Die Freiheit, die sie meinen

Über den Struggle, Bündnisse mit Liberalen bilden zu müssen, obwohl sie eigentlich Teil der Gesamtscheiße sind

In dieser Ausgabe geht es oft darum, wie viel Macht die Rechtsradikalen in letzter Zeit gewonnen haben. Gleichzeitig könnte man aber denken: Viele finden Nazis doch eher scheiße. Die Medien sind, auch wenn sie mal Positionen der AfD oder FPÖ übernehmen, meistens gegen Rassismus eingestellt. Und wer hat nicht schon mal Böhmermann gefeiert oder sich über Merkel gefreut, wenn sie rassistischen Diskussionen entgegnete, sie sehe Menschen nicht an, welchen Pass sie hätten. In den USA gab es vor ein paar Jahren den ersten schwarzen Präsidenten und wenigstens ist nicht Seehofer Bundeskanzler. Sogar die Homo-Ehe gibt‘s jetzt. Im Großen und Ganzen läuft’s doch, solange die Mehrheit liberal statt autoritär, bürgerlich statt faschistisch drauf ist.

Und da kommen wir und sagen: Ne, das sind die anderen Falschen. Wir finden nämlich, dass die liberalen Mainstream-Bürgerlichen – und damit meinen wir auch die Grünen, den linken Flügel der SPD und viele, die irgendwie allgemein für Menschenrechte und Humanismus sind – keine verlässlichen Verbündeten gegen den zunehmenden Faschismus sind. Das sagen wir nicht einfach so, weil wir die radikalsten auf’m Platz sein wollen, sondern aus historischer Erfahrung – und weil liberale Vorstellungen oftmals gar nicht so weit von denen der Rechten entfernt sind. Das ist nicht zufällig so, teilen sie doch ordentlich viele Gewissheiten.

Liberalalalala: Alles halb so wild?

Was meinen wir überhaupt, wenn wir von „Liberalismus“ oder den „Bürgerlichen“ schreiben? Ihr kennt die Story vielleicht aus dem Geschichtsunterricht: In Europa herrschte der Adel und dann kamen die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen, die für Gleichheit und Freiheit kämpften. Heute hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass alle Menschen gleich viel wert sind und die gleichen Rechte haben.

Klingt erst mal nicht schlecht. Aber wahrscheinlich habt ihr euch auch schon gedacht: „Hä, Moment mal! Frauen sind immer noch krassem Sexismus ausgesetzt, dagegen hilft ja auch kein formales Gleichstellungsgesetz! Rassismus wird vielleicht öffentlich angeprangert, rassistische Polizeigewalt aber trotzdem vertuscht!“ – und so weiter…

Stimmt. Die Erzählung von Aufklärung und Freiheit ist eben nur eine Erzählung, die von Ideen handelt. Die Realität ist viel komplizierter. Was „Freiheit“ und „Gleichheit“ bedeuten wird nicht durch ein paar Philosophen-Dudes festgelegt, dann von irgendwelchen Herrschenden umgesetzt und von anderen Menschen verinnerlicht. Tatsächlich vermischen sich diese Ideale mit wirtschaftlichen Interessen ganz unterschiedlicher Akteur*innen. Die Worte „Freiheit“ und „Gleichheit“ können ganz unterschiedliche Dinge bedeuten und sich zum Beispiel nur auf die Personengruppen beschränken, die es „wert“ sind. Vor 200 Jahren wurde z.B. für Gleichheit gekämpft, ein Frauenwahlrecht stand aber nicht auf dem Programm, weil es nicht in den Begriff der Gleichheit eingeschlossen war. So kann auch heute noch unter dem Label der schönen Ideen die Ungleichheit fortgesetzt werden.

Liberale Barbarei

Liberale Grundwerte sind also nicht besonders klar bestimmt. Trotzdem sind wir der Meinung, dass sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und dem Kapitalismus einen festen Bedeutungskern haben: Freiheit heißt für einen wachsenden Teil der Weltbevölkerung, nicht zu einer bestimmten Arbeit gezwungen zu werden und stattdessen die Lohnarbeit „frei“ wählen zu können. Trotzdem müssen aber alle Menschen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, ihre Arbeitskraft irgendwie verkaufen – sonst würden sie verhungern. Diese Art von Freiheit ist in erster Linie die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie man an der allgemeinen Konkurrenz von Menschen und Unternehmen teilnehmen möchte, aber nicht ob überhaupt.

Dem Markt passen darüber hinaus auch Forderungen nach Integration von Gruppen, die bisher nicht so dolle in der Wirtschaft mitmischen konnten, ganz gut ins Konzept. Es ist nämlich dann egal, wie Du aussiehst oder welchem Geschlecht Du Dich zugehörig fühlst, wenn Du ordentlich was beizutragen hast mit Deiner Arbeitskraft. Damit wird ein weiteres der Versprechen des Liberalismus umgesetzt: Gleichheit. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen gleich viel am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben können, sondern bloß, dass sie alle rechtlich gleichgestellt sind. Zum Beispiel dürfen Frauen und Männer aufgrund ihres Geschlechtes nicht unterschiedlich behandelt werden; in der Realität jedoch sieht das ein wenig anders aus: Die Frau hat schlechtere Chancen, den Job zu bekommen oder befördert zu werden, denn sie könnte ja schwanger werden und ausfallen. Genau genommen gilt auch das schon nicht für alle, sondern eben nur für die Staatsbürger*innen eines Landes. Und es ändert überhaupt nichts daran, wie ungleich Ressourcen und Kapital verteilt sind.

