Argumentationshilfen zu ein paar gewaltigen Protesten
Alle Jahre wieder gibt es sie: Gipfeltreffen, Bundesparteitage oder Naziaufmärsche, die „von gewalttätigen Protesten begleitet” werden, wie es dann so schön in den Nachrichten heißt. So auch in Hamburg im Juli 2017. Zum G20-Gipfel versammelten sich die Merkels, Trumps, Erdogans und weitere Staatsoberhäupter der „wichtigsten Industrie- und Schwellenländer” zwei Tage lang und inszenierten rund um die neu erbaute Elbphilharmonie zu den Klängen von „Freude, schöner Götterfunken” Verhandlungen über die Verwaltung der Welt. Danach rückten vor allem die Bilder teils militanter Gegenproteste in den Fokus der Öffentlichkeit: Abgefackelte Fiat Puntos, brennende Barrikaden und ein geplünderter REWE. Neben den wenigen sachlichen Analysen dieser „Randale” reichte die Bandbreite der Einschätzungen von gruseligen Vergleichen, wie „Es war der Holocaust” (eine Anwohnerin), bis zu eher gelangweilt vorgetragenen Hinweisen, die „Krawalle” seien doch letztlich unpolitisch.
Wer sich an großen linken Protesten einmal selbst beteiligt hat oder auch nur mit diesen sympathisiert, stößt oft auch im eigenen Umfeld auf Unverständnis; sei es bei Eltern, Lehrer_innen oder Freund_innen: „Protest ist ja okay, aber Gewalt nicht. Denkt mal an Gandhi!” Dann ist es nicht immer leicht, die eigene Überzeugung zu verteidigen. Da die nächsten Proteste sicherlich kommen, haben wir ein paar Argumentationshilfen zusammengestellt – denn bei soviel Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Sehnsucht nach was Besserem passen diese nicht nur in eine Ausgabe zum Thema „Gefühle“, sondern bringen vielleicht etwas Sachverstand in die Debatte an Tisch und Theke.
„Ihr seid doch nicht besser als die Nazis – Gewalt ist keine Lösung!“
Es macht einen Unterschied, ob Nazis gezielt Menschen in Geflüchtetenunterkünften angreifen, oder ob Schaufensterscheiben und Autos zerlegt werden: Hier Mensch. Da Mercedes. So einfach ist das. Deswegen ist es ziemlich plemplem, wenn in der allgemeinen Rede von „Gewalt” Körperverletzung und Sachschäden gleichgesetzt werden. Auf welche Formen von Gewalt Leute empört reagieren, hängt aber vor allem davon ab, was in einer Gesellschaft jeweils als Gewalt gilt – und was eben nicht. Wenn Läden zerstört oder Flaschen auf hochgerüstete Robocops geworfen werden, regnet es zuverlässig Schlagzeilen über „gewalttätige Chaoten” oder „bürgerkriegsähnliche Zustände“. Wenn aber täglich Menschen durch die bestehende Eigentumsordnung nicht genug essen können, weil sie kein Geld haben; wenn Menschen unter Anwendung von „Zwangsmitteln” aus ihren Wohnungen geräumt werden, weil die Eigentümer_innen sie dann teurer neuvermieten können; und wenn Menschen – gebilligt oder gezielt unterstützt von den G20-Staaten – im Mittelmeer ertrinken, dann handelt es sich offiziell nicht um Gewalt, sondern um die Durchsetzung von geltendem Recht. Gewalt fängt aber nicht erst dort an, wo Pflastersteine fliegen, um unter ihnen den Sandstrand freizulegen. Die Art und Weise, auf die diese Gesellschaft durch Staat, Nation und Kapital eingerichtet ist, bringt notwendig täglich Gewalt hervor: Wer kann sich die NorthFace-Jacke leisten und wer nicht? Wer darf (und muss) zur Nation gehören und wer muss draußen bleiben? Wer bestimmt über mich und dich, ohne uns – abgesehen von einem lächerlichen Kreuz alle paar Jahre – je gefragt zu haben?
Und abgesehen davon: Nicht jeder gesellschaftliche Fortschritt wurde gewaltfrei erkämpft. Oder glaubt wirklich jemand, die Französische Revolution – bei der jeder Geschichtslehrer feuchte Augen bekommt – wäre eine watteweiche Pandababy-Sitzblockade gewesen?
„Hilfe, meine Mülltonne brennt!”
Es ist fraglich, ob uns brennende Kleinwagen dem Ziel einer befreiten Gesellschaft einen Schritt näher bringen. Vor allem aber ist es weder Tante Berta noch Lehrer Müller zu erklären, was daran jetzt emanzipatorisch sein soll, wenn’s am Straßenrand schön lodert. Sogar lebensgefährlich wird es, wenn Gebäude angezündet werden, in denen sich Menschen befinden. Gleichzeitig aber ist das Ausmaß der Aufregung über ein paar abgebrannte Autos in Hamburg absurd. Waren sie nicht gut versichert, wurden sie später fett entschädigt. Zum Vergleich: Staatliche Entschädigung für die Opfer der zehn NSU-Morde bis Redaktionsschluss: 900.000 Euro. Für verbranntes Blech und Gummi in Hamburg: 40 Millionen Euro.
Abgesehen davon hat es angesichts der Zumutungen und Trostlosigkeit in Schule, Uni, am Arbeitsplatz oder im Jobcenter durchaus etwas Befreiendes, wenn mal etwas „der Punk abgeht“: Einfach in den Laden zu gehen und sich die teure Schoki zu nehmen, die man sich sonst immer verkneift; einfach mal flaschenweise Champagner rauszunehmen, wenn eine_r eben danach ist. Mal kurz zu spüren, wozu die Champagner-Produktion eigentlich da sein sollte: Nicht, um den Pommery möglichst gewinnbringend zu verkaufen, sondern um Menschen, die gerade Champagner trinken wollen, Champagner zu geben.
