Alles kann, irgendwas muss

Protest hat viele Gesichter

Was ist Protest? Der Duden sagt: »Bekundung des Missfallens, der Ablehnung«, und das sagt alles – und nichts. Denn es kommt ja darauf an, ob für eine bessere Welt ohne Klimakatastrophe und Ungerechtigkeit protestiert wird oder für Dieselmotoren und für ein Gesellschaftsbild von 1933. In jedem Fall kann Protest unendlich viele Formen annehmen. Hier haben wir ein paar Varianten aufgezählt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sondern als motivierender Rundgang durch den Jahrmarkt der Möglichkeiten. Wo erkennst Du Dich wieder?

Protest kann friedlich sein. Oder unfriedlich

Als Fridays for Future riesige Demos auf die Beine stellte, war das friedlich, und die ganze Welt sprach darüber. Als sich die Schwarze 15-jährige Claudette Colvin in den USA der 1950er Jahre weigerte, einen für Weiße reservierten Bussitzplatz zu verlassen, da war dieser zivile Ungehorsam ein Riesenskandal – und läutete das Ende der Rassentrennung in den USA ein. Als in Dresden 2011 Autonome, Gewerkschaften und Schüler:innen gegen Nazis auf der Straße waren, da ergab das sowohl brennende Mülltonnen als auch friedliche Blockaden mit Tee und Musik – und gemeinsam verhinderten diese Aktionsformen Europas größten Naziaufmarsch. Als sich Protestierende im Iran mit Molotovcocktails gegen die tyrannischen »Revolutionsgarden« zur Wehr setzen, war das militant – und entflammte die Proteste im ganzen Land weiter. Das Fälschen von Pässen für Menschen ohne Papiere gilt als ziviler Ungehorsam – und kann den Unterschied zwischen Bleiben und Abschiebung bedeuten.

Wir finden: Das alles kann politisch relevant sein und Vieles kann emanzipatorische Veränderungen hervorbringen. Offensichtlich ist Manches illegal. Mindestens genauso wichtig wie das, was passiert, ist aber das, was später dazu gesagt wird. Denn die Wirkung von Protest entfaltet sich auch dann, wenn die Aktion vorbei ist. Unabhängig davon, ob der Protest friedlich oder ungehorsam ist. Einen eigenen Text dazu findest Du hier.

Protest kann spontan sein. Oder organisiert

Wenn die Polizei mal wieder jemanden in den Pariser Banlieues erschießt oder wenn öffentlich wird, dass ein Immobilienkonzern haufenweise Leute aus ihren Wohnungen werfen will, dann ist spontaner Protest nicht weit. Menschen, die sich unmittelbar betroffen und oft auch ohnmächtig fühlen, tragen ihre Wut auf die Straße und verbinden sich mit Gleichgesinnten gegen das Gefühl, allein zu sein. Solche spontanen Proteste sind oft sehr emotional, sehr persönlich und sehr heftig.

Protest kann aber auch organisiert sein: Wöchentlich verteilte Flugblätter gegen den Naziladen im Viertel, eine große Demo, zu der tausende Leute mobilisiert werden, oder eine feste Struktur, die stets neue Aktionen hervorbringt. Diese Organisierung bietet andere Möglichkeiten als spontaner Protest. Bei Schwierigkeiten lässt sich solidarische Hilfe organisieren, mit stetiger Pressearbeit lässt sich fairere Berichterstattung erreichen. Und mit einer eigenen Strategie lassen sich überhaupt erst politische Ziele setzen und Mittel finden, um sie zu erreichen.

Wir finden es gut, dass es spontane und organisierte Proteste gibt. Dass es dabei unendlich viele Vor- und Nachteile gibt: geschenkt. Mehr dazu findest Du hier.

Protest kann digital sein

Protest findet nicht nur auf der Straße statt, sondern auch auf Instagram, in Chatgruppen und durch Programmiersprache. Dass die Bilder von Black Lives Matter oder Fridays for Future über Social Media verbreitet wurden, hat nicht nur immer mehr Leute dahin mobilisiert, sondern war oft auch eine Demonstration für sich: Ich stehe für das, was ich hier poste.

