Unregierbar und organisiert

Wieso Europa vielleicht doch nicht vor die Hunde geht und was das mit einem gelben Kleidungsstück zu tun haben könnte

2011. Das Jahr des globalen Protests, als von England über Israel bis in die gesamte arabische Welt soziale Bewegungen entstanden, Barrikaden brannten und Regierungen gestürzt wurden, scheint heute weit weg. Von jenem „Frühling“ ist nicht mehr viel übrig. Winter ist coming, müsste man heute wohl eher sagen angesichts des Vormarsches reaktionärer Bewegungen von Brasilien bis hin zur Bundesrepublik. Wenn heute irgendwas brennt, sind es in erster Linie Heime für Geflüchtete – das können die Deutschen ja besonders gut.

Doch regt sich in letzter Zeit auch vermehrt Widerstand gegen all das Schlechte der Welt. Nicht nur von linker Seite, wo wichtige und notwendige antifaschistische und antirassistische Politik gemacht wird, sondern in ganz unterschiedlichen Kontexten: So kam es in Ungarn zu Protesten gegen ein Gesetz von Ministerpräsident Viktor Orbán, nach dem Unternehmen von ihren Beschäftigten bis zu 400 Überstunden pro Jahr verlangen dürfen. In Albanien protestieren Studierende gegen Studiengebühren, in Serbien verurteilt die Linke die soziale Spaltung im Land, Österreich erlebte mit den Donnerstagsdemos Widerstand gegen die konservativ-reaktionäre Regierung und in Polen gibt es eine kleine aber wachsende Gruppe von Menschen, die sich gegen Homo- und Transfeindlichkeit stellt.

Same same but different?

Zwar richten sich die Proteste jeweils sehr spezifisch gegen die nationalen Regierungen, doch es rumort in Europa, Unmut und Unruhe steigen. Als gemeinsamer Nenner dieser Proteste kann die um sich greifende Prekarisierung verstanden werden. Damit meinen wir die Unsicherheit, die Menschen erfahren, wenn sie keine Ausbildung oder keinen geregelten Job haben, der es ihnen ermöglicht, einigermaßen über die Runden zu kommen. Betroffen sind davon mittlerweile Millionen von Europäer*innen bzw. Migrant*innen sämtlicher Bildungsschichten und Wohnorte – mit Ausnahme natürlich der ,schönen Viertel‘ und bestimmter Yuppie-Quartiere.

All die Teilzeitbeschäftigten, Alleinerziehenden, Sozialhilfeempfänger*innen oder Arbeitslosen sind negativ betroffen von den Veränderungen, die in den letzten Jahren unter Schlagworten wie Globalisierung, Digitalisierung und Neoliberalismus verhandelt wurden. Sicherheiten werden immer weiter abgebaut und die Menschen müssen zunehmend selber sehen, wo sie bleiben. Dabei werden sie von zwei Tendenzen in die Zange genommen: einerseits sinken die Löhne immer weiter, andererseits steigt durch die ganzen digitalen Plattformen die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten. Sprecht einfach mal mit Leuten, die Miete zahlen müssen und dafür als Uber-Fahrer arbeiten oder als Fahrradkurier*innen, die euch die Pizza liefert oder auch als Callcenter-Mitarbeiter*innen bei Amazon – geil ist sicher anders. Und all die Arbeiter*innen oder Angestellten in den Städten, Vororten und auf dem Land, die noch nicht ganz unten angekommen sind, sehen sehr wohl, dass sie bei dieser Entwicklung keinen Schnitt mehr machen können.

Eine Weste für Alle?

In Frankreich scheinen sich diese Entwicklungen aktuell zu verdichten: sowohl in der unternehmerfreundlichen Politik der Regierung Macron, als auch in jener Protestbewegung, die niemand so recht versteht, die aber auch irgendwann niemand mehr ignorieren kann, die Gilets Jaunes, die Gelbwesten. Scheinbar kam diese Bewegung aus dem Nichts. Begonnen als Protest gegen Steuererhöhungen war es gerade für viele radikale Linke schwer zu verstehen, was sich dort abspielte. Gerade weil die Gelbwesten so weit weg waren und sind von den Parolen und Floskeln der radikalen Linken. Dieses Unverständnis äußerte sich dann im Bedürfnis der Abgrenzung: populistisch, rechtsgerichtet, faschistisch usw. Und ohne Zweifel gab und gibt es Rassismus oder Sexismus unter den Gelbwesten, das zu leugnen wäre Schwachsinn. Ebenso gibt es dagegen aber auch genügend antifaschistischen Protest. Meist durchaus handfest.

