All together now – aber wie?

Zum Verhältnis von spontanem und organisiertem Protest

Protest kann auf unterschiedliche Art und Weise entstehen. Der Weg dorthin ist mal leicht und mal steinig – und es gibt Abkürzungen und Umwege. Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen spontanem und organisiertem Protest. Beide Formen können ineinander übergehen und lassen sich selten eindeutig voneinander abgrenzen. Dennoch ist es schon ein kleiner Unterschied, ob sich in Frankreich Gewerkschaften zusammenschließen, um zu einer organisierten Streikbewegung gegen die Rentenreform aufzurufen, oder ob in Bordeaux durch Protestierende spontan das Rathaus angezündet wird.

Auch innerhalb der Linken gibt es immer wieder Debatten darüber, wie spontan oder organisiert Protest sein sollte. Das Maß an Organisierung hat sich dabei über die Jahrzehnte immer wieder verändert. Hierfür gibt es verschiedene, auch historische Gründe. Und sowohl organisierter als auch spontaner Protest haben Vor- und Nachteile.

»A riot is the language of the unheard«

Spontaner Protest: Es gibt ihn oder es gibt ihn nicht. Und er kann ganz unterschiedlich aussehen – man erkennt ihn also nicht notwendigerweise an der brennenden Mülltonne an der Straßenecke. Er zeigt sich auch im stillen Protest der schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks, die sich 1955 auf dem Heimweg weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für eine weiße Person freizugeben. Sie löste hierdurch den Montgomery Bus Boykott aus – einen Bürgerrechtsprotest, bei dem sich die afroamerikanische Bevölkerung weigerte, die Stadtbusse zu nutzen, um gegen die »Rassen«trennung zu protestieren.

Eine Gemeinsamkeit spontaner Proteste scheint zu sein, dass diese eher emotional funktionieren. #BlackLivesMatter war etwa zunächst ein Ausdruck der Empörung über den Freispruch eines Wachmannes, der in Florida einen Schwarzen Jugendlichen erschossen hatte. In der Folge gingen weltweit Menschen auf die Straße. Mittlerweile ist BLM eine globale Bewegung, die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus organisiert. Spontaner Protest kann auf eine andere Art politisieren als das Gespräch mit der politisch aktiven Freundin oder das Studieren der nächsten Ausgabe der »Straßen aus Zucker«. Er kann Erfahrungen ermöglichen, die über das Bestehende hinausweisen: Vielleicht teilst Du bei einer Protestaktionen Deinen Lieblingspullover mit Mitdemonstrierenden und aus »mein, Dein« werden bürgerliche Kategorien. An dem Beispiel der BLM-Bewegung kann man gut sehen, dass spontaner Protest manchmal auch zu organisiertem Protest wird. Ein Automatismus ist das jedoch nicht. Als etwa in den 1970er Jahren türkische Gastarbeiter:innen in wildem Streik, also einer spontanen Form des Protests, die Arbeit niederlegten, wurden sie von den Gewerkschaften allein gelassen und teilweise sogar von Kolleg:innen bekämpft.

Manchmal sind durch staatliche Unterdrückung bestimmte Formen politischer Organisierung verboten und es kann deswegen nur zu spontanem Protest kommen, der dann besonders bedeutsam wird. Gleichzeitig ist es jedoch schwer, allein durch spontanen Protest große Veränderungen durchzusetzen. Dieser bleibt oft auf einzelne Forderungen oder einen Abwehrkampf beschränkt: denn ab einer bestimmten Größe ist es schwierig, sich mit einer spontanen Masse auf ein umfassendes Programm zu einigen. Durch die Spontanität der Bewegung kann sich dieser Protest außerdem leicht verändern und ist ohne formale Strukturen anfälliger dafür, dass immer die Lautesten und Stärksten den Ton angeben. Auf Willkür hat spontaner Protest also oft keine Antwort. Genauso schnell wie er aufflammen kann, kann er auch wieder erlöschen.

Bildet Banden?!

Protest kann aber auch durch Organisierung entstehen und so aufgebaut sein, dass sich an der Protestbewegung alle beteiligen können. Organisierter Protest erlaubt bessere Absprachen und eine gerechtere Aufteilung von Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten. Außerdem ermöglicht Organisierung die klare Formulierung von Zielen und ein strategisches Vorgehen. Im besten Fall werden dadurch Forderungen nachhaltig durchgesetzt.

Aber auch organisierte Formen von Protest haben Nachteile. Organisierter Protest kann zum Beispiel leichter eingehegt und gezähmt werden (lies dazu hier mehr). Durch die Organisierung ist der Protest berechenbarer, allein durch die Bekanntgabe eines festen Ortes und der Uhrzeit. Umso wichtiger ist es, dass der Protest im Voraus gut organisiert wird. Der 1. Mai gilt beispielsweise bereits seit 1890 als Kampftag der Arbeiter:innenbewegung. Es kam zu Arbeitsniederlegungen; gefordert wurden politisches Mitspracherecht sowie Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Seitdem gibt es am 1. Mai jährlich große Demonstrationen, durch die an den Kampf der Arbeiter:innen erinnert werden soll. Dieser Protest hat eine lange Tradition, und je nach Ausgestaltung kann er ritualisiert ablaufen oder Möglichkeitsräume eröffnen.

