Gefühle gehören rein in die Politik, Gefühle gehören raus aus der Politik
„Du weißt doch gar nicht, wie sich das anfühlt!“: Das ist ein Satz, den man in persönlichen wie auch in politischen Diskussionen manchmal zu hören bekommt. Wenn frau versucht, einem männlichen Freund zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn ihr auf der Straße hinterher gepfiffen, sie angestarrt oder angegrabscht wird. Dass das nicht nur nervig ist, sondern unter Umständen den ganzen Tag Gefühle von Unsicherheit, Scham, Angst oder auch unbändiger Wut mit sich bringen kann. Oder wenn eine deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund versucht ihren kartoffeligen Freunden zu beschreiben, warum der Satz „Wo kommst du denn eigentlich her?“ nicht nur dumm ist gegenüber einer, die in Bielefeld geboren wurde, sondern sich immer wieder nach Ausschluss anfühlt, nach Fremdgemachtwerden und nach Bedrohung. Und nein, niemand weiß wirklich, wie sich etwas für einen anderen Menschen anfühlt. Das stellt uns als Kritiker_innen der Gesellschaft vor Schwierigkeiten, denn aus ihren emotionalen Erfahrungen ziehen ziemlich viele Leute politische Schlüsse.
Tränen können Lügen sein
So ignorieren viele, die sich etwa nicht gegen Transfeindlichkeit oder Rassismus wehren müssen, dass andere tagtäglich darunter leiden. Anstatt sich mit jenen zu solidarisieren, denen das anstrengende Leben in der falschen Gesellschaft auch noch durch Vorurteile oder strukturelle Ausgrenzung schwer gemacht wird, lassen sich viele in ihren politischen Entscheidungen von eigener Angst oder Ohnmacht leiten. Auch diese beruhen auf der alltäglichen Erfahrung, dass man die eigenen Lebensumstände kaum beeinflussen kann. Dieses Grundgefühl machen sich die Hetzer_innen von AfD & Co. zunutze und erzielten so zuletzt erschreckende Wahlerfolge. Seither behaupten viele, man müsse „die Gefühle der besorgten Bürger ernst nehmen“, so als würde der Einfluss rechter Arschlöcher kleiner, wenn man ihre menschenfeindlichen Positionen übernimmt. Tatsächlich ist es notwendig, die Gefühle der AfD-Wähler_innen zu verstehen: als fehlgeleiteten Protest gegen Politiker_innen etablierter Parteien, deren Entscheidungen sie sich machtlos ausgeliefert sehen. Oder als Ventil für die Wut über die eigene Bedeutungslosigkeit, die fälschlicherweise auf Frauen, ‚Ausländer’ oder Schwule gerichtet wird. Aber Verstehen und Verständnis zeigen sind zwei verschiedene Paar Schuhe: Solcher Hass ist nicht zu entschuldigen. Die Lösung kann nur darin bestehen, die Gesellschaft für alle freundlicher einzurichten.
What it feels like for a girl… do you know?
In linken Kreisen gibt es zwei gegensätzliche Haltungen zum Umgang mit Gefühlen in der Politik. Die erste will diese einfach abschneiden, denn was zählen würde, sei nur das richtige Argument. Und es stimmt ja: Die Analyse der Kapitalzusammensetzung, des aktuellen Imperialismus, oder der Bedeutung von Familienpolitik für den Standort Deutschland ist keine des subjektiven Standpunktes – sie ist richtig oder falsch, egal ob jemand Weißes, Schwules oder Weibliches sie vornimmt. Diese Haltung erkennt zumindest an, dass alle Menschen rationale Wesen sind, die sich die Welt – durch Analyse, Diskussion und Argumentieren – erschließen und sie dann auch ändern können. Nur: Zwänge werden eben auch individuell erlebt. Auf die Idee, dass mit der Gesellschaft, in der wir leben, etwas nicht stimmt, kommen wir meist nicht über den richtigen Text, sondern über unsere Erfahrung: Wir bekommen mit, dass wir oder andere z.B. wegen ihres Geschlechts, ihres Körpers, ihrer sozialen oder (vermeintlich) nichtdeutschen Herkunft Ausschluss erfahren oder Gewalt ausgesetzt sind. Um zu verstehen, wie Rassismus wirkt, ist es deswegen sinnvoll, sich als Weiße_r die Erfahrungen von Migrant_innen oder People of Color anzuhören.
