Warum wir den libertären Plan 5.0 wollen
87 Prozent aller Rückenoperationen in Deutschland gelten als unnötig. Vor „falschen wirtschaftlichen Anreizen“ warnen deshalb Expert_innen, Operationen würden zu gut bezahlt. Wenn sich das ändert, dürften allerdings notwendige Operationen unterbleiben, weil sie sich „zu wenig lohnen“. Wobei ja auch jetzt schon nicht operiert wird, wenn es kein Geld für die Krankenversicherung gibt. Man kann sich die ratlosen Gesichter der außerirdischen Soziologiestudent_innen vorstellen, die diesen Wahnsinn nach Alpha Centauri berichten müssen. Wie bescheuert muss man sein, Gesundheit über Profit zu organisieren? Daraus folgt, dass nicht die medizinisch sinnvolle Maßnahme durchgeführt wird, sondern die, die sich finanziell lohnt. „Schatz, wie war Dein Tag?“ – „Fein, hab zehnmal sinnlos Rücken operiert!“ Doch das ist keine verrückte Ausnahme, es resultiert direkt aus der Organisation der Bedürfnisse über den Markt. „Wie würdet ihr es denn anders machen?“, wird darauf oft gefragt. Dazu weiter unten mehr. Aber vorher ein paar Bemerkungen zu den drei häufigsten Einwänden, mit denen eine Diskussion über Alternativen abgewürgt wird:
„Niemand würde mehr arbeiten, wenn erst der Zwang des Marktes wegfällt!“
Dieser Satz, der schwer zu widerlegen, aber doch einfach zu hinterfragen ist, findet sich nicht zufällig selten in der Ich-Perspektive: Man selber würde natürlich weiterschuften, aber sonst fast niemand mehr. Dieses Misstrauen gegenüber allen, die Einschätzung, dass außer mir und Mutti alle Arschlöcher sind, taucht nicht zufällig in einer Gesellschaft der permanenten Konkurrenz auf. Wir wissen nicht, wie Menschen arbeiten werden, wenn sie nicht lebenslang die Peitsche des persönlichen Absturzes oder eben anderen Zwang spüren. Doch wenig spricht dafür, dass sich alle nur am Strand tummeln wollen. Wenn Leute etwas haben wollen und zugleich wissen, dass das nicht aus der Wand kommt, werden sie sich einbringen. Aber vor allem: Schon hier sind Leute meist gern mit anderen (oder auch allein) tätig, es muss aber was subjektiv Sinnvolles sein, es muss freiwillig sein, interessant oder anregend und es darf nicht zu sehr belasten. Und wenn das gesellschaftliche Ziel wäre, Arbeit zu vermeiden, sie angenehmer zu machen, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufzuheben und Arbeiten, die niemand machen will, weitgehend zu automatisieren und zugleich rotieren zu lassen, fielen eben schon viele Gründe weg, warum Menschen hier zurecht sagen: Arbeit ist scheiße. Denn auch wir selbst verwenden heutzutage enorme Mogelenergie darauf, um uns vor der Arbeit zu drücken – blau zu machen vom Rumstehen, callcentern oder der Worthülsenproduktion in den Unis. Geht uns bei Arbeit, deren Zweck wir einsehen – zum Beispiel diese Zeitung zu machen – nicht so.
„Im Kommunismus wird nur Schrott produziert, siehe Tschernobyl und Trabi!“
Dies sagen die, die meinen, im Kapitalismus würde sich automatisch das beste Produkt durchsetzen. Doch erstens muss man sich dieses Produkt leisten können. Und zweitens: Voll Lüge. So hat die Stiftung Warentest Blutdruckmessgeräte getestet und zu den Billigen bemerkt: „Für Kranke wird solch ein Schnäppchen schnell zum riskanten Roulette“. Irgendwelche Folgen: None. Die sind weiter auf dem Markt, solange sie jemand kauft. Und weil die meisten wissen, dass ihnen permanent dieser Schrott angedreht werden soll, werden sie wahre Expert_innen in der Produktkunde. Wieviel Zeit hier individuell drauf geht! Und der nervige Kauf des neuen Druckers gilt dabei auch noch als Freizeit. Vernünftig könnte man das so organisieren, dass das, was jetzt die Stiftung Warentest macht, die Produktionsstätten selber testen. In einer vom Markt und dem Regiment der Konkurrenz befreiten Gesellschaft gibt es keinen Grund mehr, Schrott rauszuhauen. Und keine Produkte mit nicht herausnehmbaren Teilen, damit man gleich das Ganze neu braucht, wenn die kaputtgehen. Keine eingebauten Verfallsdaten, keine ausgefeilte Berechnung der Menge von z.B. Zucker, Ammonium, Koffein, damit Produkte süchtig machen. Ach, die Leute haben ja so viele Ideen, wären die nur vernünftig…
„Ich will nicht, dass irgendeine Planungskommission darüber entscheidet, was ich brauche!“
Wir auch nicht. Aber die Vorstellung, dass im Kapitalismus die Leute selbst darüber entscheiden was sie brauchen, ist ein Märchen. Und wenn es doch Mitbestimmung gibt, dann nur, wenn sie zu Konkurrenzvorteilen führt. Auch die Frage, ob eine neue Technik das Leben der Menschen erleichtert, hängt in dieser Gesellschaft immer davon ab, ob sie rentabel ist und nicht davon, ob sie gebraucht wird. Denn auch hier gilt: Leuten, die Geld haben, muss das Nutzen bringen. Und überhaupt gibt es gar keinen Grund, warum in einer vernünftig eingerichteten Wirtschaft eine Kommission darüber entscheiden sollte. Du entscheidest, wer auch sonst? Auch heißt Plan nicht, dass es nur einen Anbieter für ein Gebrauchsgegenstand gibt.
