Lasst uns über Gewalt in Protesten sprechen – und über Gewalt in der Gesellschaft
»Wer meint, dass Gewalt und Sachbeschädigung das Gleiche sind, sollte mal versuchen, eine Tür zu foltern.«
Das Zitat von Thomas Ebermann klingt plump? Oder logisch? Oder beides? Die Diskussion dahinter ist es jedenfalls nicht. Denn eigentlich immer, wenn linker Protest die Grenzen des Erlaubten – oder auch nur die Grenzen des Gebilligten – verlässt, dann ist die Empörung groß: »Randalierer!«, »Chaoten!«, »Terroristen!«, »Sinnlos!«.
Auf diese Weise werden selbst junge Menschen, die sich auf die Straße kleben, um für klimafreundlichere Politik und bessere Lebensbedingungen zu protestieren, als böswillige Gewaltverbrecher:innen abgetan. Die Gewalt derjenigen, die mit ihren Autos über die Hände der Demonstrierenden fahren, sie an den Haaren über die Straße schleifen oder ihnen gleich stumpf ins Gesicht schlagen, wird dabei aber kaum als solche wahrgenommen.
Genauso unhinterfragt bleibt oft die Gewalt von prügelnden Bullen oder die Gewalt, mit der täglich Migrant:innen an den EU-Außengrenzen in den Tod getrieben werden. Die Empörung über unfriedlichen linken Protest erweckt den Eindruck, dass es mal eine friedliche Protestkultur gab, durch die Probleme einvernehmlich gelöst werden konnten. Und dass wir in einem eigentlich friedlichen System leben würden. Gewalttätig sind demnach immer »die anderen«. All das ist Quatsch und Heuchelei.
»We didn‘t start the fire«
In unserer Gesellschaft ist gar nichts friedlich, im Gegenteil: Wir leben in einem strukturell gewaltvollen System, auch wenn das noch so sehr ignoriert wird. Wer hier »keine Leistung bringt«, gilt als Problem. Die Konkurrenz aller gegen alle scheint völlig normal. Von Menschen, die keinen deutschen Pass haben, wird derweil nicht nur Leistung verlangt, sondern permanente Spitzenleistung plus Unterwerfung. Ohne EU-Pass und Geld dürfen Menschen ja eigentlich eh nicht hier sein – unsere Gesellschaft überlässt sie lieber den Folterknästen Libyens, dem türkischen Militär oder den Fluten des Mittelmeeres. Durch den Klimawandel werden indes ganze Regionen von Wasser oder Wüste verschluckt und Millionen Menschen vertrieben, während hier die Kohlekraftwerke munter weiterlaufen. Täglich werden neue Fälle von Gewalt und Rassismus durch die Polizei bekannt. Friede, Freude, Eierkuchen.
Gewalt fällt also nicht einfach vom Himmel, wenn Protest irgendwelche Grenzen verlässt.
Gewalt kommt im Gratis-Abo von Nation und Kapitalismus. Und dann fordern deutsche Innenminister:innen einen »gewaltfreien Protest« gegen die Ungerechtigkeiten der Welt? Das ist nicht friedliebend. Das ist unverschämt.
Ist das schon Militanz?
Fast jeder Protest, der positive Veränderungen von etablierten Strukturen erreicht hat, musste dafür über die Grenzen von Gesetzen und friedlicher Diskussion gehen. Dafür können wir bis zu den Barrikaden der französischen Revolution und noch weiter zurückblicken, aber auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich zahlreiche Beispiele: Als die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks sich 1955 weigerte, das Sitzplatzverbot für Schwarze Menschen in Bussen zu akzeptieren, war das ein Gesetzesbruch und Skandal – und der Anfang vom Ende vieler rassistischer Gesetze. The first pride was a riot, und zwar 1969, als sich queere Menschen im US-amerikanischen Stonewall zusammenschlossen und gegen diskriminierende Polizeigewalt zur Wehr setzten. Und auch Europas größter Naziaufmarsch, der bis 2013 jahrelang in Dresden stattfand, wurde nicht durch freundliches Zureden gestoppt. Stattdessen war es das Nebeneinander von bunten Kundgebungen, kreativen Aktionen von Schüler:innen und brennenden Mülltonnen, das die Demonstration von tausenden Nazis unmöglich gemacht hat. Aber was ist jetzt eigentlich militant?
Militanz bedeutet eigentlich nur entschlossenes Vorgehen und zivilen Ungehorsam, je nach Sprachgebrauch mit oder ohne physische Gewalt. Auch das Fälschen von Pässen wird von manchen als militant beschrieben. Sicher ist: Im Unterschied zu Hooliganismus wird Militanz aufgrund politischer Ziele betrieben, nicht aus Freude an Gewalt.
Who are you to judge?!
»Ab auf die Straße, Du hast nichts zu verlieren!« Das gilt nicht für alle. Wer wie wo wofür und gegen wen protestiert, ist ein riesiger Unterschied. Ob als alleinerziehende Mutter, Call-Center-Mitarbeiter:in, Spargelstecher:in oder im Abschiebeknast – die Möglichkeiten für wirksamen Protest sind verschieden.
