Am Ende arbeitest Du dann überlastet 40 Stunden in der Woche, während eine andere Person arbeitslos ist – oder andersherum.
Mehr Arbeiten als bisher könnten auch von Maschinen übernommen werden. Viele Menschen müssten dann weniger arbeiten und hätten mehr Zeit zum Schlafen, Tanzen oder Lachen. In einer vernünftiger organisierten Gesellschaft, in der wir nicht für eine warme Mahlzeit um Jobs konkurrieren müssen, müsste dabei auch niemand Angst haben, vom Roboter ersetzt zu werden.
Wo jedoch die »unsichtbare Hand« des Marktes die Geschicke lenkt, läuft es eben anders: In der Marktkonkurrenz müssen Unternehmen höhere Profite als ihre Rival:innen erwirtschaften. Und dabei ist menschliche Arbeitskraft für Unternehmen teils günstiger als die Entwicklung, Anschaffung und Wartung teurer Maschinen. Deswegen sollen sich lieber weiter die von den Eigentümer:innen eingesetzten Menschen den Buckel krumm und kaputt schuften.
Auch spielt es auf dem Markt nur bedingt eine Rolle, wie nützlich und sinnvoll bestimmte Arbeiten sind. So werden etwa hohe Summen in die Werbebranche gesteckt, während es für Deine Großeltern zu wenig Pflegepersonal gibt – weil es auf dem Markt schlicht nicht profitabel genug wäre, ausreichend in diesen Bereich zu investieren. Darum: Protest.
Die Verteilung von Reichtum
Als Reichtum gelten in der kapitalistischen Logik nur Waren und Money und nicht etwa frei verfügbare Lebenszeit oder ein guter Freund:innenkreis. Geld und der Zugang zu Produkten sind dabei ebenso ungleich verteilt wie die Menge an Arbeit. Das ergibt sich allein schon aus der gegenwärtigen Eigentumsordnung: Einzelnen Privatpersonen gehört etwa die Fabrik für Tofuburger und den meisten anderen Menschen gleichzeitig wenig oder gar nichts. Um auch selbst etwas auf den Teller zu bekommen, müssen die Meisten daher ihre Arbeitskraft an diejenigen verkaufen, denen die Fabrik gehört. Von dem Profit, den sie dabei mit ihrer Arbeitskraft für ihre Chef:innen erwirtschaften, bekommen sie aber in der Regel selbst nur wenig ab. So ergeben sich systematisch Millionen- und Milliardengewinne für Wenige, indem sie die Löhne Vieler drücken.
Ende 2020 besaß das reichste Prozent der Weltbevölkerung etwa 45 Prozent des gesamten Vermögens, die ärmsten 55 Prozent der Menschheit hingegen kaum mehr als ein Prozent.
Das Ergebnis davon: Im angeblich besten aller Wirtschaftssysteme hungern weltweit 800 Millionen Menschen. Und zwar nicht, weil die Menschheit unfähig wäre, genügend Nahrungsmittel herzustellen. Im Gegenteil: Es wird sogar teilweise mehr produziert als tatsächlich benötigt wird. Der Staat setzt Privateigentum in der Regel so durch, dass Besitzende damit anstellen können, was immer sie wollen – auch dann, wenn andere darunter leiden. So werden etwa unverkaufte Lebensmittel vielfach weggeschmissen oder gleich verbrannt – auch, damit das Überangebot die Verkaufspreise nicht drückt. Denn unter marktwirtschaftlichen Bedingungen wird ein Tofuburger nicht produziert, um ihn zu essen, sondern um ihn zu verkaufen: Hummer, Kaviar und Champagner für Reiche im Überfluss. Und wer sich bereits weggeworfene Lebensmittel aus dem Mülleimer des Supermarkts angelt, wird bestraft.
Teilweise wird dieser Irrsinn sogar noch als nachhaltig gefeiert: Etwa bei einem Bäcker in NRW, der mit unverkauftem Brot seine Öfen heizt, während woanders Menschen der Magen knurrt. Darum: Protest.
Die Welt brennt
Und die Liste geht weiter: Trockenheit und Dürren, schmelzende Pole und steigende Meeresspiegel, you name it. Die Organisationsweise der Gesellschaft führt zu massiven Umwelt- und Klimaschäden.
Das liegt zum einen am Konsum. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede, wer wie viel zum Klimawandel beiträgt: Die Sängerin Taylor Swift produzierte Berichten zufolge innerhalb eines Jahres mit 170 Privatjet-Flügen 8.239 Tonnen CO2. Der weltweite Durchschnitt liegt im Vergleich dazu bei gerade einmal 4,7 Tonnen pro Person jährlich. Der Klimawandel würde aber auch nicht einfach aufgehalten, wenn Taylor Swift ab jetzt nur noch Fahrrad fährt.
Viel maßgeblicher als Konsum ist nämlich die Art und Weise, wie produziert wird. Gerade einmal 100 Unternehmen sind für über 70 Prozent der gesamten weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich – dazu zählt beispielsweise RWE.
Auf regulierende Eingriffe der Nationalstaaten darf man dabei wenig hoffen. Die stehen durch die gegenwärtige Wirtschaftsweise selbst in einer (Standort-) Konkurrenz zueinander. Die ökonomischen Gewinne der einen sind dabei die Verluste der anderen. So müssen sie alle stetig dafür streiten, dass ihr eigener ökonomischer Motor möglichst laut brummt – und sei er auch noch so dreckig: Wirtschaftswachstum first, Klimaschutz second. Dabei sind Nationalstaaten gerne auch mal übergriffig und rassistisch: Etwa wenn Olaf Scholz nach Südamerika fliegt, um abzuchecken, wie die deutsche Autoindustrie möglichst viel vom begehrten Lithium für die Batterien von E-Karren bekommen kann – obwohl die meist indigenen Bevölkerungen vor Ort dagegen protestieren, dass der umweltschädliche Abbauprozess ihre Lebensgrundlagen zerstört.
