Ein kleiner Aufruf zum Reden über den Tod
Seit Beginn der Pandemie sind weltweit mehr als vier Millionen Menschen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus gestorben. Als wäre das nicht schlimm genug, starben viele von ihnen in Isolation, ohne sich von ihren Angehörigen verabschieden zu können. Diese Grausamkeit blieb in der öffentlichen Wahrnehmung meist unsichtbar, die Corona-Toten erschienen uns nur als Zahl in der Tagesschau. Die Pandemie ist zwar eine globale Krise, lässt aber Einzelne mit ihrer Angst und Trauer allein. Hauptsache, das Elend ist weit weg und man kann endlich zurück zur Normalität. Was aber ist mit denen, die nicht zurückkönnen, weil sie gestorben sind? Wie gedenken wir ihrer? Und warum reden wir kaum darüber, was es eigentlich mit uns macht, wenn wir oder andere nicht mehr existieren?
„Ich werde sterben, ja, aber es ist noch lange hin (und der Tag wird nie kommen)“ – Wolfgang Herrndorf, † 2013
Wir müssen über den Tod reden. Dabei stellen wir schnell fest, dass die eigene Vergänglichkeit, ebenso wie die der anderen, eher unbequem ist. Und wer mit Religion nichts am Hut hat, kann sich auch nicht mit Jenseitsvorstellungen trösten. Für uns Kommunist*innen gibt es kein Leben nach dem Tod und keine geliebten Menschen, die im Himmel auf uns warten. Gibt es außerdem kaum Berührungspunkte mit dem Tod, ist es schwer, sich zu überlegen, was man darüber denkt. Gerade in der antifaschistischen Bewegung, die gerne als Jugendbewegung gesehen wird, kommen kranke und sterbende Menschen selten vor. Eine progressive Haltung zum oder ein solidarischer Umgang mit dem Tod werden nicht einfach so auf dem Plenum geklärt.
Einige Menschen geben vor, ein abgeklärtes Verhältnis zum Tod zu haben: „Ich hab keine Angst vor dem Tod“ oder „Mir doch egal, wenn ich sterbe“. Auch der Satz: „Man ist eigentlich schon tot, bevor man lebt“, mag sich beim bekifften Rumphilosophieren zwar total gesellschaftskritisch anhören, aber deutet auch nur den Widerwillen an, die Irrationalität des Sterbens zu akzeptieren. Es ist kaum zu begreifen, dass jemand für immer weg ist – warum also drüber reden? Schließlich sind wir jung und wollen aktiv sein. „Das gute Leben“ erscheint einfach wichtiger als „das gute Sterben“. Der Tod ist ein schmerzhafter Widerspruch, den viele nicht aushalten. So werden Stillstand, Krankheit und Sterben von uns am liebsten verdrängt. Dass viele Menschen manchmal tagelang ausgebrannt im Bett liegen, weil sie vor Überdruss und Antriebslosigkeit nicht mehr aufstehen können, ist kaum erträglich – der Tod ein noch viel größeres Schreckgespenst. Deswegen kommt es gelegen, dass er ins Altersheim oder Krankenhaus ausgelagert wird. Das liegt einerseits an der modernen Medizin, andererseits finden wir es zugegebenermaßen auch ganz gut, uns kaum damit beschäftigen zu müssen, oder?
Die Corona-Toten als bloße Statistik
Es gab auch einige Ansätze, dem Sterben in der Pandemie mehr Aufmerksamkeit zu widmen. So forderte zum Beispiel die Initiative „Corona-Tote sichtbar machen“, in allen deutschen Städten Gedenkorte einzurichten und auch aus der Politik kamen Signale, dass die Verstorbenen besser erinnert werden müssten. Trotzdem traten die Gestorbenen in den Hintergrund, als die Deutschen sich im Sommer wieder fröhlich auf Malle austobten. Diese Unsichtbarkeit ist ein Ausdruck davon, wie der Tod in dieser Gesellschaft behandelt wird. Besonders schlimm ist das während Epidemien, denn: Tote müssen gesellschaftlich isoliert werden. Das heißt, es gibt keine Form des körperlichen oder rituellen Abschieds und die Toten werden meist nur als statistische Angelegenheit wahrgenommen.
Oft wird dabei vergessen, wie sich Sterbende und ihre Mitmenschen fühlen, egal, woran die Person stirbt. Der Sterbe- und Trauerprozess ist in dieser Gesellschaft meist ein einsamer Weg. Wenn jemand stirbt, wissen wir nicht so recht, was wir zu Angehörigen sagen sollen. Es werden Diskretion und Stillschweigen gewahrt und gehofft, dass Betroffene möglichst schnell „übern Berg“ und wieder für Alltagsprobleme ansprechbar sind. Wir könnten einfach mal fragen, wie es der trauernden Person geht oder ob sie etwas braucht. Und: Es gibt Beispiele, für einen inklusiveren Umgang mit dem Tod. Rituale, die Tote und Angehörige nicht ausschließen, sondern aktiv ins Leben integrieren. Von denen könnten wir uns vielleicht eine Scheibe abschneiden.