„In Hamburg hat es keine Polizeigewalt gegeben“
Ob G7, G8 oder G20 – bei internationalen Gipfeltreffen zeigt der Staat regelmäßig Zähne. In Hamburg wurden neben mehr als 31.000 Polizist_innen auch unzählige Wasserwerfer und scharf bewaffnete Sondereinsatzkommandos (SEK) aufgefahren. Das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wurde für den Bereich der Innenstadt großflächig aufgehoben und mögliche Proteste schon im Vorfeld kriminalisiert oder eskaliert. Wenn Tante Berta und Lehrer Müller dann in fester Erwartung sind, dass „Krawallmacher“ (am besten noch „aus dem Ausland“) schwarz vermummt auf Land und Leute losgehen, ist das eine gute Ausgangssituation, um während des Gipfels Proteste bewusst zu eskalieren und Polizeigewalt gegen Demonstrant_innen zu rechtfertigen. Und die, die gab es en masse: Eine Demonstration wurde von Polizist_innen gestürmt, Menschen von Mauern geschubst, Polizist_innen fuhren mit Autos in Menschenmengen, gebrochene Gliedmaßen, reizgastränende Augen, zusammengescheuchte Menschenmassen… All das wurde tausendfach dokumentiert.
„Warum vermummen die sich und stehen nicht offen zu ihrem Protest?“
Eine schwarze Abendgarderobe erhöht nicht nur die Chancen, in Berliner Techno-Clubs zu kommen, sondern erfüllt auch einen taktischen Zweck bei Protesten. Beim vielbeschworenen „Schwarzen Block” handelt es sich nicht um eine feste Gruppe von Demonstrant_innen. Es geht hier um eine Strategie während der Demo: Um nicht so sichtbar auf den Überwachungskameras zu sein oder von speziellen Polizei-Greiftrupps aus der Menge gezogen zu werden. Warum aber sich vermummen, wenn man gar nicht vorhat, was Illegales zu machen? Zum einen, um zum kollektiven Schutz der Protestierenden eine Identifikation einzelner Demonstrant_innen zu erschweren. Zum anderen weil nicht alles, was als „illegal” gilt, falsch ist: Blockaden zur Verhinderung von Abschiebungen, vom Hamburger Hafen oder von Zwangsräumungen sind manchmal sowohl gewaltfreie als auch geeignete Mittel, staatliche Gewalt abzuhalten. Geltendes Recht ist immer eine Frage von politischen Kräfteverhältnissen.
„Aber waren da nicht auch viele Spinner auf der Straße?”
Ganz klar: Nicht alle, die da auf der Straße waren, waren sympathisch. Gruseliger Heroismus von Gruppen, die „die Jugend auf der Straße kämpfen lassen” und für die Revolution ihr „Blut geben” wollen. Antisemitische Darstellungen, die gegen vermeintlich besonders „böse” oder „gierige” Banken und Konzerne mit Papp-Kraken demonstrieren. Trendy Kids, die ihre Selfie-Sammlung nur um eines mit Wasserwerfer oder brennender Barrikade im Hintergrund erweitern wollen. Grölende Typen, die mit Bierflasche in der Hand vor der Polizei mal so richtig den Macker raushängen lassen wollen.
Die (radikale) Linke hatte schon mal bessere Zeiten, is‘ klar. Aber um trotz dieser Schwäche unseren Kampf für etwas Besseres immer wieder sichtbar werden zu lassen, müssen wir ihn auch auf die Straße tragen. Mit all der Wut, all der nötigen Energie und all dem Spaß, der dazu gehört. Und eben auch: Mit all den Widersprüchen, die es auszuhalten und auszuhandeln gilt.
„Wie hast Du diese Hölle eigentlich überstanden?“
Auch wenn der Staat in den Wochen nach militanten Protesten mit den Säbeln rasselte, Gesetze verschärfend die „Ordnung wiederherstellte” und an einigen Protestierenden brutale Strafen als abschreckendes Exempel verhängte, sind wir aus Hamburg nicht nur verängstigt wiedergekommen. Große Proteste haben auch etwas Mutmachendes: Für einige Stunden oder Tage scheint die Stadt denen zu gehören, die ein anderes Leben wollen. So gab es in Hamburg kostenloses Essen und Schlafplätze, Straßenparties und Solidaritätsbekundungen mit denen, die im Gefängnis gelandet sind. Ehrenamtliche „Demo-Sanis” kümmerten sich um die Verletzten und wer sonst auf dem Weg zur Schule oder Arbeit in die U-Bahn drängelt, gab aufmerksam auf andere Acht. Viele Jugendliche haben überhaupt das allererste Mal gespürt, wie es sich anfühlt, mit vielen Leuten auf der Straße zu sein, um etwas zu erreichen – etwa eine Straße zu blockieren, oder gar einen Hafen. Und das Gefühl, das ist viel, viel wert.
Zum Weiterlesen:
– Thomas Ebermann im Interview zu den G20-Protesten in Hamburg, http://www.unland.me/interview/thomas-ebermann/
– TOP B3RLIN „Nicht zynisch werden” in der Jungle World, https://jungle.world/artikel/2017/32/nicht-zynisch-werden
– Rüder Mats „Viel zu dicke Eier“ in konkret, http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2017/heft-82017/articles/viel-zu-dicke-eier.html