Vergegenwärtigt man sich die obigen Zahlen, wird schnell klar: So viel Lastenrad fahren und nachhaltig konsumieren kannst Du gar nicht, um auch nur ansatzweise auszugleichen, wie sehr profitorientierte Unternehmen und Reiche die Umwelt verpesten. Darum: Protest.
Kein höheres Wesen – Schicksal wird gemacht
Wir haben gesehen, dass es genügend Gründe gibt zu protestieren. Aber kann man mit Protest etwas verändern? Oder ist es schon längst zu spät?
Viele Menschen glauben auch heute noch, dass der Lauf der Welt und die Ordnung der Dinge durch ein höheres Wesen oder Prinzip gelenkt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Religion: Gott als Hirte, wir als seine Schäfchen. Er führt uns auf unserem Weg – führt dieser uns in Hunger und Elend, sind die Wege des Herrn eben unergründlich. Anderes Beispiel: Du wurdest in Armut geboren? Oder als Kaiser:in? Das wurde lange als Schicksal angesehen. Viele sind auch davon überzeugt, dass die Einrichtung der Gesellschaft einer menschlichen Natur entspricht: Während Wohnungslose kein Dach über dem Kopf haben, weil sie »von Natur aus« faul und dumm sind, fliegt die erfolgreiche Fabrikbesitzerin zum Vergnügen ins Weltall, weil sie fleißig und genial ist.
Seit der Epoche der Aufklärung hat sich aber auch die Erkenntnis durchzusetzen begonnen, dass die Menschen ihre Geschichte selbst gestalten – mit allen historischen Katastrophen, aber auch mit ihren Potentialen. Letztendlich haben wir Menschen die Gestaltung des Zusammenlebens und den Umgang mit der Welt in der eigenen Hand. Das bedeutet: Das Zusammenleben und die Welt sind veränderbar.
Klar, es gibt Spielregeln, auf die der Mensch keinen Einfluss hat: Wir werden alle einmal sterben. Oder: Feuert man über Jahrzehnte tonnenweise CO2 in die Luft, erhöht sich die Durchschnittstemperatur auf der Erde. Manche Spielregeln ließen sich jedoch verändern – das steht aber nicht zur Debatte. Zum Beispiel, ob wir mit der derzeitigen Funktionsweise der Gesellschaft einverstanden sind. In manchen Staaten können zumindest die Menschen, denen ein Wahlrecht zugestanden wird, alle paar Jahre ankreuzen, ob: Friedrich Merz? Christian Lindner?
Oder doch lieber Annalena Baerbock? Das Kreuz mag vielleicht einen Unterschied von ein paar Euro beim Mindestlohn machen, der für viele bedeutend ist. Die geltenden Spielregeln als solche kann man damit aber nicht abwählen und sich stattdessen für mehr Mitspracherecht oder nachhaltigere Wirtschaftsmodelle entscheiden.
Warum wir die Verhältnisse durch Protest verbessern können – und müssen
Die marktwirtschaftliche und nationalstaatliche Organisationsweise der Welt erscheint wie ein Naturgesetz. Bestimmt auch in Deinem Schulunterricht: Dann heißt es immer, dass sich diese Form als die beste aller möglichen Welten herausgestellt hat und somit alternativlos sei. Das Märchen vom Ende der Geschichte lässt grüßen. Aber Vorsicht, Spoiler: Solange es Menschen gibt, solange ist auch die Geschichte der Menschheit noch nicht zu Ende geschrieben. Auch wenn sich viele Menschen heute eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen können: Auch im Mittelalter hatten die meisten Menschen nicht im Sinn, dass es einmal eine Gesellschaft ohne König:innen und Ständeordnung geben würde. Wie die Gesellschaft eingerichtet ist, ist nicht nur das Ergebnis von klugen Einfällen, Erfindungen und Ideen. Sondern auch die Folge von unterschiedlichen Interessen und somit von politischen Auseinandersetzungen. So wie technischer Fortschritt möglich ist, so veränderbar sind auch politische Kräfteverhältnisse – und damit letztlich auch alle Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des Umgangs mit der Welt.
Kleine und punktuelle Verbesserungen sind dabei immer zu begrüßen und Protest muss natürlich nicht immer eine Veränderung der ganzen Gesellschaft zum Ziel haben. Um die vorhandenen Möglichkeiten eines (für fast alle) besseren Lebens zu verwirklichen und die Voraussetzungen für menschliches Bestehen überhaupt zu erhalten, ist aber auch eine Veränderung der Spielregeln nötig. Alleine um den Klimawandel abzubremsen und die Erde auch in den nächsten Jahrzehnten als bewohnbaren Ort zu erhalten, braucht es dringend ein kooperatives Escape Game statt weiterhin Monopoly. Um das zu erreichen, müssen Menschen eine grundlegende Abkehr von der aktuellen Wirtschaftsweise und ihren Logiken durchsetzen – und zwar gegen das Interesse derer, die diese verwalten oder von ihr profitieren (oder beides).
Dafür braucht es politische Kämpfe. Dafür braucht es Protest. Und dafür braucht es Dich.
Zum Weiterlesen:
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Band 1. 1843/44. Dietz Verlag, 25 € oder gratis online.
Sighard Neckel: Zerstörerischer Reichtum. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/23. 2023.