Du hast von Adorno lediglich den Wikipedia-Artikel zur „Dialektik der Aufklärung“ gelesen? Dann legst Du diese Zeitung am besten sofort wieder weg!
Klingt bescheuert? Ist es auch – und natürlich nicht unser Ernst. Tatsächlich gibt es aber ein verbreitetes Gefühl, dass bei bestimmten Fragen nicht mitreden darf oder Vieles niemals begreifen wird, wer bestimmte theoretische Grundlagen nicht mitbringt. Daran ist nicht alles falsch – man muss mehr und Anderes lesen als Facebook, wenn man wirklich verstehen will, warum diese Gesellschaft katastrophal falsch eingerichtet ist. Und, noch viel komplizierter, wie sie sich vernünftiger einrichten ließe. Meistens aber ist das Gefühl fehl am Platz und hindert Leute daran, sich kritisch mit Gesellschaft auseinanderzusetzen und damit auch daran, politisch aktiv zu werden.
I‘m new here: Gesellschaft als Buch mit sieben Siegeln
Nun ist es leider so, dass es gesellschaftskritische Fragen und Antwortversuche kaum in den Lehrplan der Schule schaffen. Und selbst wer ein geisteswissenschaftliches Studium anfangen ‚darf‘, kommt heute easy drumrum, sich kritisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Wer dennoch ein Interesse daran entwickelt, etwa durch das Jugendzentrum im Ort oder einen Burn-Out beim Lohnarbeiten, steht zunächst allein vor einem unübersichtlichen Berg von meist sperrigen Texten.
Wo also anfangen? Was soll ich denn konkret lesen? Darauf gibt es keine einfache Antwort: Dass man selbst entscheidet, was man wann liest und was nicht, ob Originalversion oder lieber erstmal nur den Wikipedia-Artikel, ist grade der Unterschied zwischen selbstbestimmtem Lernen und der hohlen bürgerlichen Schulbildung, die sagt: Schiller muss man gelesen haben, Schernikau nicht. Es gibt außerdem unterschiedliche Wege, sich Wissen zu erschließen. Und wer keine Übung darin hat, wird ziemlich schnell frustriert sein, wenn sie/er sich auf irgendeine Empfehlung hin kurzerhand die drei Bände von Karl Marx‘ Kapital bestellt, um sich allein und ohne Plan an die Lektüre zu machen.
Zu viele Leute geben nach solchen Erfahrungen den Versuch auf, sich Theorie anzueignen, weil sie glauben, „zu blöd“ dafür zu sein. Dabei lässt sich dieses Missverständnis leicht auflösen. Die vermeintlich so viel klügeren anderen haben ihr Wissen und die Fähigkeit, sich komplexe Inhalte anzueignen, schließlich auch nur schrittweise, durch Sekundärliteratur und mit Hilfe anderer erlangt.
Kollektives Schleifen an den Waffen der Kritik
Wichtig ist, sich von Anfang an mit anderen zusammenzutun, die im Idealfall bereits etwas Peil haben und zum Beispiel eine Lesegruppe zu gründen. In der kann man Verständnisfragen gemeinsam klären und den jeweiligen Text kritisch zu vorhandenem Wissen in Bezug setzen. Für Leute, die sowas zum ersten Mal mitmachen, ist es wichtig, selbstbewusst auch vermeintlich „dumme Fragen“ zu stellen, anstatt schüchtern zu nicken, obwohl man gerade nicht mitkommt. Das setzt umgekehrt voraus, dass erfahrene Theorie-Leser*innen keine Schmocks sind und ihr Wissen teilen, so gut sie können und ohne damit anzugeben.
Selbst wer so gar nicht auf stundenlanges Lesen steht und im hinterletzten Kaff lebt, kann im 21. Jahrhundert easy Vorträge oder Podcasts zu politischen Themen hören. Selbstorganisierte Workshops bei Festivals, Sommercamps oder kritische Einführungswochen können ebenso Startpunkte sein wie Strukturen außerhalb von Schule und Uni (siehe unten Weiterhören und -diskutieren).
Es lohnt sich jedenfalls, gesellschaftskritische Texte durchzuackern, obwohl man Teile davon zunächst nicht versteht. Wenn man trotzdem dran bleibt bzw. sich wie beschrieben Unterstützung holt, lichtet sich nach und nach der Nebel und man gewinnt ein besseres Verständnis der eigenen Situation in der Gesellschaft. Und nur dadurch kann man sich auf Dauer von den Meinungen anderer unabhängig machen und eine selbstbestimmte politische Haltung entwickeln.
Zum Weiterlesen:
Wir empfehlen allen, die sich für Gesellschafts-Kritik interessieren, aber glauben wenig oder keine Vorkenntnisse zu haben, folgende Einführungen aus der Reihe theorie.org, alle für ca. 10 Euro zu haben:
– Feministische Theorie (204 Seiten)
– Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung in „Das Kapital“ von Karl Marx (240 S.)
– Kritik des Nationalismus (214 S.)
– Kritische Theorie (240 S.)
– Materialistische Staatskritik (200 S.
Zum Weiterdiskutieren:
– Rote Ruhr Uni: www.rote-ruhr-uni.com
– Linke Buchtage: www.linkebuchtage.de
Zum Weiterhören:
– Feminismus aufs Ohr: Aktuelle Debatten aus feministischer Perspektive: http://www.lila-podcast.de
– Zündfunk Generator: http://www.br.de/mediathek/podcast/zuendfunk-generator/478
– Freie Radios: https://www.freie-radios.net/
– Radio FSK: https://www.fsk-hh.orgh
– Radio Corax: https://radiocorax.de/
– Youtube-Channel: The Nokturnal Times