Einmal Krise mit allem, bitte
Wir wollen die Freiheit der Welt (und Straßen aus Zucker!) – denn die Einrichtung der Welt ist eine Zumutung. Profite sind meist wichtiger als Menschen, überall werden Gesellschaftsgruppen abgeriegelt oder ausgegrenzt, und überall wird mehr oder weniger brutal auf klassischen Geschlechterrollen beharrt. Linke Bewegungen haben dagegen schon immer Freiheiten erkämpft. Für uns sind das nicht nur einzelne Kämpfe. Das ist eine grundlegende Aufgabe: Nation, Kapital, Patriarchat, Scheiße – alle Herrschaftsverhältnisse müssen umgeworfen werden. Dass das so ist, das zeigt sich insbesondere in Krisen, wenn diese Verhältnisse samt ihrer Grundlagen und Widersprüche besonders erfahrbar werden. Doch selten waren die Zumutungen dieser Welt so global, so vielseitig und so anschaulich sichtbar wie in der Covid-19-Krise.
Bestehende Ungleichheiten im Teilchenbeschleuniger
Zum einen haben sich bestehende Ungleichheiten in times of Covid-19 massiv zugespitzt. Das sehen wir auf der ganzen Welt und auch in unserem direkten Umfeld: Da in Familien immer noch Frauen* die meiste Verantwortung für Kinderversorgung, Hausarbeit und sonstige Pflege übernehmen, machen sie das „natürlich“ auch in der Krise – neben allen anderen Belastungen on top. Ihre Männer pflegen währenddessen im Homeoffice ihre Karriere. Oder Bildungschancen: Während die Kinder von Akademiker*innen häufig nicht nur Computer, sondern auch ruhige Zimmer und homeschoolende Eltern zur Verfügung haben, können Kinder aus den Familien, in denen das fehlt, sehen, wo sie bleiben. Im Jugendzentrum jedenfalls nicht, das hat ja gerade zu. Und weil Krankenhäuser Unternehmen sind, die Gewinn abwerfen müssen, können sich die prekär Beschäftigten dort vielleicht noch an das freundliche Klatschen vom Frühjahr 2020 erinnern. Die notwendig fundamentalen Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen stehen aber nicht an. Warum auch? Es geht in der kommerzialisierten Gesundheitslandschaft ja nicht um sie, es geht eigentlich noch nicht mal um Patientinnen – es geht um finanziellen Gewinn. Den nächsten Verweis auf die Interessen der Pharmakonzerne sparen wir uns an dieser Stelle. Richtig brutal wird es an Europas Außengrenzen. In Lagern auf den griechischen Inseln oder an der polnisch-belarussischen Grenze sind zehntausende Menschen auf engstem Raum und bei katastrophalen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht. Diese Menschen leiden und sterben. Der deutschen und der europäischen Politik fällt dazu ein, zweimal im Jahr „nachhaltige“ Lösungen zu fordern,
alles weitere überlassen sie dem Tränengas griechischer Bullen oder den mörderischen Push-Backs des europäischen Grenzschutzes. Deutsche Staatsbürger*innen wurden 2020 mit Riesenaufwand aus der ganzen Welt evakuiert, heim ins Gesundheitsreich – die Geflüchteten bleiben weiterhin in Schlamm, Gewalt und Krankheit zurück, da muss ein Innenminister halt Prioritäten setzen. Die Medienöffentlichkeit hat währenddessen andere Themen, denn Ansteckungsgefahr ist vor allem vor der eigenen Haustür interessant. Und es wird noch brutaler, denn die Ungleichheiten bestehen ja auch im globalen Maßstab. Der Reichtum in den G7-Staaten vermehrt sich weiter, während dort die sozialen Unterschiede eskalieren und die Menschen in anderen Ländern darauf hoffen können, nicht so schnell zu sterben und irgendwann mal die Reste der Impfdosen abzubekommen. Wenn sie bis dahin nicht in den Folgen des Klimawandels untergehen.
