Der Echsenmensch in Dir

Über Verschwörungstheorien in Zeiten der Krise

2020: Deutschland im Corona-Chaos. Die Geschäfte und Kitas sind zu, die ganze Welt ist in Hysterie verfallen, oder willenlos erstarrt, aus Angst vor einem unsichtbaren „Killer-Virus“. Die ganze Welt? Nein, ein paar kühne Köpfe behalten den Durchblick. Das Coronavirus sei doch gar nicht so schlimm, das liege alles an der schlechten Luft in China. Die Impfung hingegen verändere unsere DNA und komme mit einem kleinen Mikrochip daher, der unsere Seele in eine Cloud hochlade. Und steckt am Ende Bill Gates hinter all dem? Oder sind es vielleicht doch die Juden? Und zack, sind wir in der Welt der Verschwörungstheorien…

Erzählungen, die die offizielle Version eines Ereignisses hinterfragen und auf einen größeren Plan hinweisen, der hinter gesellschaftlichen Veränderungen stünde, gibt es spätestens seit dem 11. September 2001 immer öfter. Sie finden sich in allen Ecken des Internets, bei der letzten US-Präsidentschaftswahl und in Bezug auf die Corona-Pandemie. Aber was sind „Verschwörungstheorien“ überhaupt? Warum werden sie trotz ihrer meist offensichtlichen Absurdität von vielen für voll genommen? Und wieso sind sie vor allem aus unserer zuckrig-linksradikalen Perspektive zu kritisieren?

Unbequeme Wahrheiten

Schaut man sich Verschwörungstheorien genauer an, stellt man fest: Ihre Verfechter*innen stellen gerne „unbequeme“ Fragen. Ein bekanntes Beispiel ist der Anschlag auf das World Trade Center in New York. Hier behaupten die sogenannten „Truther“, dass das durch den Crash ausgelöste Feuer gar nicht hätte heiß genug sein können, um die Stahlträger zu schmelzen – dies dient ihnen als Beweis dafür, dass die Regierung, Medien und Eliten die „Wahrheit“ vertuschen wollen. Diese Wahrheit könnte z.B. sein, dass eine kleine Gruppe von Politiker*innen, reichen Leuten oder Echsen im Geheimen die Welt lenken und aus 9/11 einen Nutzen zieht.

Für Anhänger*innen von Verschwörungstheorien gibt es keine Zufälle oder unbeabsichtigte Konsequenzen. Außerdem findet oft eine „Personifizierung des Bösen“ statt. Im Fokus stehen dann reale Personen, wie zum Beispiel Bill Gates, oder die Familie Rothschild, die zu allmächtigen Verschwörer*innen aufgeblasen werden. Sie handeln angeblich in ihrem eigenen Interesse (Macht, Geld oder der Untergang des Abendlandes) und auf Kosten der unschuldigen Allgemeinheit. Die Corona- Pandemie sei demnach nicht aus dem Zusammenspiel von vielfältigen biolo- gischen, wirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Faktoren entstanden, sondern ein Plan von Bill Gates, um mithilfe der Imp- fungen Gehirnwäsche-Chips zu verbreiten.

Verschwörungstheorien sind aber nicht erst mit dem Internet entstanden (auch wenn sie dadurch viel schneller Ver- breitung finden konnten). Die wohl älteste – und nach wie vor sehr einflussreiche – Erzählung ist die der jüdischen Weltver- schwörung. Schon im Mittelalter wurden Juden*Jüdinnen verdächtigt und dafür verfolgt, Brunnen zu vergiften, christliche Kinder zu klauen und mit finsteren Mächten im Bunde zu sein. Diese Erzählung existiert im Grunde bis heute noch und ist auch auf Querdenker-Demos zu finden, wo der jüdischen Familie Rothschild vorgeworfen wird, im Hinterzimmer die Weltpolitik zu regeln. Rund ein Fünftel der Deutschen glaubt heute noch, Juden*Jüdinnen würden öfter mit üblen Tricks arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen.

Natürlich gibt es große Abstufungen zwischen Skepsis und handfester Spinnerei. Wenn Onkel Holger sich lieber auf Globuli als auf die Impfung verlassen will, ist das etwas anderes, als bewaffnet in Washington eine Pizzeria zu stürmen, weil in deren Keller angeblich ein von Politiker*innen geführter Kinderprostitutionsring seinen Stammtisch hat (siehe „Pizza-Gate“). Aber schon mildere Formen von Verschwörungsglauben können, wie viele von uns im letzten Jahr erleben mussten, belastende Auswirkungen auf Beziehungen zu Freund*innen und Familie haben. Also warum zur Hölle verbreiten so viele Menschen diese kruden Ansichten und gehen sogar zusammen mit Nazis auf die Straße, um gegen die angebliche Corona-Diktatur zu demonstrieren?

Was soll der Quatsch?

