Ein Gedankenexperiment zum Umgang mit Covid-19 in einer vernünftigen Gesellschaft
Arbeit, Care-Arbeit und schlafen. Viel mehr hatte das Leben in der Pandemie für die meisten Menschen nicht zu bieten. Kontaktbeschränkungen waren ja auch erst mal die einzige Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen. Wir mussten uns alle solidarisch zurücknehmen, bis endlich der Impfstoff da war. Dass in den anderthalb Jahren, die das dauerte, Menschen psychisch völlig ans Ende ihrer Kräfte gerieten, ließ sich halt nicht ändern. Zumindest wiederholten das sämtliche Politiker*innen gebetsmühlenartig. Die offensichtliche Frage – „Was war eigentlich mit den ganzen Kontakten auf Arbeit?“ – spielte hingegen keine Rolle.
Dabei gab es am Anfang der Corona-Pandemie einen kurzen Moment der Vernunft: Zeitweise wurde die Wirtschaft ziemlich konsequent runtergefahren. Plötzlich zeigte sich, was alles geht, wenn auch die Menschen in den mächtigen Staaten des globalen Nordens bedroht sind. Doch schon ein gutes Jahr später war die Welt wieder „in Ordnung“: Die kapitalistischen Staaten ließen lieber viele Menschen elendig sterben (sind ja eh hauptsächlich die Alten, die nur Geld kosten), als das Weihnachtsgeschäft 2020 zu gefährden. Es wurde heftig darum gestritten, welcher (westliche) Staat wie viel Impfstoff bekommt, und die deutsche Bundeskanzlerin gab zu bedenken, dass man die Patente für Corona-Impfstoffe nicht freigeben dürfe, weil sonst „Fachwissen an China abfließen könnte“.
Was wäre eigentlich passiert, wenn die vernünftige Reaktion zu Anfang der Pandemie konsequent weitergegangen wäre? Wie würde eine vernünftig organisierte Gesellschaft mit einer Pandemie umgehen? Stellen wir uns vor, wir würden in solch einer vernünftigen Gesellschaft leben. In einer Gesellschaft, der die Gesundheit und die Bedürfnisse von Menschen wichtiger sind als der Aktienkurs der Volkswagen AG. In der nicht die allgegenwärtige Konkurrenz jedes gute Leben unmöglich macht. Nennen wir diese Gesellschaft behelfsweise „Kommunismus“ und erlauben wir uns, ein bisschen zu träumen, denn „Träume, Freund, enttäuschen nie.“
A match made in hell: Corona und die kapitalistische Produktionsweise
Die Corona-Pandemie ist keine „Naturkatastrophe“, die einfach über uns hereinbrach wie ein heftiger Orkan. Dass es überhaupt zu ihr kam, hat viel damit zu tun, wie wir unsere Nahrung produzieren und Menschen zwingen zu leben (siehe Artikel „Klima, Korona, Kapitalismus, Krise“). In der vernünftigen Gesellschaft, an die wir denken, hätte die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen – von Menschen und Tieren – höchste Priorität, womit die Wahrscheinlichkeit, dass Pandemien überhaupt ausbrechen, viel geringer wäre. Und selbst wenn ein neuartiges Virus auftaucht, wäre sofort ein weltweiter Warnruf mit allen verfügbaren Informationen erfolgt, anstatt die Entdeckung noch wochenlang zu verheimlichen. So könnte man sich überall vorbereiten und würde das, anders als heute, auch tun. Schließlich geht die Gesundheit aller Menschen wirtschaftlichen Interessen vor. Dass aus einem neuartigen Krankheitserreger binnen eines Jahres eine Pandemie werden würde, wäre also sehr unwahrscheinlich. Aber hey, auch im Kommunismus passieren Fehler, also gehen wir mal davon aus, dass sich das Coronavirus trotzdem massiv verbreitet hätte.
Überall, wo die neue Krankheit ausbräche, würden sofort alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten konsequent eingestellt, die zur Verbreitung der Pandemie beitragen. Natürlich bedeutet das auch, dass Partys und die Backpack-Tour durch den Amazonas ausfallen müssten. Heißt das also, dass in einer kommunistischen Gesellschaft der Alltag in der Pandemie statt aus (Care-)Arbeit und schlafen nur noch aus schlafen besteht? Ja und nein. Einerseits finden wir eine Gesellschaft ziemlich erstrebenswert, in der es okay ist, auch mal eine längere Zeit nichts zu tun. Und wenn die Jugend nicht mehr die einzige Zeit im Leben ist, in der Menschen frei sein können, wäre es auch weniger schlimm, wenn eine Weile nicht gefeiert wird.
