Politik, Krankheit und Markt: Das deutsche Gesundheitssystem

Zur Entstehung des Gesundheitssystems und warum Menschen mit wenig Geld weniger Zähne haben

Zu Anfang der Corona-Pandemie steht ein abgehalfterter deutscher Tennisstar auf seinem Londoner Luxusbalkon und klatscht staatstragend in den Sonnenuntergang. Er klatscht für all diejenigen, die in den Kliniken und sonst wo die Corona-Patient*innen versorgen. Damit ist er nicht allein. Corona hat Menschen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, ihre „Solidarität“ zu bekunden oder Dokus über miese Arbeitsbedingungen in der Pflege zu drehen. Geholfen hat all das herzlich wenig, denn am Lohn oder der Arbeitsintensität hat sich kaum etwas geändert. Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dass einiges schief läuft im deutschen Gesundheitssystem. Aber warum ist die gesundheitliche Versorgung so schlecht? Was läuft da falsch? Und wie könnte man das vernünftig organisieren?

The Origins of Krankenversicherung

Erst mal zur staatlich organisierten Gesundheitsversorgung: Die Krankenversicherung ist (wie gerne stolz betont wird) eine deutsche Erfindung. Im 19. Jahrhundert war die Industrialisierung in vollem Gange und die Arbeiter*innen in den Fabriken begannen sich zu organisieren, um gegen die menschenfeindlichen und krankmachenden Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Die Ober-Pickelhaube Otto von Bismarck führte die Krankenversicherung ein, um die Arbeiter*innenklasse auf seine Seite zu ziehen und revolutionäre Bewegungen unter Kontrolle zu halten. Die gesundheitliche Grundsicherung wurde also nicht zuletzt aus machtpolitischem Kalkül eingeführt. Auch heute ist die Krankenversicherung nicht nur eine soziale Notwendigkeit. Sie gestaltet auch die Belastung durch die kapitalistische Ausbeutung, also die Lohnarbeit, verträglicher, und sorgt so dafür, dass dieses System stabil bleibt. Denn wer krank ist oder so unzufrieden, dass sie rebelliert, ist keine gute Arbeitskraft. Trotz ihres zweifelhaften Ursprungs und ihres Nutzens für stabile Ausbeutungsverhältnisse ist eine gesetzliche Krankenversicherung, jedenfalls im aktuellen politischen System, eine ganz gute Sache. Praktisch macht sie das Leben im Kapitalismus angenehmer. Ist schon cool, wenn Deine Krankenkasse Reha-Kurse bezahlt oder die Rücken-OP, die Du wegen jahrelanger Arbeit als Kellner*in oder Bauarbeiter*in brauchst. In Ländern, in denen es keine gesetzliche Krankenkasse gibt, sieht das anders aus. In den USA zum Beispiel, wo die Versicherung eine „freie“ Entscheidung ist, schützt diese nur jene, die es sich leisten können. Aber auch in Deutschland sind nicht alle Versicherten gleich: Wer privat (teurer) versichert ist, wird schneller und häufig auch besser behandelt. Deshalb kann man etwa an der Zahngesundheit häufig gut erkennen, wie viel Geld jemand hat. Weil Zahnarztbesuche extra kosten, haben arme Menschen einer englischen Studie zufolge im Schnitt weniger Zähne.

Eine „Sache des gesunden Menschenverstandes“ (M. Thatcher über ihren Neoliberalismus)

Dass die Gesundheitsversorgung für Arm und Reich so unterschiedlich ist, hat auch mit der zunehmenden Privatisierung zu tun. Wie so vieles im Kapitalismus ist die Gesundheitsversorgung mittlerweile oftmals genauso marktwirtschaftlich organisiert wie x-beliebige andere Branchen.

Die Idee, dass man Gesundheitsversorgung auch nach Prinzipien der Profitmaximierung organisieren kann, kam vor allem in den 1970er Jahren so richtig in Mode. In dieser Zeit war die ökonomische Theorie des „Neoliberalismus“ schwer im Trend. Die Grundidee des Neoliberalismus ist, dass ein freier Markt und „gesunde“ Konkurrenz nur das Beste aus Unternehmen, aber auch aus sozialen Institutionen rausholen würden. Schließlich müssten die Unternehmen auf einem freien Markt ja möglichst effizientsein, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Das heißt ihr Produkt (z.B. die Gesundheitsversorgung) müsste erstens effektiv sein, damit die Kund*innen (also die kranken Personen) sich dafür entscheiden und zweitens kostengünstig, damit es sich für die Anbieter*innen lohnt. Soweit die schöne neoliberale Theorie.

Spätestens 2003 wurden neoliberale Prinzipien auch in Deutschland durchgesetzt. Der „Genosse der Bosse“ Gerhard Schröder (SPD) setzte mit Support der Grünen die Agenda 2010 durch, die das gesamte Sozialsystem reformierte. Neben den menschenverachtenden Hartz-IV-Reformen war auch das Gesundheitssystem Teil der Pläne. Konkret hieß das: Heilung muss ein Business sein. Und in diesem Sinne wurde die Krankenhausfinanzierung grundlegend umstrukturiert.