Auch wenn manche Verschwörungstheorien komplex scheinen, macht der Glaube an sie die Welt viel einfacher. Es geht dann nämlich nicht mehr um komplizierte Zusammenhänge, Zufälle und verstrickte Interessenlagen, sondern ganz easy um Gut gegen Böse. Das macht es auch so schwer, Menschen durch weitläufig akzeptierte Fakten (wie etwa, dass die Stahlträger des World Trade Centers gar nicht komplett schmelzen mussten, um ihre Tragkraft zu verlieren, dass mRNA nicht die DNA verändert oder dass die Pizzeria in Washington gar keinen Keller hat) davon zu überzeugen, dass sie da gerade Quatsch erzählen. Denn für Anhänger*innen des Verschwörungsglaubens erfüllt diese alternative Weltsicht ganz bestimmte Funktionen.

Wir leben in einer komplexen Welt, die fühlbar ungerecht und verunsichernd ist. Verschwörungstheorien können dabei helfen, dieser Welt Sinn zu geben. Viele Menschen schuften sich für den Profit anderer ab und sind finanziell unsicher aufgestellt. Sie haben begründet oder unbegründet Angst vor Statusverlust, während ihnen eingetrichtert wird, ganz allein für das eigene Glück verantwortlich zu sein. Und dann passieren auch noch Sachen, die als Gesellschaft und persönlich schwierig zu verstehen und zu verarbeiten sind, wie der Anschlag auf das World Trade Center oder die Corona-Pandemie. Verschwörungstheorien geben dem Leiden und der Sorge einen konkreten Grund: Jemand hat sich das ausgedacht, jemand will, dass ich leide, dahinter steht der Plan einer finsteren Macht. Dazu kommt ein Gefühl der Ermächtigung, auf alles eine Antwort zu haben, sich gegen die „Mainstream-Schafe“ durchzusetzen. Dazu kommt das Aufgehobensein in einer Gruppe, die es besser weiß und für das vermeintliche Gute kämpft. Auch wenn diese Gruppe sich vielleicht nur im Internet trifft, ist es doch schön, mit ihr zusammen auf der richtigen Seite zu stehen.

Es gibt kein „Gut und Böse“

Aber warum ist das nun alles so problematisch? Wir gehen doch auch gegen Ausgangssperren und staatliche Kontrolle auf die Straße und finden Empörung über ausbeuterische Lebensverhältnisse normalerweise begrüßenswert? Zum einen ist es in einer Situation wie einer Pandemie einfach gefährlich, wenn Menschen auf polizeigeschützten Superspreader-Events abfeiern, dass sie keine Maske tragen wollen. Erst recht, wenn sie Minderheiten der Weltverschwörung beschuldigen. Zum anderen wollen wir es uns als Linksradikale nicht so einfach machen. Es gibt natürlich auch linksdenkende Menschen, die nur von „den Reichen“, „den Herrschenden“ oder „den Amis“ sprechen. So etwas ist nicht sofort eine Verschwörungstheorie, aber auch diese Vereinfachungen sind zu kritisieren. Denn abstrakte Herrschaftsverhältnisse werden auch hier personifiziert und damit die Illusion geschaffen, dass nur wenige konkrete Verantwortliche ausgetauscht werden müssten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. So wird durch griffige Vereinfachung ein tiefergehendes Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft verhindert – Scheiße finden kann und sollte man Donald Trump, Jeff Bezos und Co. aber natürlich trotzdem.

Der wichtigste Unterschied zwischen Verschwörungsquatsch und radikaler Kritik bleibt: Die Aluhüte suchen einzelne Schuldige, die sie für reale und imaginierte Probleme einer komplexen Welt verantwortlich machen können. Auch unser Ausgangspunkt ist das Hinterfragen offizieller und staatlicher Erzählungen, aber wir stützen uns dabei auf rationale Wissenschaft, konkrete Forschungsergebnisse, einen ernsthaften Bezug auf Theorie und den Streit um das bessere Argument. Die Ergebnisse davon kann man dann auch mal flapsig verpacken oder kämpferisch runterbrechen. Aber eben ohne Unsinn zu verzapfen, um sich das Leben einfacher zu machen.

Geschichte wird gemacht

Unsere Gesellschaft ist seit Jahrhunderten in Herrschaftsverhältnissen eingerichtet – aus ganz unterschiedlichen Interessen, mit unzähligen Opfern und entgegen andauernder Kämpfe. Eine einfache Antwort auf den Mist dieser Welt können wir Euch als SaZ also leider nicht liefern. Wir können Euch auch nicht einfach die Schuldigen aller Übel präsentieren und dann gemeinsam deren Steinigung abfeiern. Aber wir können gemeinsam die Scheiße dieser Welt analysieren und gegen alle Herrschaftsverhältnisse kämpfen – egal, wer von ihnen profitiert.

Zum Weiterlesen:

Michael Butter: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. 2018. 18 Euro

Amadeu Antonio Stiftung: No World Order. Wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt verklären. 2015

Amadeu Antonio Stiftung: Wissen, was wirklich gespielt wird… Krise, Corona und Verschwörungserzählungen. 2020

Reportage: Julia Ley: Abgrenzungsprobleme: Wie Yogis Corona-Mythen verbreiten. 2021