Manege frei für den Staat

Von der Kunst, unseren Protest zu zähmen

Wie wir von wilden Tigern in zahme Schmusekätzchen verwandelt werden

Es ist ja so: Protest, der sich gegen die herrschenden Verhältnisse richtet, hat meist das Ziel, den gesellschaftlichen Ist-Zustand herauszufordern und eine Veränderung herbeizuführen. Der Kapitalismus ist allerdings ein Meister darin, diesen Widerstand einzuhegen und zu zähmen. Hast Du Dich gerade noch wie ein wütender Tiger gefühlt, schon wird aus Dir ein schnurrendes Schmusekätzchen gemacht. Denn der Staat und seine Institutionen werden immer versuchen, Proteste in Formen zu bringen, die für sie handhabbar sind und keine grundsätzliche Veränderung zulassen. Manchmal fühlen wir uns allerdings auch wie eine aggressive Raubkatze, obwohl wir schon von Anfang an als harmloses Kätzchen auf die Bühne des Protests getreten sind.

Klingt verwirrend, oder? Ist aber wirklich so – wir haben für Euch mal aufgedröselt, wie Protest durch den Staat oder durch uns selbst gezähmt wird. Und welche Rolle spielt eigentlich unser kapitalistisches Wirtschaftssystem dabei?

Popcorn statt Protest

Fangen wir mal mit der Wirtschaft an: Denn wenn radikaler Protest erfolgreich scheint, werden ihm in kapitalistischen Gesellschaften schnell die Zähne gezogen und seine Erfolge in ein leicht verdauliches Konsumgut verwandelt. Hokuspokus – schon haben wir vergessen, dass da überhaupt mal Zähne waren.

Ein Beispiel hierfür ist der Christopher Street Day, bei dem mittlerweile zahlreiche Unternehmen ihre Produkte mit Regenbogenflaggen schmücken und so den Eindruck erwecken, sie würden sich für die Rechte von queeren Menschen einsetzen. Auch wenn es natürlich ein Fortschritt ist, dass Regenbogenflaggen mittlerweile gesellschaftlich akzeptierter sind, gerät dabei der Ursprung dieser Parade ganz aus dem Blick: nämlich die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Polizei und homosexuellen sowie trans Menschen bei den Stonewall-Protesten. Stattdessen geht es darum, möglichst viel Gewinn aus dieser Befreiungsgeschichte zu schlagen. Wie scheinheilig diese Konzerne sind, zeigt sich spätestens daran, dass die Regenbogenprodukte natürlich nur in den Ländern vermarktet werden, wo Homosexualität nicht unter Strafe steht, und ansonsten gern lukrative Deals mit Queerfeinden gemacht werden. Und auch in Deutschland geht die Glitzerschlacht im Wettbewerb der Konzerne nicht über die absoluten Basics des bereits Erreichten hinaus. Regenbogenlollis: ja. Queere Themen im Schulunterricht: nein.

Ähnliches lässt sich auch für andere Befreiungskämpfe beobachten, zum Beispiel für die Frauenbewegung: Emmeline Pankhurst und die Suffragetten haben gewaltvoll für ihre Rechte gekämpft und mussten dafür mehrfache Gefängnisstrafen in Kauf nehmen. Heute werden Bilder von ihnen auf T-Shirts gedruckt und ihre Aussagen zum Gegenstand von Hashtags und Memes. Oberteile mit »Feminism«-Aufdruck hängen auf den Kleiderstangen der bekannten Klamottengeschäfte. Und selbst Popmusik verkauft sich unter diesem Label noch besser, wie Beyoncé beweist. Jetzt, wo niemand mehr für Gleichberechtigungsforderungen in den Knast muss, werden diese bis zum letzten Cent ausgepresst. Die Kämpfe dahinter werden in den Schatten gedrängt.

Akrobatik mit Staat, Nation und Kapital

Es ist auch wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, welche Rolle der Staat und seine Institutionen in unserer Gesellschaft spielen – ganz besonders, wenn dagegen protestiert werden soll. Der Staat ist kein neutraler Akteur, der einfach nur zwischen verschiedenen Gruppen moderiert. Er ist in erster Linie dazu da, die herrschenden Verhältnisse abzusichern und damit seine eigenen Grundlagen zu verteidigen. Na klar, wer viel (Macht) hat, will auch viel behalten.

