Warum „Klasse“ nicht nur mit dem Geldbeutel zu tun hat, sondern auch eine spürbare Erfahrung ist
Wenn Du in Bayern nach der Grundschule einen schlechteren Notendurchschnitt als 2,3 hast, dann darfst Du nicht auf’s Gymnasium gehen. Eigentlich. Im konkreten Fall einer der Autor_innen dieser Zeilen war das aber anders: Trotz eines viel schlechteren Durchschnitts wurde sie sogar vom Lehrer auf das vielversprechende humanistisch-musikalische Gymnasium empfohlen. Klavierspielen, Hesse lesen und im Chor singen, und das nur, weil ihre Eltern aus der Mittelschicht kamen und der Lehrer dachte: „Aus der wird nochmal was.“ Völlig smooth ging sie also auf die Schule, die sie auf das fast notwendig folgende Studium vorbereitete. Und das stand auch nie zur Debatte. „Klasse“ wurde für sie insofern spürbar, als ihre beste Freundin mit dem gleichen Durchschnitt, aber den anderen elterlichen Berufen, auf eine andere Schule kam. Vielleicht fand die das gar nicht seltsam und dachte selber, sie sei „eher so der Typ fürs Praktische“. All das hieß auch: kein gemeinsames Nintendo-64-Zocken nach der Schule mehr, keine zusammen mit feuchten Händen gekritzelten Liebesbriefe, die Freundschaft zerbrach.
Wenn wir von „Klasse“ reden, dann meinen wir damit erst einmal etwas ziemlich Konkretes: Im Kapitalismus, das werden wir ja nicht müde zu erzählen, gibt es nunmal diejenigen, denen die Produktionsmittel gehören – also die Fabriken und alles, was es braucht, um Waren herzustellen – und diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Die also, ob sie es wollen oder nicht, tagtäglich arbeiten gehen müssen, um über die Runden zu kommen. Das sind die meisten von uns. Innerhalb dessen gibt es natürlich noch Abstufungen: Es gibt (Schein-)Selbstständige, Beamte und Kleinunternehmer_innen. Es gibt Leute mit Abi, die in den gleichen Firmen wie Leute mit Hauptschulabschluss arbeiten, und Festangestellte treffen dort auf Leih- und Zeitarbeiter_innen – und verdienen für die gleiche Arbeit unterschiedliches Geld #dankespd. Auch wenn die Unterscheidung zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden von Produktionsmitteln das grundlegende Prinzip dieser Gesellschaft ist, äußert sich „Klasse“ also feiner und differenzierter. Es geht nicht nur darum, wie viel jemand besitzt, sondern auch um Gruppenzugehörigkeiten, Schul- und Uniabschlüsse, Kultur, Beziehungen und Kontakte, die einem das Leben und Arbeiten erleichtern.
She works hard for the money
Klasse ist deswegen auch etwas, was wir immer wieder erleben und spüren. Das Gefühl von Unsicherheit, wenn man in einem Theater oder einer Oper landet und die Umgangsformen nicht versteht. Das Gefühl von Sicherheit, wenn man weiß, dass man später von den Eltern ein Haus erben wird. Das Fehl-am-Platz-Fühlen an der Uni, wenn man als Erste in der Familie studiert und ständig Angst hat, als „Proletin“ aufzufliegen – als würde einem jemand irgendwie auf die Schliche kommen.
Klasse ist aber auch etwas, das wir durch unser Handeln im Alltag festigen. Man grenzt sich durch verschiedenste Aspekte voneinander ab: Welche Marken trage ich, wie viele und welche Bücher stehen bei mir zu Hause, trinke ich eher teuren Rotwein oder doch das Billigbier vor dem Kiosk? Unsere Lebensstile, Geschmäcker, Verhaltensregeln, unser Humor – wie jemand spricht, tanzt, lacht, liest, all das hat mit Klasse zu tun. Am sichtbarsten wird das, wenn sich über die „Prolls“ lustig gemacht wird, wenn das „Unterschichtsfernsehen“ Mandys und Kevins abgefuckten Alltag zeigt – und zwar nicht, um auf diese abgefuckte Gesellschaft zu verweisen, die immer wieder notwendigerweise Armut und Verzweiflung produziert, sondern damit die Zuschauerin sich eben noch einen Tacken besser fühlen kann als die Abgehängten, die zu Hause rumhängen und fernsehen. Das zeigt sich aber auch bei Schulmotto-Wochen, wenn Abiturient_innen beim „Assi-Tag“ alle in Jogginghosen und mit Plastiktüten rumlaufen.