Andererseits hätte das Wegfallen des Arbeitszwanges der kapitalistischen Gesellschaft eine Reihe von radikalen Folgen für das Leben in einer Pandemie. Wenn niemandes Existenz bedroht wäre, nur weil sie*er nicht zur Arbeit gehen kann, würde eine Menge des psychischen Drucks wegfallen, der während des Lockdowns bestand. Die allgemeine Akzeptanz der getroffenen Maßnahmen wäre viel größer und weniger Leute würden auf die Verschwörungstheorien durchgedrehter Fernsehköche einsteigen. Die Arbeit wäre besser verteilt, wodurch sich nicht immer dieselben Menschen gefährden müssten. Vor allem aber müssten viel weniger Menschen trotz Ansteckungsrisiko arbeiten gehen, da nur lebensnotwendige Tätigkeiten weiter ausgeführt würden. Es wären insgesamt viel weniger Leute unterwegs, wodurch besonders gefährdete Menschen sich sicherer im öffentlichen Raum bewegen könnten, anstatt für anderthalb Jahre zu Hause eingesperrt zu sein, wie in der Pandemie unter kapitalistischen Bedingungen.
Überhaupt wären in einer Welt, in der die bürgerliche Kleinfamilie nicht die einzige anerkannte Form des Zusammenlebens ist, die Maßnahmen nicht nur darauf ausgelegt. So könnten sich auch andere Infektionsgruppen zusammenfinden, damit es nicht dazu kommt, dass Einzelne völlig isoliert sind. Care-Arbeit könnte auf mehr Schultern verteilt werden und es müsste generell nicht alles, was Spaß macht, verboten werden, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Die Menschen wären also frei zu entscheiden, ob sie nichts tun oder innerhalb eines solidarischen Rahmens rausgehen wollen. Und wir würden uns nicht nur mit Restriktionen befassen, sondern könnten mehr darüber reden, wie man es für alle besser einrichten und die Restriktionen möglichst schnell wieder beenden kann.
Das Einfache, das schwer zu machen ist
Aber wer soll das eigentlich alles bestimmen und kontrollieren? Staat und Polizei finden wir ja bekanntlich scheiße, die also schon mal nicht. Aber wie könnte man erreichen, dass sich alle Menschen gemeinsam, solidarisch und vor allem rechtzeitig auf Maßnahmen einigen? Wir haben für diese Fragen kein ausgearbeitetes Rezept, das man nur noch befolgen müsste. Aber was man schon jetzt sagen kann: Wenn nicht mehr irgendwelche Politiker*innen von großen Staaten top-down Entscheidungen für Millionen von Menschen treffen, sondern die Gesellschaft in vielen kleinen Einheiten organisiert ist, könnten diese viel effektiver und selbstbestimmter Entscheidungen treffen. Das können beispielsweise einzelne Stadtteile, Dörfer oder Zusammenschlüsse dieser sein. Da sich niemand mehr um Ressourcen oder Absatzmärkte streiten müsste, würden sie zusammenarbeiten. Wir sind uns sicher, dass Menschen eine viel größere Motivation haben, sich an Maßnahmen zu halten, die sie selbst mitbestimmt haben. Sicherlich käme es vereinzelt dennoch dazu, dass Leute sich nicht an das gemeinsam Beschlossene halten. Es bräuchte einen antiautoritären Umgang damit, der es im Notfall dennoch ermöglichen würde, Menschen gegen ihren Willen von unsolidarischem Verhalten abzubringen. Das ist ein Widerspruch, der sich in der Theorie nicht auflösen lässt. Stattdessen muss man sich über den richtigen Umgang mit diesem Widerspruch gemeinsam verständigen, wenn man eine Gesellschaft möchte, die nicht wie die heutige von einer autoritären (und häufig rechtsextremen) Polizei unter Kontrolle gehalten wird.
Dieses kleine Gedankenexperiment zeigt vor allem eines: Die kapitalistische Welt ist einfach völlig irrational. Es ist komplett bescheuert, die Gesellschaft so einzurichten, wie sie gerade eingerichtet ist. Millionen Tote werden in Kauf genommen, damit weiterhin produziert werden kann. Hört man den Herrschenden zu, dann scheinen nicht die Armen dieser Welt oder die Toten und ihre Hinterbliebenen am schlimmsten von der Pandemie betroffen, sondern die Wirtschaft™. Es ist nicht irrational von einer vernünftigeren Gesellschaft zu träumen, es ist irrational an der bestehenden festzuhalten. Es ist bestimmt sehr schwer, von der bestehenden Gesellschaft mit ihren Herrschaftsverhältnissen zu einer vernünftigeren zu kommen. Aber die Dinge, die wir beschrieben haben, sind absolut möglich. Eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft für die Menschen arbeitet und nicht umgekehrt, damit alle ein gutes Leben haben können, lässt sich sehr einfach vorstellen. Wer vor der Pandemie kein*e Kommunist*in war, hat kein Herz, wer es nach der Pandemie immer noch nicht ist, hat keinen Verstand.
Zum Weiterlesen:
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Umrisse der Weltcommune. 2018
TOP B3rlin: Wer das System trägt, kann es auch stürzen. 2020
Lorenz Naegeli, Jan Jirát: Miteinander, am besten ohne Staat. 2020