Ihr seht vielleicht schon, worauf wir hinauswollen. Natürlich gibt es viele liberale Errungenschaften, die hart erkämpft werden mussten. Aber viele Liberale denken gar nicht daran, am Zwang für Geld zu arbeiten und an der wirtschaftlichen Ungleichheit der Menschen etwas zu ändern. Darin sind sich nationalistische Rassist*innen und bürgerliche Liberale tatsächlich gar nicht so unähnlich. Die einen träumen vom starken Volk und plappern von ausländischen Mächten, die „unsere“ nationale Souveränität untergraben und von „kulturzersetzenden Ausländern“. Die anderen beschränken ihre Solidarität auf deutsche Staatsbürger*innen und wollen, dass Deutschland als Wirtschaftsstandort erfolgreich in der Konkurrenz gegen andere Staaten abschneidet. Dass letztere dann ersteren immer wieder mal ablehnend gegenüberstehen, macht trotzdem Sinn: Damit die Wirtschaft brummt, ist es heute wichtig, offen für ausländische Arbeitskräfte zu sein und gewinnbringend mit anderen Staaten zu handeln. Nazimobs, die unliebsame Menschen jagen und sogar umbringen, passen da nicht gut ins Bild. Nach rassistischen Ausschreitungen hört man dann auch von allen Seiten, dass die Rechtsradikalen dem Ruf Deutschlands schadeten. Auch wenn Rassismus vielen aus dem Regierungspersonal wirklich nicht in ihre liberale Ideenwelt passt, scheint es oft, als wären sie weniger besorgt um die Pogromstimmung als um den Imageschaden, der ökonomische Folgen haben könnte.

AfD und FPÖ vertreten natürlich rassistische und nationalistische Positionen: da sind sie aber nicht die einzigen. Die anderen Parteien teilen solche Einstellungen, wenn auch durchaus in abgeschwächter Form und setzen dies mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts, Abschiebungen und institutionellem Rassismus praktisch in die Tat um.

Die bürgerliche Ideologie betrachtet Menschen immer unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Und das merken wir in allen Bereichen, in denen der Staat was zu sagen hat. Die Schule ist darauf ausgerichtet, produktive Bürger*innen zu erziehen. Wenn überhaupt, geht es nur in zweiter Linie um das Interesse der Einzelnen, etwas zu lernen. Für wen es am Arbeitsmarkt keinen Bedarf gibt oder wer einfach keine Lust zu arbeiten hat, wird gerade mal mit dem Minimum zum Leben versorgt und ansonsten vom Jobcenter gestresst.
Rechtsradikale treiben diese Nützlichkeitslogik auf die Spitze. Etwas wert ist ihnen nur, wer zur Nation gehört und sich produktiv für sie einsetzt. Schwache, Obdachlose, Menschen, die anders leben wollen: Sie alle werden als Volksschädlinge verachtet und sollen vernichtet werden.

Aber: Geht es den vielen Menschen, darunter auch Politiker*innen vieler Parteien, tatsächlich nur um Nützlichkeit? Selbst wenn sie mit „bunt-statt-braun“-Plakaten gegen Rechts demonstrieren? Tatsächlich geht es denen wohl auch um Humanismus und Schutz von Minderheiten. Gleichzeitig wollen sie aber nicht an den Grundlagen für die ständige Konkurrenz aller gegen alle rütteln. Oder daran, dass Menschen nach ihrer Nützlichkeit für das System in der Schule, vom Jobcenter oder auf dem Arbeitsmarkt sortiert werden. Diese Grundlagen sind es, die Menschen alltäglich gegeneinander ausspielen und ein wirklich freies Leben unmöglich machen. Wir wollen tatsächliche Freiheit, die es jeder erlaubt, so zu leben, wie sie möchte, ohne vor der Wahl zu stehen: Unterwerfe ich mich der Konkurrenz oder lebe ich in Armut? Die Weigerung, diese grundlegenden Strukturen zu verändern, macht bürgerliche Liberale zu unzuverlässigen Verbündeten gegen Rechts. Und das gilt umso mehr, als sie diese Grundlagen auch noch verteidigen wollen. Denn damit sind sie dann selbst nicht mehr weit entfernt vom Nationalismus der Rechtsradikalen.

Zum Weiterlesen:
Neues Deutschland: Lieber frei als liberal.
https://www.neues-deutschland.de/amp/artikel/1101208.liberalismus-lieber-frei-als-liberal.amp.html

Axel Rüdiger: Freiheit statt Kapitalismus.
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/freiheit-statt-kapitalismus-zur-aktuellen-dialektik-des-liberalismus

jour fixe initiative berlin: Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft, 2000, 16 Euro.

Volker Weiß: Zustand mit Lücke. Ein Bericht zu aktuellen Debatten der Faschismusforschung, https://phase-zwei.org/hefte/artikel/zustand-mit-luecke-642