Menschen sind eben nicht gleichmäßig von struktureller Gewalt betroffen und haben auch nicht die gleichen Chancen, sich dagegen zu wehren. Gerade diejenigen, die am meisten unter prekären Lebensbedingungen leiden, können oft am wenigsten dagegen protestieren und noch weniger über die geeignetste Protestform entscheiden. Manche können sich weder ein Dach über dem Kopf noch Lebensmittel leisten, wenn sie morgen nicht zur Arbeit gehen. Da bringt auch der Streikaufruf wenig.
»Gewalt ist keine Lösung und das soll sie auch nicht sein«
Als Antwort auf all das entscheiden sich manche Aktivist:innen zu militanten Aktionen, beispielsweise zum Besprayen einer Nazikneipe oder dem Anzünden von Mülltonnen auf der Route einer faschistischen Demo. Davon versprechen sie sich ganz zweckmäßig, dass ohne Nazitreffpunkt und ohne Nazimarsch die Sicherheit für die Menschen in der Umgebung steigt. Manchmal soll durch Militanz auch ein symbolisches Zeichen gesetzt werden – zum Beispiel, indem Farbe auf den Fassaden von Arbeitsämtern verteilt, ein Braunkohlebagger besetzt oder die »rote Zone« eines G20-Gipfels blockiert wird. So unterschiedlich diese Beispiele auch sind: All das sind Grenzüberschreitungen, all das ist illegal – all das ist Militanz.
Zweckmäßige Militanz wird meist durch ihren direkten Effekt gerechtfertigt: mehr Sicherheit durch weniger Nazistrukturen. Symbolische Militanz wird hingegen oft damit begründet, dass die Verhältnisse so gefestigt und die strukturelle Gewalt so erdrückend seien, dass der Protest dagegen »außerhalb« des bestehenden Wertesystems stattfinden müsse. Dieses System verdiene keine konstruktive Kritik, sondern eine destruktive Ablehnung. Ein paar Rapper aus Berlin haben das mal so beschrieben: »Gewalt ist keine Lösung und das soll sie auch nicht sein«.
Um all das gibt es natürlich viele Diskussionen. Doch bei einer Sache sind sich die allermeisten Linken einig: Grundsätzlich ist unser Ziel nicht die Gewalt, sondern ihre Abschaffung – aber dafür braucht es eben eine andere Gesellschaft. In diesem Sinne lautete der Aufruf autonomer Gruppen zu einer militanten Demonstration zum 1. Mai: »Für ein Ende der Gewalt«.
Macker lol
Diese Aktionsformen und Debatten führen aber auch zu einer Ritualisierung und Ästhetisierung von Militanz. Dabei geht es auch um die eigene Selbstinszenierung und das Ausleben von Gewaltfantasien: Dann wird Pyrotechnik nur für den Style oder den eigenen Statusgewinn gezündet, auch wenn die anderen Leute im Demoblock so durch Kollektivstrafen oder eskalierende Polizeigewalt in Gefahr gebracht werden. In dieselbe Kerbe schlagen Klamotten mit Aufdrucken wie »Nazi Hunter«, bei denen es nur noch um »dicke Eier« geht. Das macht nichts besser, das macht noch nicht mal Nazis Angst – das ist vor allem nerviges Rumgemackere.
Gewalt, Skandal, Protest
Wie Du protestierst, bleibt ohnehin Dir überlassen. Du solltest aber darauf achten, Dich nicht zu Aktionen drängen zu lassen, die für Dich zu viel sind oder nicht zu Deinen Zielen passen. Gleichzeitig lohnt es sich, Verständnis für die Wut oder aussichtslose Situation anderer zu haben: denn nicht alle Menschen können sich aussuchen, was die beste Protestform für ihr Belangen ist – und daraus kann friedlicher oder unfriedlicher Protest in unterschiedlichsten Formen entstehen. Aber vor allem: Gewalt beginnt nicht dann, wenn Pyros brennen oder Pflastersteine fliegen. Und schon gar nicht dann, wenn Straßen blockiert werden. Gewalt beginnt dann, wenn Profit wichtiger ist als Menschen und Leute vor vollen Schaufenstern hungern. Wenn es ganz selbstverständlich nicht um Solidarität, sondern um Konkurrenz geht. Wenn Menschen an den EU-Außengrenzen und in der Klimakatastrophe ihrem Schicksal überlassen werden, damit wir ungestört weiter Diesel fahren können. Wenn Faschisten in den Parlamenten an Macht gewinnen und all diese Gewalttätigkeiten noch viel weiter treiben.
Diese Gewalt der Normalität ist der eigentliche Skandal. Und dagegen braucht es vielfältigen Protest. Anregungen gibt es überall. Just do it.
Zum Weiterlesen:
Straßen aus Zucker #13: HamburgHamburgYeah, Krawall & Remmidemmi. Argumentationshilfen zu ein paar gewaltigen Protesten. 2018.
Ein Gruß aus der Zukunft. Mitteilung des …ums Ganze!-Bündnis zum Verlauf der G20-Proteste in Hamburg.