Wir glauben dabei, die Entwicklung von Gebrauchsgegenständen könnte zwei Richtungen nehmen: Die eine heißt Demokratisierung. Zum Beispiel könnte eine enorme Anzahl von Kleidungsdateien zur Verfügung stehen, aus denen man mit Lasercuttern die eigene Garderobe schneidern lassen kann. Kein Copyright stört. Die andere Richtung heißt: Entspannung. Man lässt sich die z.B. 10 beliebtesten Fahrräder anzeigen und wählt aus diesem überschaubaren Angebot aus. Denn für viele stellt es keine Freiheit dar, in den Media Markt zu stolpern und festzustellen, dass die Funktionen der 150 Fernseher sich nicht unterscheiden (soviel zur kapitalistischen Vielfalt!). Für andere: Go for it, wenn es Dir wichtig ist. Auch wenn man nicht prognostizieren soll: Wir glauben, es gäbe erstmal eine enorme Ausweitung der Geschmäcker und Stile, eine Explosion der Individualität nach all dem Marken-Graugrau. Vielleicht würde danach eine Phase einsetzen, in der mehr Leute ihre Zeit mit anderem verbringen.
Und nun…?
Wir können unsere Vorstellungen hier natürlich nur grob skizzieren, aber soviel wissen wir schon: Wir wollen einen libertären Plan 5.0.
Libertär heißt hier: Es geht um die individuelle Freiheit, die Maßgabe der Produktion sind die Bedürfnisse und das gute Leben der Menschen. Wir wollen keine brutale Kommandowirtschaft wie im Realsozialismus und keine brutale Absturzangstwirtschaft wie im Kapitalismus. Es darf keine losgelöste Bürokratie entstehen, die den Zugriff auf die Computerprogramme, die die Pläne organisieren, monopolisieren kann. Alle Verwaltungen, Räte, Plattformen müssen abwählbar sein, Ideen von imperativen Mandaten entwickelt werden, was aber auch heißt: Entscheidungen in Freiheit brauchen vermutlich mehr Zeit. Auch in dieser Weise wäre die neue Gesellschaft also weniger produktiv als die kapitalistische Menschenschinderei und Gehorsamswirtschaft.
Plan heißt: Wir halten eine geplante Wirtschaft, in der nach den Bedürfnissen (und nicht der Kaufkraft) produziert wird, für sinnvoll. Bei dem Wort „Plan“ jaulen viele auf. Aber auch in der jetzigen Gesellschaft wird schon heftig geplant, auf der Ebene von Unternehmen und Staaten sowieso. Aber auch täglich wird geplant, was man so braucht und Leute verhungern nicht, weil sie wieder nur Quatsch im Supermarkt gekauft haben, sondern weil sie sich Essen nicht leisten können. Diese Planung findet aber unter Klassen- und Konkurrenzbedingungen statt, so dass das quasi ein beschädigter Plan ist. In unserer Planwirtschaft müssten hingegen die Produktionsmittel kollektiv verwaltet werden und verhindert werden, dass Gruppen zu Erpressungsmitteln kommen, um sich die Arbeitskraft anderer anzueignen.
5.0 heißt, auch wenn das natürlich ein blöder Marketingbegriff ist, dass wir das auf der Basis der heutigen technischen Möglichkeiten machen wollen. Wir wollen kein Dahinkrebsen in autarken Versorgergemeinschaften, denn mit dem jetzigen technischen Stand lässt sich das erste und dringendste Ziel, dass niemand mehr hungern muss, schneller erreichen. Nicht, dass nicht früher Menschen auch schon vernünftig zusammenleben hätten können, aber scheint uns doch der Fakt, dass heute die satellitengestützte Aussaat durch autonome Roboter möglich ist oder Fabriken, die keine Menschen mehr brauchen, das jetzt praktikabel zu machen. Ein Roboterkommunismus wird es nicht gleich werden. Es wird noch lange viel Arbeit geben, gerade, weil erstmal Hunger und Wohnungsnot Geschichte werden müssen. Weil viele neue Arbeit zum Beispiel in der endlich menschlichen Betreuung von Kranken, Alten und Kindern entstehen wird. Und weil wir noch nicht wissen, wie viele Menschen sich richtig reinhängen werden, wenn es keinen Arbeitszwang mehr gibt. Aber soviel wie in der heutigen Welt, in der sogar die Freizeit Arbeit ist, sicher nicht. Ein vorsichtiges, zaghaftes Ende, aber nur das scheint uns für diesen Artikel angebracht.
Zum Weiterlesen:
- Eine ausführliche Literaturliste zum Thema, wird laufend aktualisiert (d.h. falls Du findest, hier fehlt was, bitte Mail an saz@riseup.net): Klick!
- Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, 1969, antiquarisch billig zu kriegen.
- Phase 2 Ausgabe Nummer 36 zu Kommunismus
- Dietmar Dath: Klassenkampf im Dunkeln, 2014, 15 Euro.
- Simon Sutterlütti im Gespräch mit Christopher Wimmer/Jungle World über den Aufbau neuer gesellschaftlicher Formen ins Zentrum einer Theorie der Transformation rücken.