Dass die Aktivist:innen im Iran sich über sichere Messengerdienste vernetzen konnten, war für den Protest dort überlebenswichtig. Wenn eine Nazi-Website von Antifa-Hacker:innen gestoppt wird und nur noch Sonnenblumen zeigt oder wenn Donald Trump vor einem leeren Stadion sprechen muss, weil tausende Teenager wegen eines TikTok-Aufrufs online Plätze reserviert haben, dann ist klar: Digitaler Protest kann sehr wirksam sein.

Klar ist aber auch: Das bloße Teilen von Beiträgen ist kein Ersatz, sondern eine Erweiterung zum Real-Life-Protest. Denn so schnell wie Dein Anti-CDU-Meme Herzen sammelt, so schnell ist es auch schon wieder weggescrollt und unter tausend anderen Inhalten im Netz vergraben und vergessen.

Sprache kann Protest sein

Parolen können Kraft haben. Im Kleinen, wenn das »die scheiß Mieten sind zu hoch«-Graffiti am luxussanierten Wohnhaus dessen Unverschämtheiten auf den Punkt bringt, oder im Großen, wenn das »I can‘t breathe«-Zitat des von der US-amerikanischen Polizei ermordeten George Floyd zum Slogan einer weltweiten Bewegung gegen Rassismus wird. Und wenn Regime in China oder in der Türkei gegen die uigurische oder kurdische Sprache vorgehen – dann wird bloßes Sprechen zum Widerstand. Sprache kann Protest sein. Und Protest ist fast immer auch Sprache.

Auf der anderen Seite kann Sprache aber auch ein Ausdruck herrschender Verhältnisse sein. Wenn zum Beispiel Konservative oder Faschisten auf der ganzen Welt geschlechtsneutrale Sprache verbieten wollen, wird klar: Die Verhältnisse, in denen Frauen oder LGBTIQ-Personen keine aktive Rolle spielen – diese Verhältnisse sollen durch Sprache geschützt werden. Sprache ist eine Form von Protest und gleichzeitig ein Teil der Welt, die wir besser machen wollen. Lies dazu hier mehr.

Party kann Protest sein

Wenn an Karfreitag das christliche Tanzverbot ignoriert wird oder Drei-Tage-Wach im Club der Deadline im Job vorgezogen wird, wenn ein Rave als Gegenveranstaltung auf der Straße vor einem AfD-Parteitag stattfindet – was ist das, wenn nicht Protest? Sogar einer, der Spaß macht und auch ohne stundenlange Redebeiträge zeigen kann: Es gibt etwas so viel Besseres als Kirche, Arbeitszwang oder Rassismus. Party kann eine lustvolle Verweigerung gegen das Schlechte sein – ein Streik mit Diskokugel.

Die Wirksamkeit des Party-Protests hält sich aber meist in Grenzen. Wenn Du morgens aus dem Club stolperst, dann hast Du Deine eigene Welt während der letzten Drinks vermutlich deutlich mehr verbessert als die Welt da draußen. Drei Tage wach sind eben nicht drei Jahre Revolution, auch wenn es sich so anfühlt. Und die Party-Wägen irgendwelcher Konzerne auf dem Christopher Street Day in Berlin haben nicht mehr viel mit dessen ursprünglichem Aufstand zu tun – in Budapest, Warschau oder ostdeutschen Kleinstädten aber vielleicht schon. Party ist immer so viel Protest wie ihr Widerspruch zur Umgebung, in der sie gemacht wird.

We say: »Please don‘t stop the music!« Manchmal kann ein Rave die Welt besser machen, manchmal auch nicht. Fair enough. Hauptsache es knallt.

