„Ich träume auch manchmal von einer Welt nach dem Kapitalismus“

AnnenMayKantereit haben mit Nummer-1-Album und ausverkaufter Tour gerade Oberwasser. Wir trafen Bassist Malte zum Interview und haben natürlich wieder nur über Politik geredet. War trotzdem nice.

SaZ: Ihr wurdet 2016 in einem Interview gefragt, ob ihr schon mal überlegt hättet, politische Songs zu machen. Henning hat darauf geantwortet, dass er in einem Lied schon mal darüber gesungen habe, dass sein Mitbewohner immer halbvolle Sachen wegschmeißt. Das sei ja Konsumkritik und damit ein poli-tisches Lied. Entsprechend naiv hatten wir euch bisher ehrlich gesagt auch eingeordnet. Und dann kam plötzlich „Weiße Wand“, das wir ziemlich cool finden. Wie kam es zu diesem Lied? Gab es davor ein bestimmtes Erlebnis?

Malte: 2016 waren wir alle gerade Anfang 20 und sollten uns auf einmal zu gesellschaftlichen Fragen äußern, von denen wir oft schlicht keine Ahnung hatten. Und haben uns dann auch nicht so richtig getraut. Aber sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen und sich mit den Themen zu befassen, um die es unter anderem in diesem Lied geht, ist im Moment unumgänglich. Uns allen liegt das sehr am Herzen, weswegen das Lied relativ organisch entstanden ist. Wir haben uns zusammengesetzt und drüber geredet, worüber wir eigentlich singen wollen, wie wir den Zeigefinger auf uns selbst richten und gleichzeitig über die Dinge sprechen können, die gerade aus unserer Sicht falsch laufen. „Weiße Wand“ war unser bester Entwurf. Aber wir hatten trotzdem so richtig die Hosen voll!

Wieso?

Naja, man will zu diesem Thema halt nichts Falsches oder Ungenaues sagen. Ich weiß nicht mehr wie oft wir über das Wort „Flüchtlingskrise“ diskutiert haben. Was ein Unwort ist, das wir eigentlich nicht ver-wenden wollen. Gleichzeitig müssen wir genau dieses Wort benutzen, um darauf aufmerksam zu machen, wie falsch es ist. Aber versteht man das, wenn man das Lied hört? Wer versteht, dass wir mit „Flüchtlingskrise“ nicht die fälschlicherweise so bezeichnete „Flüchtlingskrise“ an sich meinen, sondern das Wort und wie es verwendet wird?

Das meint ihr mit der Zeile „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand / obwohl man das nicht vergleichen kann“.

Genau. Es geht um die Art und Weise wie damals der Reichstagsbrand und jetzt die sogenannte „Flüchtlingskrise“ genutzt und instrumentalisiert wurde bzw. wird. Das Wort „Flüchtlingskrise“ behauptet ja bereits die Existenz einer Krise, die es in Wahrheit gar nicht gibt.

Ihr habt euch deutlich positiv zur Seenotrettung an Europas Grenzen geäußert. Wie geht ihr mit der Ohnmacht gegenüber der Situation um, dass man allein nicht wirklich viel bewirken kann? Privat wie auch als Band?

Privat ist man eigentlich immer sprachlos und fühlt sich ohnmächtig. Ich hab das Glück, dass viele Menschen um mich herum in der Seenotrettung engagiert sind. Zu sehen, dass es doch so viele Menschen gibt, die so geile Sachen machen, gibt einem ein bisschen Mut.

Als Band versuchen wir so gut zu unterstützen wie es geht. Wir haben zum Beispiel ein T-Shirt dazu gemacht und versuchen Spenden zu sammeln. Es fühlt sich manchmal an wie ein Tropfen auf den heißen Stein, aber man muss dabei bleiben und sich denken, dass es wenigstens ein Anfang ist und helfen kann.

Wie würdest du als Person, als politischer Beobachter, beschreiben wie es zu dieser Situation gekommen ist?

Huihuihui. Wo fängt man da an? Dass das nichts damit zu tun hat, dass es eine besondere Art Mensch wäre, die da flüchtet, sondern dass die Ursachen ganz wo anders liegen. Das ist ja eigentlich klar, aber es wird so selten drüber gesprochen, dass man selber immer wieder vergisst, dass diese Menschen fliehen, weil… Ja, da ist wieder die Frage, wo fängt man an, wie weit geht man zurück? Sie fliehen z.B. wegen Kriegen, die geführt werden aufgrund verschiedenster Interessen, die alle scheiße sind.

Ihr habt ja eine wahnsinnige Reichweite. Wie ist es zu wissen, dass so viele Menschen zuhören? Steigt da der Druck, dass man Wichtiges sagen sollte?

Ich weiß, dass wir mega groß sind und viele Menschen zuhören, aber daran denke ich nicht, wenn ich einen Text schreibe. Beziehungsweise, ich versuche, nicht daran zu denken.

Wir wurden oft kritisiert, vor allem bei unserem ersten Album, weil wir über Sachen gesungen haben und Positionen übernommen haben, die einfach da sind, an denen alle Gefallen finden können. Bei „Weiße Wand“ war das zum Beispiel nicht mehr so.

In einem Interview mit Euch hieß es mal, dass die meisten Menschen nach politischen Songs fragen, anstatt zu fragen, was denn toxic masculinity ist. Und da fragen wir: Was ist das für dich?