Konkret sorgt der Staat dafür, die kapitalistische Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Insbesondere gewährleistet er, dass an der Idee vom Privateigentum nicht gerüttelt wird. Einer Millionärin oder Großkonzernen bringt das selbstverständlich viel mehr als den allermeisten von uns. Nochmal: Wer viel (Geld) hat, will auch viel behalten. Welchen Spielraum haben nun Parteien in unserer so gestalteten Gesellschaft? Einen recht eingeschränkten: Klar können sie im Bundestag fordern, den Mindestlohn um zwei Euro zu erhöhen oder weniger Geflüchtete abzuschieben. Das sind konkrete Verbesserungen, die für die Betroffenen einen großen Unterschied machen können. Aber die Abschaffung von Lohnarbeit und Grenzen wird sich in keinem Antrag finden. Als konstruktiv und legitim gilt ja gerade nur, was sich im Rahmen der herrschenden Ordnung bewegt. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, wird schnell auf kapitalistische Sachzwänge stoßen und muss sich früher oder später daran anpassen. So kann auch Protest Teil der Verhältnisse werden, die er ursprünglich mal bekämpfen wollte: Die Grünen, die sich 1980 als Protestpartei gründeten, trugen schon zwei Jahrzehnte später Kriegseinsätze und die Einführung von Hartz IV mit und später das Abbaggern von Lützerath – aber im Gegensatz zur CDU immerhin mit dollen Bauchschmerzen.

Damit kein Sand ins Getriebe unserer kapitalistischen Gesellschaft kommt, ist es von zentraler Bedeutung, radikale Arbeitskämpfe in eine systemkonforme, zahme Form zu bringen. Ja, it‘s you we‘re talking about: Gewerkschaften. Vor 100 Jahren waren sie noch eine Brutstätte des radikalen Widerstands gegen Staat und Kapitalismus. Arbeitsplatz und Fabrik waren für viele Menschen Orte, an dem sie sich politisierten. Mit Generalstreiks wurden ganze Regionen wirtschaftlich zum Erliegen gebracht.

Und heute? Generalstreiks sind verboten, Gewerkschaften gibt es noch. Und sie sind auch bedeutsam und machen für die Arbeiter:innen einen Unterschied, schließlich erstreiten sie immer wieder bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Es ist aber fraglich, ob diese Organisationen tatsächlich noch angsteinflößend für die Wirtschaft sind oder nicht viel eher ein einkalkulierter Player im System, der einfach nur dafür sorgt, dass Gehälter ab und an zähneknirschend an die steigenden Preiserhöhungen der Grundkosten angepasst werden – und oft nicht einmal das, schließlich sinken die Reallöhne seit Jahren. Fortschritte werden dabei nicht nur gegen die Interessen der Unternehmen durchgesetzt, sondern auch gegen diejenigen, die die herrschende Ideologie verinnerlicht haben und eine halbstündige Verspätung wegen eines Bahnstreiks nicht mehr vom Weltuntergang unterschieden können. Gewerkschaften sind in dem Sinne wie der nervige Leierkastenmann, der immer das gleiche Lied spielt und dafür ab und zu ein paar Münzen in den Hut geworfen kriegt.

Damit einher geht die Verharmlosung der eigenen Wirkmacht: Statt den Laden dichtzumachen bis ihren Lohnforderungen nachgekommen wird, stehen Arbeiter:innen mit Schildern vor der Tür, während drinnen bei Kaffee und Kuchen verständnisvoll darüber geplaudert wird, warum es die Firma doch auch schwer hat und den Forderungen leider nicht nachkommen kann. Dieses Verständnis wird nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass Klassenwidersprüche durch die Beschwörung der eigenen Nation in den Hintergrund treten: Wenn die Verlagerung von Unternehmen ins Ausland und damit der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes drohen, dann sitzen Arbeiter:innen und Chef:innen scheinbar im selben Boot. Und natürlich spielt es im globalisierten Kapitalismus eine Rolle, ob Staaten sich im internationalen Vergleich gegenüber der Konkurrenz durchsetzen. Im Rennen um immer niedrigere Löhne stehen die Verlierer:innen aber schon im Voraus fest: die Arbeiter:innen, und zwar egal wo.

Letztlich können Organisationen, die sich an den Staat anbiedern, so schnell zu bloßen Helfer:innen des Systems werden und den Kampf für eine radikale Veränderung sogar behindern, indem sie Proteste zu zahnlosen Tigern mit Trillerpfeifen verkommen lassen. Raubkatzen pfeifen aber nicht, sie beißen!

Gib mir Gefahr!

Auch ohne in Strukturen eingebunden zu sein, treten Leute oft mit der Parole »harmlos« in die Arena des Protests. Das kann manchmal sinnvoll sein – wir befürchten allerdings, dass es oft ohne großes Nachdenken passiert. Was meinen wir?

2021 traten junge Klimaaktivist:innen vor dem Bundestag in den Hungerstreik. Ihr Forderung: Ein öffentliches und ehrliches Gespräch mit Spitzenpolitiker:innen. Dahinter steht der Glaube, dass Politiker:innen einfach nicht bewusst wäre, dass die Klimakrise ziemlich beschissen ist, und man ihnen das nur mal kurz erklären müsste. Dass Berufspolitiker:innen seit 30 Jahren keine Zeitung gelesen haben sollen, weil sie sonst ja bestimmt etwas gegen die Krise unternommen hätten, zeugt von einem übermäßigen Vertrauen in den Staat: Es wird gar nicht in Betracht gezogen, dass absichtlich nicht im Sinne des Wohls aller entschieden wird. Abweichungen vom Allgemeinwohl werden dem Unwissen oder der Unfähigkeit Einzelner zugeschrieben, statt sie auf systemische Ursachen zurückzuführen. Denn Unternehmen haben natürlich kein Interesse daran, klimaneutral zu werden, wenn das weniger Gewinne mit sich bringt. Klar sind Deals zwischen Parteien und Konzernen wie RWE zu kritisieren – aber ist das in einem System, das Profit an erste Stelle setzt, wirklich eine Überraschung? Muss es nicht eher darum gehen, die klimazerstörenden Verhältnisse zu überwinden, statt einmal mit dem Bundeskanzler zu schimpfen?