Kunst kann Protest sein

Kinofilme wie »Triangle of Sadness« verspotten die Absurdität des privaten Reichtums. Graffiti-Crews wie 1UP bemalen illegal Hauswände und sorgen damit für Irritation im Alltag. Hiphop begreift sich ursprünglich als Musik gegen eine Gesellschaft, in der Schwarze Menschen diskriminiert werden. Die amerikanische Aktionskünstlerin Jenny Holzer präsentiert gesellschaftskritische Themen auf überdimensionalen LED-Screens. Und 1932 hat der Künstler Max Gebhard das Antifa-Logo entworfen. Heute, knapp hundert Jahre später, ist es auf Stickern eine Zierde für Straßenlaternen auf der ganzen Welt. All das ist Kunst und Protest.

Wir finden das alles nicht unbedingt revolutionär. Im Gegenteil – je erfolgreicher Kunst ist, desto mehr wird sie Teil der allgemeinen Verhältnisse und ihrer Zumutungen. Aber Protest in Kunstform ist etwas Besonderes, denn er kann Leute sehr direkt erreichen und vielleicht auch berühren. Jede:r kann einen ganz persönlichen Zugang zu dem finden, was das Kunstwerk für sie:ihn bedeutet. Und sehr viele Leute werden dabei erfahren, dass es etwas gibt, das über die schnöde Normalität hinausweist. Das ist mehr, als manche linke Demonstrationen schaffen – oder viel zu viele viel zu lange Texte! Darüber sprechen wir auch in unserem Interview mit Pöbel MC hier.

Ein Brief an die Bundesregierung kann Protest sein

Anfang 2023 haben Klimaaktivist:innen einen offenen Brief an die Bundesregierung verfasst. Hier fordern sie Maßnahmen zum Klimaschutz und betonen zugleich ihren Respekt vor den Arbeitsbedingungen der Regierung. In diesem Sinne adressieren sie »in aller Hochachtung« den Herrn Bundeskanzler. Auch das ist Protest. Die Unterzeichner:innen wollen eine bessere Umweltpolitik, sie sind mit der bestehenden nicht zufrieden, und sie wenden sich an diejenigen, die Entscheidungsmacht haben. So weit, so salonfähig.

Aber ganz ehrlich: Glauben die Briefschreiber:innen wirklich, dem Bundeskanzleramt oder Ministerien würde lediglich das Wissen darüber fehlen, dass ihre Umweltpolitik die Umwelt kaputt macht? Glauben sie wirklich, den Kanzler erfolgreich darum bitten zu können, einfach und endlich Vernunft statt Herrschafts- und Marktlogik anzuwenden? Dass tausend höfliche Briefe an tausend Verantwortungsträger:innen soziale Gerechtigkeit erwirken oder die globale Klimakatastrophe abwenden können? Wir glauben das nicht.

Natürlich ist ein offener Brief nicht nur an seine Adressat:innen, sondern auch an die mitlesende Öffentlichkeit gerichtet. Und natürlich kann man Regierungsverteter:innen adressieren – immerhin machen sie Gesetze, an die sich Menschen und Unternehmen sehr oft halten.

Unsere Meinung: Es wäre schon reichlich naiv, umwälzende Veränderungen von den Machtzentren eben der Realität zu erwarten, die verändert werden muss. Der Druck für eine bessere Klimapolitik entsteht auf der Straße und in wissenschaftlichen Studien, am Kohlebagger und in persönlichen Gesprächen. Wenn Du die Arbeitsbedingungen des Kanzlers zum Ausgangspunkt Deines Protests machst, dann kannst Du auch gleich in seinem Vorzimmer arbeiten. Mehr dazu steht im Artikel hier.

Der eigene Körper kann Protest sein

Persönlicher geht es kaum: Auch der eigene Körper kann Protest sein oder als Mittel zum Protest genutzt werden. Zum Beispiel, wenn Frauen im Iran ihre langen Haare abschneiden und damit gegen die fundamentalistischen Mullahs protestieren. Wenn Menschen mit Sitzblockaden eine Straße blockieren, um einen Naziaufmarsch zu verhindern. Oder ganz einfach dann, wenn Menschen über ihren Körper selbst bestimmen – und entgegen der allgemeinen Erwartung kurze Röcke tragen oder ihre Beine nicht rasieren. Oder wenn eine 15-Jährige in der Provinz zum Punk wird und damit den Ärger von Dorfältesten und Nazis auf sich zieht. Und wenn der eigene Körper das letzte Mittel ist, das noch zur Verfügung steht, können besonders krasse Protestformen entstehen – etwa dann, wenn sich Häftlinge mit einem Hungerstreik gegen ihre Situation wehren.