Im Kleinen und im Großen gibt’s da so viel. Eigentlich alles, oder? Ich muss kurz überlegen, ich will bei diesem Thema auf keinen Fall ungenau sein. Ich finde, dass bei „Weiße Wand“ teilweise schon sehr wichtige Sachen dabei sind. Da ist zum Beispiel diese gläserne Decke, die verhindert, dass Frauen aufsteigen können. Und das hängt ja auch wieder direkt mit dem Kapitalismus zusammen und mit dem, was wir abschaffen wollen. Die Macht, die weiße Männer in so vielen Kontexten gegenüber so vielen anderen Menschen haben, ist ekelhaft. Vor allem auch im Musikgeschäft ist es wichtig sich damit auseinanderzusetzen, da es dort sehr, sehr präsent ist. Ich freue mich aber, dass sich auch da langsam was ändert.

Denkst du darüber im privaten Bereich auch viel nach?

Auf jeden Fall. Das beschäftigt mich super krass, aber sicher auch erst seit ich 19 bin. Meine erste Freundin hat mich dafür sehr sensibilisiert. Davor hatte ich das Null auf dem Schirm, welche Auswirkungen es haben kann, wenn ich bestimmte Worte benutze oder mich auf eine bestimmte Weise verhalte. Und sie hat mich erstmals so richtig mit all dem konfrontiert, dem sie als Frau ausgesetzt ist, das hatte ich davor nicht so gesehen.

Ihr habt mit K.I.Z. das Lied „Hurra die Welt geht unter“ gemacht. Habt ihr in der Band darüber gesprochen, was für eine Utopie da entwickelt wird? Darüber was nach dem Kapitalismus sein könnte?

Das war bei uns in der Band davor kaum Thema, aber dann war da plötzlich dieses Lied und wir haben angefangen, uns darüber zu unterhalten. Ich kann diese Vision auf jeden Fall ein Stück weit teilen. Ich träume auch manchmal von einer Welt nach dem Kapitalismus. Wenn die Tomaten wieder gut schmecken könnten, wie es in dem Lied gesungen wird, das wäre mega schön. Aber es übersteigt einfach meine Vorstellungskraft, was danach passieren könnte und was die Alternative wäre.

Es existieren ja verschiedene Modelle, wie eine Alternative zum Kapitalismus aussehen kann. Gibt es da eines, das Dich am meisten überzeugt?

Für mich ist es einfacher, Details zu nennen, Dinge die ich mir wünschen würde, anstatt mich auf eine Gesellschaftsform festzulegen und zum Beispiel zu sagen, wir sollten auf den Kommunismus umsteigen. Ich glaube wir sollten zu allererst schaffen, dass alle Menschen was zu essen haben, das ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Wenn wir aufhören würden, bestimmte Sachen zu essen oder zu konsumieren, dann könnten alle was haben. Das ist natürlich nicht so eine einfache Rechnung, aber es ist ja tatsächlich so, dass von dem was produziert wird alle satt werden könnten.

Wir würden an dieser Stelle schon einhaken und sagen, nur weil ich aufhöre Fleisch zu essen, führt das noch lange nicht dazu, dass in anderen Weltgegenden andere Menschen dann mehr zu essen hätten, sondern es ist leider viel komplizierter.

Da stimme ich euch zu. Ich meinte auch nicht, dass sich für andere Menschen direkt etwas ändert, wenn ich kein Fleisch mehr esse. Sondern dadurch, dass man beispielsweise darauf drängt, dass bestimmte Getreidesorten nicht mehr als Tierfutter verwendet werden, die dann als Nahrung für Menschen fehlen. Und das ist dann eben eins von sehr vielen Details.

Wir schreiben in dieser Ausgabe ja vor allem über Ökologie und die Klimakrise. Beschäftigt ihr euch viel mit der Klimabewegung und Fridays for Future?

Auf organisatorischer Ebene natürlich, ja. Wir versuchen alle so viel wie möglich zu machen, was wir für richtig halten und wenn wir auf Tour sind, regionales Fleisch zu essen, möglichst nicht zu fliegen, unnötigen Müll zu vermeiden, keine Nestle- oder Coca Cola-Produkte auf dem Rider zu haben, etc. Aber in unserer Kunst noch nicht. Wir haben auch noch nicht überlegt, ob wir ein „Klimawandelsong“ oder so schreiben. Auf persönlicher Ebene versuche ich definitiv so wenig Schmutz wie möglich zu machen, so wenig wie möglich zu fliegen, so wenig wie möglich zu besitzen. Aber klar, wir fahren auf Tour halt mit 5 Trucks rum und das ist rational dann auch manchmal schwer unter einen Hut zu kriegen.

Das auf persönlicher Ebene zu machen, ändert irgendwo etwas, ist klar. Als Band könnt ihr zudem viele Menschen sensibilisieren und habt eine Vorbildfunktion. Aber wir beschäftigen uns gerade viel mit der Frage, ob das wirklich der Weg ist, dass wir als Einzelne unser Leben anders gestalten, oder ob sich nicht vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene Dinge verändern müssen?

Das ist für mich überhaupt keine Entweder-Oder-Frage. Beides ist extrem wichtig und muss gleichzeitig passieren.