Bei einem buhenden Publikum kann man sich die Ohren zuhalten; erst wenn es die Manege stürmt, müssen die Artist:innen sich bewegen. Wer sich Händchen haltend in eine Lichterkette einreiht, bringt damit nicht nur symbolisch Frieden oder Einigkeit zum Ausdruck, sondern auch: Ich bin harmlos. So harmlos wie läutende Kirchenglocken gegen Rechts. Ein bisschen wie ein Clown: Mag irgendwie unterhaltsam sein, bewirkt aber vor allem ein trügerisches Überlegenheitsgefühl bei der einen oder dem anderen. Ähnlich ist es mit medienwirksamen Bildern, die vor allem auf die Selbstbestätigung der Teilnehmenden und die Zustimmung anderer zielen: Ein Flashmob vor Primark, bei dem sich alle auf den Boden werfen, um auf das Sterben der Menschen in den Fabriken in Bangladesch hinzuweisen, erzeugt vielleicht kurz Aufmerksamkeit bei TikTok – an den Produktionsbedingungen ändert er aber nichts.

Medienwirksame Bilder können – wie bei den »Black Lives Matter«-Demos – durchaus zur Politisierung und Mobilisierung von Protestierenden beitragen und dadurch echte Veränderung bewirken. Und es ist ja auch super, wenn bisher Unbeteiligte wegen eines eindrücklichen Videos beschließen, zu ihrer ersten Demo zu gehen. Aufmerksamkeit allein hat aber meist keinen direkten Einfluss und kann Demonstrationen und andere Protestformen deshalb nicht ersetzen. Denn die tödlichen Produktionsbedingungen in Bangladesch werden leider nicht dadurch geändert, dass Lisa und Lysander nach dem Liken des Flashmob-Videos nur noch Second Hand shoppen.

Zurück zum Vertrauensvorschuss an den Staat und seine Institutionen. Dieser fällt uns nämlich auch an anderer Stelle auf: wenn es um die Polizei geht. Wer sich freiwillig in die Hände der Polizei begibt, vertraut zunächst mal darauf, dass sie nicht gewalttätig wird (auch wenn sie dieses Vertrauen regelmäßig enttäuscht). Das mag manchmal dazu führen, dass Protest von vornherein als weitgehend wirkungslos angelegt ist – wie bei kleinen Sitzblockaden, die einfach weggetragen werden. Es kann aber auch richtig gefährlich werden: zum Beispiel, wenn darauf vertraut wird, dass die Cops eine:n aus einem selbstgebauten Tunnelsystem ziehen statt den Gang einfach zum Einsturz bringen. Oder dass sie den Sekundenkleber sanft entfernen, statt die Hand einfach vom Asphalt zu treten. Gleiches gilt, wenn darauf gesetzt wird, dass die Antifa-Demo von der Polizei gegen die aufmarschierenden Faschos geschützt wird – stattdessen aber zusätzlich noch Schläge von der Polizei kassiert werden.

Vom Jonglieren und Blockieren

Protest muss an der Wurzel angreifen, statt sie nur abzubilden: Eine Schilderaktion gegen Abschiebungen kann unterstützend helfen, aber die Blockade eines Abschiebeflugzeugs wirkt sehr direkt. Das heißt nicht, dass die Kundgebung immer abzulehnen ist, sondern dass sie durch andere Protestformen ergänzt werden muss. Wir wollen damit nicht sagen, dass friedlicher Protest nicht erfolgreich sein kann. Langfristig können damit durchaus Veränderungen erzielt werden, zum Beispiel eine Reform des Asylrechts. Den konkreten Personen im Abschiebeflieger hilft aber wohl nur noch die Verweigerung der Pilotin oder ziviler Ungehorsam.

Ganz grundsätzlich gilt: lieber aufbegehren statt still sein. Um mit Protesten erfolgreich zu sein, ist es aber wichtig, dass das Ziel des Protests und die dafür gewählte Aktionsform irgendwie zusammenhängen. Wenn Aufmerksamkeit das Ziel ist, dann gern grell und bunt und laut. Oftmals liegt die eigentliche Wurzel des Problems jedoch nicht in der mangelnden Aufgeklärtheit, sondern viel tiefer in unserer Gesellschaft vergraben. Packen wir sie an.

Zum Weiterlesen:
Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. 1967. 16,50 €.