Diese Haltung heißt „Klassismus“, also Vorurteile aufgrund der sozialen Stellung, die sich vor allem gegen Arme, Prekäre und Arbeitslose richten. Meistens ist das Ganze noch mit einer gehörigen Portion Rassismus vermengt, bei der „die Unterschichten“ dann als migrantisch dargestellt werden. Und auch in linken Kreisen zeigt sich Klassismus: Wenn es den einen schwer fällt, lange und schwierige Texte zu lesen, weil sie nie die Ruhe hatten, das zu Hause zu machen. Und gleichzeitig ist das Lesen und Schreiben von Texten voller Fremdwörter eine Voraussetzung für die Arbeit in einer Politgruppe. Oder wenn alle die neuesten Sneaker haben oder einfach so auf das teure Techno-Festival fahren können – und die anderen deswegen irgendwie rausfallen. Oder wenn es den einen leicht fällt, auf den Job, die Uni oder das Stipendium zu scheißen, weil sie im Zweifelsfall von den Eltern finanziell aufgefangen werden – und die anderen ackern gehen müssen und dafür noch als „bürgerliche Spießer“ dargestellt werden.
Arm, aber nicht sexy
Linke Kapitalismuskritik wird häufig als Ablehnung von Reichtum ausgedrückt. Das ist aber ein falscher Ansatz, denn erst einmal ist es doch gut, wenn Leute die Sachen haben, auf die sie Lust haben. In der Welt, für die wir streiten, wäre das zumindest so. Das Abfeiern von Armut in manchen linken Kreisen verdeckt überdies noch, dass es einen Unterschied macht, ob Du Second-Hand-Klamotten trägst, weil Du sie schön findest oder weil Du Dir nichts anderes leisten kannst. Das zu verdecken erschwert eine ehrliche Debatte über Ungleichheiten.
Wie damit umgehen? Wenn es um andere Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft geht, dann wird oft empfohlen, die „eigenen Privilegien“ zu checken. Sich zum Beispiel zu fragen, wie männliches Verhalten auf andere wirkt und auch dominante Redestrukturen zu hinterfragen. Über „Klasse“ wird wenig gesprochen – die Frage, wie viel man eigentlich verdient oder mal erben wird, ist häufig tabu. Sicherlich ist es sinnvoll, das mal auf den Tisch zu packen. Auch, damit man gemeinsame solidarische Strukturen aufbauen kann, bei der zum Beispiel nicht alle in einer Reisegruppe das Gleiche zahlen, sondern es nach Bedarf und Geldbeutel geht.
Und weil Klasse eben auch in unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln eingeschrieben ist, können wir konkrete Erfahrungen und Äußerungen von Leuten in den Blick nehmen und auch als Ausdruck ihrer Klassenstellung verstehen und hinterfragen. Aber gleichzeitig ist Klasse, siehe oben, halt nicht nur in unseren Köpfen. Der Kapitalismus ist eben eine „Klassengesellschaft“ und in der wird es notwendigerweise immer auch Gewinner und Verlierer geben. Es ist ein Mythos zu glauben, dass alle studieren gehen könnten, denn es muss in der abgefuckten Logik dieses Systems auch die geben, die für wenig oder gar keine Kohle putzen, ernten, Popos abwischen. Es ist also keine Phrase sondern Realität, wenn diese Klassengesellschaft abgeschafft werden muss, als Bedingung dafür, dass niemand mehr sich schämt. Es geht daher nicht um das „Aufwerten“ unterschiedlicher Lebensweisen – obwohl es stimmt, dass der Opernbesuch um keinen Deut geiler ist als das letzte Haftbefehl-Konzert. Aber wichtiger als das Aufwerten ist das Abschaffen der Verhältnisse, die dazu führen, dass manche nichts haben und andere alles. Gemeinsam entscheiden, was und wie produziert wird, ob nun bei Beethoven oder bei Youtube-Stars – dit wäre stattdessen wirklich klasse.
Zum Weiterlesen:
– Andreas Kemper/Heike Weinbach: Klassismus, Eine Einführung, 13 Euro.
– Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, 18 Euro.
– Gruppen gegen Kapital und Nation: Kapitalismuskritik-Broschüre, S. 98-122, https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus