Liebe und Beziehungen in der befreiten Gesellschaft
Eine große Hoffnung, die eine auf Bedürfnisse ausgerichtete, von Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung befreite Gesellschaft bietet, ist, dass in ihr Grenzen verschwimmen und verschwinden. Dass der Zwang entfällt, sich zu entscheiden oder gar andere über sich entscheiden zu lassen: Bist Du männlich oder weiblich? Schwul oder hetero? Heirat? Kinder? Zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Familie und Gesellschaft, zwischen begehren und begehrt werden, Freiheit und Bindung.
Man kann jetzt einwenden: Ein gebrochenes Herz wird trotzdem immer noch weh tun. Und noch immer wird die Zahl der Menschen, mit denen man enge und wichtige Beziehungen ein- gehen kann, durch Zeit und Raum begrenzt sein. Und dass das alles wenig zu tun hat mit dem herrschenden gesellschaftlichen System. Stimmt. Aber wollen wir nicht umso mehr unsere Zeit frei von Konkurrenz, Unterdrückung und Ausbeutung verbringen, die so viele weitere unnötige Grenzen, Zwänge und Leid schaffen?
Love is a battlefield
Niemand kann sagen, wie wir in der befreiten Gesellschaft lieben und Beziehungen führen werden. So wie es heute tausend Arten gibt, an den herrschenden Zwängen und Normen zu lei-den, so wird es hoffentlich eines Tages tausend Arten geben in glücklichen Beziehungen zu sein, ohne dafür angefeindet zu werden. In Umrissen sind diese vielen Arten von Glück schon erkennbar; es kann eine Frau* heute eine andere Frau* lieben und dabei von der Mehrheit ihres Umfelds akzeptiert sein, oder ein Mann* einen Mann*, und beide können an manchen Orten auch Kinder haben. Nur existieren diese Möglichkeiten in der bestehenden Gesellschaft strikt nebeneinander, jede_r muss sich für eine entscheiden, und wird immer Unverständnis und Hass erfahren von Menschen, die nach anderen Regeln und in anderen Gemeinschaften leben – und wehe, eine_r möchte die Schublade wechseln oder passt gar in keins der Modelle!
Selbst an den wenigen Orten, wo schon heute eine relativ große Vielfalt an Lebensweisen möglich ist, müssen die lästigen Sachen, die in Beziehungen passieren, dringend umverteilt werden, angefangen bei der Hausarbeit, über die Versorgung von Kindern bis hin zur Verhandlung von Eifersucht und Angst. Und wo immer die materielle Sicherheit durch die unvermeidlichen Krisen der kapitalistischen Verwertung oder durch die damit verbundene Gewalt bedroht ist, sind zugleich alle bedroht, deren Lebensweise nicht dem einzigen schon immer akzeptierten (weil der reibungslosen Reproduktion der Gesellschaft dienlichen) Modell entspricht: Vater-Mutter-Kind.
I wanna know what love is
Zum Glück gibt’s Wege in die befreite Gesellschaft. Unser Favorit: Wir müssen lernen, ohne Angst verschieden zu sein. Zugegeben, das ist etwas komplizierter als die Wegbeschreibung von Google, aber es beschreibt ziemlich gut, wie die Liebe nach dem Kapitalismus aussehen könnte. Es könnte bedeuten, dass sich niemand mehr aufregt, wenn Kinder nicht bei Mama und Papa aufwachsen, sondern bei Mama und Mama, Papa und Papa, oder bei Fatuma, Klaus und Sahra, die gar keine „Liebesbeziehung“ haben, sondern „nur“ eng befreundet sind. Es kann im besten Fall heißen, dass wir ein Leben lang experimentieren und die Grenzen von Liebe und Freundschaft übertreten, uns in unterschiedlichsten und veränderlichen Konstellationen bewegen können, die zwischen den heute lebbaren Alternativen (Wohngemeinschaft, Kleinfamilie oder Single-Dasein) liegen und über sie hinausgehen. Es muss bestimmt bedeuten, dass Menschen unabhängig vom gewählten Lebensstil mehr Sicherheit und, soweit erwünscht, Kontinuität realisieren können als heute. Es kann alles heißen, was in Deiner Fantasie und Deinen Bedürfnissen vorkommt.
Keine Angst für Niemand
Andere Hinweise darauf, wie wir nach dem Kapitalismus leben werden, gibt die folgende Beschreibung: In der befreiten Gesellschaft muss niemand mehr Angst haben. Wer diesen schönen Satz auf Liebe und Beziehungen anwendet, findet sehr vieles, was verschwinden wird: Die Angst, nicht anerkannt zu sein, weil man den Normen nicht entspricht. Die Verlustangst, die sich auf den einzigen wirklich wichtigen Partner bezieht, den man haben darf. Die Angst vor Nähe, weil mit emotionaler Geborgenheit heute in der Regel auch materielle Abhängigkeit verbunden ist. Die Angst, einsam alt werden zu müssen. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen. Schwieriger ist es, sich Liebe und Beziehungen in der befreiten Gesellschaft vorzustellen, ohne bloß zu spekulieren und letztlich an den Beschränkungen und Härten hängen zu bleiben, die das heutige Leben bestimmen.
Dennoch sollte man es ab und zu versuchen. Um sich selbst und Anderen klar zu machen, dass diese Grenzen nicht ewig, sondern menschengemacht und veränderlich sind – um also die Lust auf eine andere, freundlichere Gesellschaft zu wecken. Eine, in der wir nicht mehr so oft einsam, unverstanden und beschämt sind. In der Konkurrenz und Unterdrückung uns nicht mehr davon abhalten, füreinander da zu sein. In der Liebe weniger weh tut.
Zum Weiterlesen:
- Adorno: Minima Moralia, darin besonders Nr. 49 ‚Moral und Zeitordnung’ und Nr. 110 ‚Constanze’, online hier.
- Eva Illouz: Warum Liebe weh tut, 2011, 14 Euro.
- Felicita Reuschling: Text zu Familie in der Sowjetunion, Phase 2.