Die zweite Haltung in linken Kreisen behauptet das Gegenteil: Nur über unsere Gefühle und Erfahrungen können wir Politik machen. Die Einen meinen damit ganz hippiemäßig, dass wir alle im Kleinen richtig konsumieren und richtig kommunizieren. Das „Fang bei Dir selber an“ bringt nur leider wenig angesichts globaler, historisch entstandener Herrschaftsstrukturen, die man nur gemeinsam abschaffen kann. Die Anderen kennen diese Strukturen, sagen aber, dass unser gesellschaftlicher Standpunkt – als Frau, als Lesbe, als Migrantin… – Ausgangspunkt für Veränderung sein muss. In dieser Form von „Identitätspolitik“ liegt auch was Richtiges: Die Welt verändern will man doch nicht nur für die anderen – Robbenbabys, „die Arbeiter“, afrikanische Kinder. Sondern auch, weil die meisten von uns unter diesen Verhältnissen leiden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Deswegen ist es ein wichtiger Ausgangspunkt für politisches Handeln, dieses eigene Leiden anzuerkennen und zu markieren. In manchen linken Debatten nimmt das aber absurde Züge an: Wenn etwa behauptet wird, nur Frauen könnten bestimmen, ob etwas sexistisch ist. Oder nur Schwarze sollten Dreadlocks tragen. Und Weiße keine Tunnel, Tätowierungen oder Iros. Denn die gehörten bestimmten (Widerstands-)Kulturen an und sie sich „anzueignen“, das wäre krass verletzend und würde etwas „triggern“, also Traumata anticken (zur Kritik an diesen starren Konzepten von „Kultur“ siehe auch SaZ Nr. 6: ‚Culture? I’d rather kiss a wookie’). Klar: Wir müssen die besonderen Leidenserfahrungen, die Menschen mit bestimmten Identitäten machen, in die politische Diskussion aufnehmen und nicht nur das knallharte rationale Argument, sondern auch Gefühle und Erfahrungen mit einbeziehen. Aber die Forderung nach Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme kann auch autoritär werden, Menschen aus Debatten ausschließen und eine Solidarisierung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen verhindern. Eine Nachfrage oder einen Einwand mit „Dazu hast du überhaupt nichts zu sagen!“ zu beantworten, ersetzt nicht die Argumentation, warum eine bestimmtes Verhalten problematisch ist. Damit Gefühle konstruktiver in politische Auseinandersetzung eingehen können, müssen sie nachvollziehbar vermittelt und analytisch eingeordnet werden.
Solidarity is a weapon
Das Schwierige daran: Gefühle und Erfahrungen sind nicht einfach „da“, sie sind von der Gesellschaft entlang von Herrschaftsverhältnissen geprägt: Das Gefühl von Scham und Verunsicherung, das Catcalling – sexualisierte Anmachen und „Komplimente“ von Fremden in der Öffentlichkeit – auslösen kann, hat nämlich nicht nur mit der unangenehmen Situation selbst zu tun. Es ist untrennbar von der gesellschaftlich akzeptierten sexistischen Art, wie über weibliche Körper und Sexualität gedacht und gesprochen wird. Wenn eine Frau nach so einem Erlebnis darüber nachdenkt, ob sie lieber doch nicht alleine oder zumindest im längerem Rock die Straße hätte langgehen sollen, prägt die bestehende Unterdrückung die Verarbeitung der Erfahrung und kann Schuldgefühle auslösen. Die Erfahrung kann dazu beitragen, das Erlebte verstehen zu wollen – und damit auch politisch zu begreifen. Es stimmt, der schon klischeehaft so eingeordnete weiße, hetereo cis-Mann ohne Behinderung aus der Mittelklasse hat nicht erlebt, wie es sich anfühlt, nur wegen der Zugehörigkeit zu einer nicht-gewählten Gruppe Gewalt zu erfahren. Er kann aber trotzdem über Erzählungen Anderer das Problem verstehen und eine Perspektive einbringen, die die Diskussion weiterbringt.
Gefühle sind gesellschaftlich geprägt, und gleichzeitig sind sie sehr individuell. Aus den Erfahrungen von jemandem kann man noch nicht ableiten, wie er oder sie diese interpretiert. Es gibt Frauen, die coole Feministinnen sind, und solche, die Abtreibungen verbieten wollen und behaupten, hier wären doch schon längst alle gleichberechtigt. Es gibt rassistische Arschlöcher mit Migrationserfahrung. Es gibt Arbeiter_innen, die den Kapitalismus abfeiern und solche, die ihn abschaffen wollen. Die gefühlte Erfahrung macht eben noch lange nicht klug, sondern erst die interpretierte und analysierte Erfahrung – und dann lässt sich darüber auch reden.
Der Satz „Du weißt doch gar nicht, wie sich das anfühlt“ stimmt also oft, aber ist auch ein Totschlagargument: Er bedeutet nämlich, dass alle, die die jeweiligen gewaltvollen Erfahrungen nicht gemacht haben, an der Diskussion – um Homophobie, Rassismus etc. – nicht teilnehmen können. Eine andere Gesellschaft aber muss unterschiedliche emotionale Erfahrungen ernst nehmen, anerkennen und vermittelbar machen, und sie muss auf kollektivem Handeln auch trotz dieser Unterschiede basieren. Das, das nennt sich dann Solidarität.
Zum Weiterlesen:
– Sue Braun/Janek Niggemann – Die Klasse der Anderen ist eine andere Klasse, https://arranca.org/ausgabe/51/die-klasse-der-anderen-ist-eine-andere-klasse
– Massimo Perinelli: Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende der antirassistischen Bewegung, http://phase-zwei.org/hefte/artikel/triggerwarnung-566/
– Interview mit Vassilos Tsianos, https://jungle.world/artikel/2012/32/die-deutsche-linke-wurde-laengst-migrantisiert
– Bini Adamczak. Beziehungsweise Revolution, 2017, 18,50 Euro.