Vom „Día de los Muertos“ bis zu den Immortalisten
In Mexiko begeht man einmal im Jahr den „Tag der Toten“, an dem alle zusammen der Verstorbenen gedenken. Es ist jedoch keine Trauerveranstaltung, denn, dem Glauben zufolge, erstehen am „Día de los Muertos“ die Verstorbenen auf, um den Lebenden einen Besuch abzustatten. Die Angehörigen verschönern die Gräber der Toten, bereiten ihre Lieblingsspeisen zu und tanzen zu ihrer Lieblingsmusik. Natürlich hat dieses Fest einen religiösen Ursprung, aber vielleicht könnte es in der befreiten Gesellschaft ähnliche Rituale geben?
Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, Tote als Helden zu überhöhen, wie das zum Beispiel in Teilen der türkischen Linken passiert. Dort kippt das Gedenken in einen Märtyrerkult und eine Verherrlichung des Todes um. Eine gängige Erzählung des Sterbens linksradikaler Aktivist*innen in der Türkei ist, dass Menschen sich aufopfern sollen für das politische Ziel. Wenn man links ist, gehört Repression eben dazu und der Körper ist Teil des politischen Kampfes. Wir finden nicht, dass eine solche soldatische Hingabe selbstverständlich sein darf, selbst wenn es für die „gute Sache“ ist. Dennoch findet sich manchmal auch in diesen kriegerischen Gedenkformen etwas Positives. Die Brigaden der PKK werden beispielsweise nach verstorbenen Kämpfer*innen benannt: Ein Versprechen, dass jede einzelne Person erinnert wird.
Noch ein Beispiel: Während der russischen Revolution gab es die Gruppe der Immortalisten. Sie fanden es unerträglich, dass so viele Menschen im Kampf für den Kommunismus gestorben waren, ohne ihn selbst erleben zu können. Darum machten sie sich Gedanken, wie diese Menschen im Kommunismus wieder leben können. Sie überlegten gemeinsam, ob man die Gestorbenen nicht einfrieren oder ins Weltall schießen könnte. Das funktioniert leider nicht und kann uns heute etwas absurd erscheinen. Trotzdem: Wann haben wir uns das letzte Mal mit Freundinnen oder Genossinnen Gedanken über die Menschen gemacht, die von uns gehen?
„Wenn ein Genosse neben mir stirbt, stirbt er unter den Bedingungen, die auch mich bedrohen“ – Zeitschrift Alternative
Der Tod ist enorm politisch: Nicht nur wegen des hohen Alters oder wegen Krankheiten sterben Menschen, sondern auch durch Krieg und Armut, an nationalen Grenzen oder bei politischen Unruhen. Es gibt immer wieder Fälle von Linksaktivist*innen, wie zum Beispiel Silvio Meier († 1992 in Berlin) und Carlos Palomino († 2007 in Madrid), die von Faschist*innen brutal ermordet werden. Eines „natürlichen Todes“ zu sterben ist ein Privileg, das viele Menschen auf der Welt nicht genießen.
Dennoch leben wir so, als würde niemand sterben – auch das ist Ausdruck des Lebens im Kapitalismus. Wir arbeiten uns im Hier und Jetzt kaputt und die eigenen Träume verschieben wir auf später. Das funktioniert dann nicht mehr, wenn man sich bewusst macht, dass es dieses Später vielleicht nicht gibt. Das Sterben ist an politische, soziale und ökonomische Lebensbedingungen geknüpft. Wir müssen akzeptieren, dass das schöne Leben nur durch eine Gegenwärtigkeit des Todes ermöglicht wird.
„Worauf es jetzt ankäme, wäre Trauerarbeit zu leisten“ – Bini Adamczak
Diese Gegenwärtigkeit bedeutet auch, an die Toten der linken Bewegungen zu erinnern. Trauerarbeit heißt, von der Geschichte zu lernen. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Beispiel ist ein wichtiges linkes Erbe, denn ihr Tod zeugt von einer Geschichte des Kampfes gegen Herrschaft und Ungleichheit. Herrschaftskritische Versuche zu würdigen ist mehr als Erinnerungsarbeit. Wir können daran anknüpfen und weitergehen, indem wir sagen: Aktivistische Zusammenhänge sollen Orte werden, an denen auch Angst und Trauer ihren Platz finden. Alternative und selbstbestimmte Bestattungen wären ein Anfang.
Wie könnte das Verhältnis zum Tod in einer anderen, nicht-kapitalistischen Gesellschaft sein? Vielleicht wäre der Tod nichts ganz so Schreckliches mehr, weil er nicht das Ende von ungelebten Möglichkeiten, Einsamkeit oder Sinnverlust bedeuten würde. Wenn wir eine Gesellschaft hätten, in der die Toten zum Alltag dazugehören, gäbe es weniger Angst vor dem Vergessen werden? Und wäre es eine Gesellschaft, in der Angehörige kollektiv aufgefangen würden, weil Schwache nicht als unproduktiver Ballast in der Mühle der Wertschöpfung gelten, dann wäre das Verarbeiten des Verlusts möglicherweise ein gemeinsamer Weg. Wir wären einverstandener mit dem Tod, weil er selbstverständlich zum Leben dazugehört.
Zum Weiterlesen:
SOMOST Sonne, Mond & Sterne: 16 Thesen zum Scheitern der Linken am Tod. 2009
Andreas Blechschmidt: Nur der Tod ist egalitär. 2018
Interview mit Julian Heigel, alternativer Bestatter: „Mich interessiert das Rituelle“. 2018
Audio-Vorträge: Kritische Intervention: “Jeder stirbt für sich allein.” Von der Notwendigkeit und Unmöglichkeit über den Tod zu sprechen. 2014