Eine solche Auseinandersetzung verstellt jedoch den Blick auf das Wesentliche. Denn bei den Gelbwesten zeigt sich eine neue, eine radikale Form des kollektiven Handelns, die sich nicht so recht auf den Begriff bringen lässt. Es gibt keine fixe oder kohärente Ideologie oder Motivation, die Teilnehmer*innen sind unterschiedlich und auf sämtliche Regionen Frankreichs verteilt. Hinter den Tränengasschwaden, die bei den Protesten der Gelbwesten die Städte füllen, ist keine einheitliche Menge zu erkennen: Bewohner*innen dünn besiedelter ländlicher Gebiete besetzen Mautstellen und Kreisverkehre, Arbeiter*innen protestieren gegen die Arbeitsbedingungen und Schülerinnen gegen Macrons Reform des Bildungssystems. Diese lieferten auch das bisherige Bild der Bewegung. In Mantes-la-Jolie, einem proletarischen und migrantisch geprägten Gebiet westlich von Paris, wurden sie von der Polizei zusammengetrieben und gezwungen, mit den Händen hinter dem Kopf mehrere Stunden im Schlamm zu knien.

Was die protestierenden Menschenmassen eint, ist nicht nur das gelbe Kleidungsstück, sondern die Erkenntnis, zusammenarbeiten zu können, ohne auf bestehende Organisationsmodelle zurückgreifen zu müssen – die Gewerkschaften und Parteien spielen kaum eine Rolle. So verweigern sich die Gelbwesten nicht nur einem Dialog mit der Staatsmacht, sie beharren auf ihrem Recht auf autonome, also selbständige, politische Meinungsäußerung. Dabei werden ihre Themen wie Missstände der zu hohen Preise für Treibstoff oder Mieten oder unzureichende Löhne und Renten sichtbar. Man wird konfrontiert mit der sozialen Frage – ohne sich mit den Langweiler*innen der Gewerkschafts- oder Parteibürokratie auseinandersetzen zu müssen.

Diese Bildung neuer und kollektiver Orte macht es möglich, den Gegensatz zwischen Riot und Alltag zu überwinden. Militante Politik wird damit nicht nur zum Freizeit-Event, sondern zur Lebensform, das Leben zum Riot. Mit Militanz meinen wir übrigens nicht unbedingt Steine-Schmeißen, sondern sie kann auch in der Vernetzung mit anderen Mieter*innen im Haus bestehen, in der Organisierung gegen den AfD-Trottel im Betriebsrat oder auch mal im Ladendiebstahl für Leute, die Dinge ganz einfach notwendig brauchen. Militanz heißt sogenannte Basisloyalitäten abbauen, also die herrschenden Vorstellungen von Recht und Gesetz – zum Beispiel „Du sollst nicht klauen!“ – zu hinterfragen. Es geht darum, sich selbst „unregierbar“ zu machen, also eine widerständige Identität aufzubauen.

Klar: Nicht alles ist gelb, was glänzt. Das Problem der Gelbwesten ist, dass ihre Systemkritik meist keinen umfassenden Widerstand gegen den Kapitalismus bedeutet, sondern in erster Linie eine Ablehnung des politischen Rahmens, den die „Eliten da oben“ den „Massen hier unten“ aufgezwungen haben sollen. Darauf jedoch mit der Überlegenheit der gut ausgebildeten Revolutionär*innen zu reagieren, die Angst bekommen, sich mit den Ideen der „Vulgären“ auseinanderzusetzen, vergrößert die Kluft zwischen den kleinen Gruppen von Radikalen und den Tausenden und Abertausenden von Demonstrierenden und Aufständischen nur noch weiter. Sicher, es braucht dabei eine kommunistische Perspektive, der es ums Ganze geht. Das ist leichter gesagt als getan, muss aber gemacht werden, will man die Hoffnung auf Veränderung nicht völlig aufgeben. Und: Es wäre ja auch peinlich, wenn die Linke wie schon 2011 wie das Kaninchen vor der Schlange steht und — mal wieder — die sozialen Proteste verschläft.

Zum Weiterlesen:

Translib: Une situation excellente? – Zur Bewegung der Gelbwesten. https://translibleipzig.wordpress.com

Französischsprachiger Blog: Lundi matin (https://lundi.am/), einige Übersetzungen ins Deutsche: https://non.copyriot.com/

Hartmann, Detlef: Krisen – Kämpfe – Kriege, Band 2, Assoziation A, 704 Seiten, 24 Euro.