Autoritäre Staaten und rückschrittliche Mobilisierungen: neue Schaufenster in alte Brutalität
In der Covid-19-Krise sind aber nicht nur bestehende Ungleichheiten deutlicher, sondern auch rückschrittliche und faschistische Bewegungen stärker geworden. Einige Machthaber haben die Gefahr durch Covid-19 massiv heruntergespielt und damit ganze Gesundheitssysteme und Bevölkerungsgruppen über die Klinge springen lassen, siehe Brasilien oder Belarus, Iran oder die Trump-USA. So unterschiedlich diese Regierungen, so selbstgefällig ihr Machtstil: Man wollte sich von den gesundheitspolitischen, also den sozialen Entwicklungen der globalisierten Welt nicht in den eigenen Alltagsbetrieb reinreden lassen. Andere autoritäre Machthaber haben das Virus hingegen aktiv dafür genutzt, die Selbstbestimmung und Mitbestimmung der Menschen endgültig abzuschaffen. So hatte China seinen digitalen Überwachungsstaat schon vor Covid-19 aufgebaut und das erzwungene konforme Verhalten seiner Bürger*innen mit Punkten bewertet – nun werden auch der Gesundheitszustand, soziale Kontakte und der Aufenthaltsort via App kontrolliert. Ob also im Namen des Virus oder in Ignoranz des Virus: Autoritäre Machthaber brechen die elementarsten Bedürfnisse der Menschen, um irrationale Macht zu behaupten und herrschende Verhältnisse zu verteidigen. Ein vergleichbares Denken besteht übrigens auch in Deutschland. Dass selbst das verantwortungsvollste Rumhängen von Jugendlichen im Park und nicht deutsche Hochzeiten besonders gern aufs Korn genommen werden, während Großraumbüros, Fließbandarbeit und zusammengepferchte Spargelstecher*innen billig und billigend in Kauf genommen werden, zeigt: Wer und was zum Problem der Pandemie ausgemacht wird, entscheidet hier nicht die Vernunft, sondern rassistische Zuschreibungen und der Blick aufs Bruttosozialprodukt. Auf den sogenannten Corona-Demos sammeln sich derweil fast alle, denen Aufklärung schon immer suspekt war: Esoteriker*innen, besorgte Wutbürger*innen, Nazis. Ihnen geht es natürlich nicht um Freiheit, so empört sie das auch in Innenstädte und Chatrooms brüllen. Ihnen geht es um Sündenböcke für die Probleme einer komplexen Welt – und um die Abwehr von allem, was die eigene kleine Welt zwischen Birkenstocksandalen und Reichskriegsflagge in Frage stellt. Die Transparente mit der Aufschrift „Heimatschutz statt Mundschutz“ bringen das auf den Punkt. Menschlichkeit oder Solidarität kommen da gar nicht mehr in Frage. Es geht im Anblick globaler Herausforderungen nur noch um Abschottung, eigene Privilegien und Sündenböcke, an denen man seinen Hass ablassen kann.
Das „Ende der Geschichte“ ist endgültig vorbei
Also alles schlecht und nichts mehr zu retten? Ganz im Gegenteil. Denn so abgefuckt es auch sein mag, diese Entwicklungen bedeuten nicht nur Rückschritt, sondern gleichzeitig auch Fortschritt: Zum einen beschäftigen diese Zumutungen ja Menschen auf der ganzen Welt. Betroffene antworten mit sozialen und feministischen, antirassistischen und antikapitalistischen Forderungen und teilweise auch Kämpfen – um so mehr, da Covid-19 ja nicht die einzige Zumutung ist, mit der sich die Menschen auseinandersetzen müssen. Die Pandemie beschleunigte nicht nur Ungleichheiten, sondern auch die Wahrnehmung davon
und die Bewegung dagegen. Und es geschieht noch etwas. Jahrzehntelang hieß es in Politik und Wirtschaft in Anbetracht immer weiterer Finanzkrisen: Staatshaushalte müssen geschont werden, alle müssen viel arbeiten, damit sie auch in Zukunft wenig haben. Was soll man auch sonst machen? Was nichts einbringt, wird abgeschafft. Sachzwänge, wohin das Auge schaut – „there is no alternative”. Und jetzt? Jetzt wurden nicht nur gigantische Geldsummen in die Hand genommen, um ganze Industriebranchen zu retten, jetzt wurden plötzlich – wenn auch nur punktuell – mal Beatmungsgeräte statt Autos und Desinfektionsmittel statt Gesichtscremes produziert. Und wie schlecht und ungerecht die Lockdowns auch organisiert waren, sie zeigten doch: Es ist kein Naturgesetz, sich morgens in den Aufzug zu quetschen, um pünktlich im Großraumbüro anzukommen. Zumindest für einige Wochen haben wenigstens einige Menschen auf der ganzen Welt erfahren, dass Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht in Stein gemeißelt sind. Nein, ganz offensichtlich hat diese Krise nicht zu Verbesserungen geführt. Nein, sie wurde nirgendwo gut gelöst. Aber sie hat überall gezeigt, dass es eben keine „Alternativlosigkeit“ gibt, dass Verhältnisse immer aufs Neue gestaltet werden – und dass es an konkreten Entscheidungen liegt, wie sie gestaltet werden. Das „Ende der Geschichte“, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 in Anbetracht des weltweiten Siegeszuges des Kapitalismus festgestellt hat, das hat es nie gegeben. Die
Finanz- und Wirtschaftskrisen haben diese Annahme als falsch entlarvt. Die Coronakrise hat sie endgültig lächerlich gemacht. Da liegt doch die Frage nahe: Wie wäre es, wenn der Normalvollzug aus emanzipa torischen Gründen aufgehoben wird?
Zum Weiterlesen:
Thomas Ebermann: Störung im Betriebsablauf. 2021. 19,50 Euro.