In manchen Teilen der Linken gibt es oft eine Skepsis gegenüber verschiedenen Formen von politischer Organisation. Dies hat historische und auch strukturelle Gründe. Vielleicht kennt ihr es ja auch, das Sich-die-Nächte-um-die-Ohren-schlagen bei stundenlangen Treffen? Neben zähen Diskussionen birgt Organisierung auch die Gefahr, autoritäre Strukturen auszubilden: Dass in linken Gruppen aus deutschen Unistädten immer dieselben Personen ihre Vorstellungen durchsetzen, ist zwar nervig, aber noch ein relativ harmloses Beispiel. In völlig anderem Ausmaß zeigte sich etwa in der Sowjetunion unter Stalin, wie Revolutionseifer, Macht und kalte Konsequenz in politischen Strukturen zu brutalem Terror werden und so zur Ermordung Hunderttausender führen können.

Auf der Suche nach guten Antworten im Q&A der Weltgeschichte

Wälzen wir die Geschichtsbücher: Wie spontan oder organisiert Protest zustande kommt, muss auch im Zusammenhang mit den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden. Welche Protestformen sind legal und welche verboten? Gibt es Verbündete und wer gehört dazu? Auf welche kurzfristigen und langfristigen Verbesserungen zielt Protest? Was ist in diesem Zusammenhang wirkungsvoll und was nicht? Bestimmte Situationen erfordern verschiedene Reaktionen.

So hat sich linker Protest im Laufe der letzten Jahrzehnte stets verändert, auch in Deutschland. Ab Mitte der 1960er Jahre zersplitterte die Studierendenbewegung: Die einen fanden den Weg in maoistisch geprägte K-Gruppen oder den Untergrund, andere ins Establishment. In Sachen Protest waren neue Antworten auf die gesellschaftlichen Entwicklungen gefragt: Manche versuchten, mit einem »langen Marsch durch die Institutionen« das politische System von innen heraus zu verändern, während Neue Soziale Bewegungen sowie Teile des autonomen Spektrums ab den 1970er und 1980er Jahren eher auf eine »Politik der ersten Person« setzten. Die Idee dabei war, das eigene Alltagsumfeld zu politisieren, statt weiter auf eine Repräsentation durch politische Stellvertreter:innen zu vertrauen – durch Stadtteilarbeit, bewusstseinsbildende Frauengruppen oder die Kinderladenbewegung. Man wollte zeigen, dass auch das scheinbar Private politisch ist. Veränderungen im eigenen Umfeld sollten langfristig auch zu gesellschaftlichen Umbrüchen führen.

Im Laufe der Zeit zeichnete sich jedoch ab, dass auf diesen Wegen zwar alternative Freiräume geschaffen, nicht aber die falsche Einrichtung der Gesellschaft überwunden werden konnte. Auch als Reaktion hierauf entstanden in den letzten beiden Jahrzehnten wiederum postautonome Gruppen, zum Beispiel das »…ums Ganze!«-Bündnis oder die Interventionistische Linke. Diese setzen wieder stärker auf Organisierung und tauschten schwarze Hassis gegen bunte Regenschirme. Durch die Arbeit in Bündnissen und anschlussfähige Proteste versuchen sie, auch über das linksalternative Milieu hinaus zu wirken.

Zurück in die Zukunft: Aktualisieren und neu starten

Heute findet man neben anlassbezogenen Bündnissen vor allem die sich selbst zerlegende Linkspartei, Kleingruppen in losem Kontakt oder unorganisierte Einzelpersonen.
Häufig resultieren daraus isolierte und spontane Aktionen, die sich auf Abwehrkämpfe beschränken müssen. Ein Gegenbeispiel aus den letzten Jahren ist die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«, die für eine erfolgreiche Basisorganisierung und konkrete Zielformulierung steht. Gleichzeitig stößt auch diese an Grenzen: Die Initiative zeigt, dass linke Bewegungen in Deutschland keine politischen Entscheidungen durchsetzen können – auch dann nicht, wenn es bei einem Volksentscheid eine demokratische Mehrheit dafür gibt. Das wäre aber allein in puncto Klimawandel dringend nötig – denn große Konzerne wie RWE lassen sich nicht davon beeindrucken, wenn tausende Menschen in Lützerath protestieren oder wenn es im globalen Süden brennt. Hier geht es letztlich schlicht um die Frage politischer Macht: Hindert jemand die Zerstörer, ja oder nein?

Einerseits ist es also überfällig, der Gesellschaft nicht nur nötige historische Updates zu verpassen, sondern am besten gleich ein neues Betriebssystem aufzusetzen. Das bedeutet aber andererseits auch, dass bessere linke Antworten und Politikformen gefunden werden müssen als die, die schon jetzt nicht ausreichen. Von der nächsten Demo durch das alternative Stadtviertel bis zum noch so heftigen Shitstorm auf Social Media: Derzeit fehlen eine wirkliche Strategie und eine zeitgemäße Organisationsform, um verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden und so Wirkmächtigkeit zu erhöhen.

Doch wie könnten eine solche Organisationsform und Strategie aussehen? Wie können breitere Bevölkerungsgruppen außerhalb der Szene- und Internet-Bubbles durch Konflikte und Krisen auf emanzipatorische Weise politisiert werden? Wie können gemeinsame Forderungen formuliert werden, die Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen teilen? Und wie kann irgendwann mehr beziehungsweise überhaupt mal wieder Handlungsmacht erreicht werden?

Heute liegt es an uns, gute Antworten auf diese Fragen zu finden. Und dabei über die Geschichte informiert zu bleiben, um nicht einfach die gleichen Fehler zu wiederholen, die andere bereits für uns begangen haben – oder bei ihnen stehen zu bleiben.

Zum Weiterlesen:
Olga Tiefenbacher: Von Parteien lernen, ohne selbst eine zu werden. In: HUch#95. 2023.
Katja Wagner, Lukas Egger & Marco Hamann: Was tun in Zeiten der Schwäche? 2021.