Krankenhäuser werden seitdem nicht mehr bezahlt, um ihre Kosten zu decken, sondern für „Leistungen“, also Behandlungen. Das bedeutet, dass Krankenhäuser sparen müssen, um ein günstiges Verhältnis von Behandlungen zu Kosten hinzukriegen. Das Ergebnis ist vor allem weniger Personal. Zudem wurden viele Krankenhäuser zusammengelegt, was gerade auf dem Land bedeutet, dass der Weg zur nächsten Klinik länger ist. Viele Kliniken sind zudem privatisiert worden. Das heißt, dass sie noch konkurrenzfähiger sein müssen, also Profit abwerfen sollen, um sich für die Betreiber*innen zu lohnen. Gleichzeitig müssen Ärzt*innen in diesem System nicht nur überlegen, welche Behandlung für das Krankheitsbild passt, sondern auch, welche Behandlung sich finanziell lohnt. Das heißt Diagnosen werden auch mal dramatisiert oder ausgedehnt. Klar gibt es viele Ärzt*innen, denen es sehr wichtig ist, wie es ihren Patient*innen geht. Aber das übergeordnete System sieht nun mal etwas anderes vor. Die Folgen dieser Umstrukturierung im Gesundheitssystem konnten wir alle in der Pandemie sehen: Überarbeitung des Personals und massenweise Verschiebungen von „nicht-essenziellen“ Eingriffen. Die Antworten des deutschen Sozialstaates darauf: Lockerungen bei Arbeitszeitregelungen und Personaluntergrenzen.

Auch die Pflegebranche funktioniert inzwischen oft nach Marktlogik. Pflege ist ein profitabler Bereich – die Nachfrage nach Betreuung und Heimplätzen steigt stetig und Anbieter bekommen staatliche Unterstützung. Das sorgt dafür, dass private (Private-Equity-) Unternehmen Pflegeunternehmen aufkaufen, sie möglichst profitabel machen und gewinnbringend weiterverkaufen. Die zweitgrößte Pflegekette Deutschlands, Alloheim, wurde schon dreimal an Investmentfonds mit fancy Namen wie „Star Capital Partners“ weiterverkauft, jedes Mal mit Milliardengewinnen. Die Schulden, die gemacht werden, um die Käufe zu tätigen, werden gerne an die Heimmanagement-Firma weitergegeben, was den Druck erhöht, profitabel zu sein – also daran zu sparen, wofür Pflegeheime gedacht sind: gut für alte Menschen zu sorgen.

Altenpfleger*in ist ohnehin einer der am schlechtesten bezahlten und anstrengendsten Jobs ever. Und wie in Krankenhäusern kann das Personal in Pflegeheimen so kaum gute Versorgung leisten. Die Pflegekette Alloheim war im Winter 2020 in den Nachrichten, weil in einem Pflegeheim über 18 Bewohner*innen an Corona starben. Das Heim war unterbesetzt und die Hygieneregeln nicht eingehalten worden. Keine Überraschung bei der Entwicklung, die das Gesundheitssystem in den letzten 20 Jahren durchgemacht hat.

Was heißt hier gesund?

Wir haben uns hier angeschaut, wie die allgemeine Gesundheitsversorgung entstanden ist und warum die kostenlose Versorgung oft so mangelhaft ist. Eine Frage bleibt: Wie geht es besser? Zunächst mal lohnt es sich, zu überlegen, was „Gesundheit“ eigentlich bedeutet. Oft ist das nämlich gleichbedeutend mit „funktionsfähig“. So richtig krank ist man doch erst, wenn man von der Arbeit krankgeschrieben ist, oder? Idealerweise würde gesund sein aber heißen: „sich gut fühlen“, unabhängig von „normal“ oder „produktiv“.

Abgesehen davon sollten wir Kranksein und Heilung auch mit dem System in dem wir leben zusammendenken. Einige Initiativen tun das schon. In Berlin und Hamburg gibt es sogenannte Polikliniken, die Krankheit auch als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse (Einkommen, sozialer Status, Wohnsituation, …) begreifen und die medizinische Versorgung für Menschen organisieren, die z.B. wegen ihres Aufenthaltsstatus keine Krankenversicherung haben. Und die Initiative „Krankenhaus statt Fabrik“ kämpft gegen die Privatisierung im Gesundheitssystem. Und eins ist bei alledem klar: die bestehende, mangelhafte Gesundheitsversorgung ist bei Weitem kein genügender Ausgleich dafür, im kapitalistischen System schuften zu müssen.

Zum Weiterlesen:

Podcast: Kritische Mediziner*innen Berlin: Kritis on Air.

Gesundheitskollektiv Rollbergkiez: http://www.geko-berlin.de

Poliklinik Hamburg: http://www.poliklinik1.org

Initiative „Krankenhaus statt Fabrik“: https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de

Stefan Torak: Den Möglichkeitssinn schärfen. 2021.