Wir finden diese Protestformen besonders, weil sie so direkt sind. Die Botschaften werden mit dem eigenen Körper transportiert. Das mag manchmal peinlich und manchmal kitschig sein, aber es kommt meistens an. Und es erfordert oft viel Mut. Vielleicht nicht mit dem Antifa-Button auf dem Punk-Konzert in Berlin-Kreuzberg. Aber ganz sicher als Frau, die sich in der bayerischen Provinz dagegen wehrt, den herrschenden Schönheitsidealen zu entsprechen. Und dann auch noch einen Antifa-Button trägt.

Protest kann rechts sein

Rechter Protest ist nichts Neues. Doch seit Mitte der 2010er Jahre wird er mehr und gefährlicher – so gut wie überall. Dabei gibt es ein großes Ziel: die Verteidigung von Privilegien. Und zwar der Privilegien der weißen Mutter-Vater-Kind-Familie. Denn hier war man sich lange Zeit recht sicher, dass sich gesellschaftliche Veränderungen schlimmstenfalls im Musikgeschmack der Teenager äußern und dass die Krisen und Katastrophen dieser Welt allenfalls in der Tagesschau zu bemitleiden sind. Doch mittlerweile merken die Menschen, dass man noch nicht einmal in Hannover oder in der sächsischen Schweiz ungestört hinterm Mond leben kann.

Für die Rechten ist genau das ein großes Problem – und zugleich eine gute Gelegenheit. Panisch, aggressiv und teilweise mörderisch brutal versuchen sie, Veränderungen von sich zu weisen: gegen das Geflüchtetenheim, gegen den »Maskenzwang«, gegen Windräder, gegen Schwarze Menschen, die im Tatort plötzlich andere Rollen einnehmen als die von Drogendealern und Putzkräften. All das ist nicht nur eine »Diskursverschiebung«, sondern mündet in einer ganz realen Politik, die Klimaschutz zurückfährt und an den EU-Außengrenzen Migrant:innen in den Tod treibt.

Dass der weißen Mutter-Vater-Kind Familie gar nichts weggenommen wird, dass ohne klimaschonende Maßnahmen auch ihre eigene Welt untergehen wird, dass das Programm der AfD die meisten ihrer Wähler:innen in noch größere soziale Schwierigkeiten bringen würde, dass viele rechte Argumente auf Lügen beruhen – all das ist rechtem Protest egal. Da eigene Privilegien in Frage gestellt werden, fühlt man sich zu Unrecht benachteiligt und wähnt sich im heroischen Kampf für eine alte Welt, die man allen Ernstes als »Freiheit« verklärt. Das ist fast so dumm wie es gefährlich ist.

Wir sagen: Antifa ist Handarbeit. Es ist eine Zumutung, aber diese völkischen Freaks müssen gestoppt werden. Das ist längst nicht mehr nur eine Aufgabe für die Straße, sondern eine Notwendigkeit bei jedem rechten Kommentar: wehret den Anfängen.

Straßen aus Zucker ist Protest

Und was ist eigentlich mit dieser Zeitung hier? Sie ist gefüllt mit Sprache, Kunst, Unterhaltung, Theorie und Austausch. All das zu entwerfen, zu diskutieren, zu schreiben – und all das hoffentlich nicht zu kompliziert werden zu lassen –, das ist unser Beitrag zum Protest. Dass Du sie in den Händen hältst, das hat auch schon etwas von Protest. Was Du damit anfängst, liegt ganz bei Dir.

Zum Weiterlesen:
Straßen aus Zucker #14: Randale! Bambule! …Frankfurter Schule? Zum Verhältnis von Lesezirkel und Straßenkampf. 2018.