1) „Totalitäre Regime und Extremismen können an einzelnen Merkmalen verglichen und somit gleichgesetzt werden“.
Vergleichen lässt sich erst einmal alles. Äpfel mit Birnen, Elefanten mit Nilpferden, aber eben auch Pyramiden mit Kiwis. Bei diesem letzten Vergleich dürften eher Unterschiede und nur wenige Gemeinsamkeiten sichtbar werden. Der Vergleich der Totalitarismusdoktrin zwischen „kommunistischer“ und nationalsozialistischer Herrschaft hat da wenigstens den Vorteil, dass es sich beides Mal um politische Systeme handelt. Um politische Systeme, denen eine Ideologie zu Grunde liegt. Doch bei der Totalitarismusdoktrin bleibt darüber hinaus unheimlich vieles offen: Was war der Inhalt dieser Ideologie? Worauf berief sie sich, was verwarf sie? Und wie folgte aus ihr eine Gesellschaftspraxis? An Hand dieser Fragen werden die tiefgreifenden Unterschiede deutlich, die eine Gleichsetzung abwegig scheinen lassen. Selbst die Staaten, in denen „kommunistische Parteien“ an der Macht waren, unterschieden sich in so starkem Maße, dass hier eine Gleichsetzung schwer zu machen ist. Die Totalitarismusdoktrin fragt aber eben nicht nach Täter_innen, Motiven, Gründen oder Programmen von Taten. Sie setzt Tote mit Toten gleich, ungeachtet, ob Menschen bei Hungersnöten in der Sowjetunion gestorben sind oder ob sie systematisch in Auschwitz ermordet wurden. Historische Fälle werden nicht gründlich untersucht, sondern es wird versucht, sie an Hand willkürlich erscheinender Kriterien irgendwie gleichsetzen zu können.
Bei der Extremismusdoktrin wird ähnlich abwegig vorgegangen: „Linksund Rechtsextremismus“ werden unter dem Begriff „Extremismus“ zusammengefasst und gleichgesetzt, indem einzelne Merkmale hervorgehoben werden. Die Demokratiefeindlichkeit sowie die Gewaltbereitschaft werden hierbei meist genannt. Es scheint für Vertreter_innen der Extremismusdoktrin keinen Unterschied zu machen, wenn Autos von Unbekannten abgebrannt werden oder wenn Menschen auf Grund ihres „Fremdseins“ von Nazis angegriffen werden. Des Weiteren fällt bei der Gleichsetzung von „Linksund Rechtsextremismus“ unter den Tisch , dass seit 1990 nachweislich über 140 Menschen durch die Folgen rechter Gewalt ums Leben gekommen sind. Dies ist nicht mit Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und Sachschäden gleichzusetzen.
Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob Nazis wollen, dass ein Führer alles entscheidet und du die Klappe halten sollst. Oder Linke fordern, dass man nicht nur alle vier Jahre wählen soll, sondern alle Lebensbereiche selbst bestimmen kann.
Die Argumentation, die der Extremismusdoktrin zu Grunde liegt, ist absurd. Sie dient einzig und allein der Kriminalisierung und Delegitimierung linker Politik. Bei einer solchen Argumentation ließe sich ebenfalls der Feuersalamander mit dem Rotschulter-Russelhündchen gleichsetzen, schließlich gehören beide zu den Wirbeltieren. Ein solcher Vergleich bringt aber wirklich niemanden weiter.
2) „Die Mitte der Gesellschaft muss vor „extremistischen Minderheiten“ geschützt werden“.
Laut dem VS sieht die Gesellschaft in etwa so aus: Es gibt Extremist_innen, die sind, wen wundert’s, extremistisch und deshalb übel und gefährlich. Sie wollen die „Freiheitlich demokratische Grundordnung (FdGO)“ untergraben und müssen deshalb bekämpft werden. Laut dem VS-Bericht 2012 leben in Deutschland ungefähr 100 000 Extremist_innen. Diese Menschen bedrohen laut dem VS den Rest der Gesellschaft. Die Mehrheit der Bevölkerung, die nach seiner Definition nicht extremistisch ist, bespitzelt der VS dagegen nicht. Laut der auf der ersten Seite erwähnten Studie der Universität Leipzig von 2014 stimmen über 50% aller Befragten rassistischen Aussagen zu. Gleichzeitig befürworten 94,9% die Demokratie als Staatsform: Rassist_in zu sein und den hiesigen Staat toll zu finden, ist also offensichtlich kein Widerspruch. Andere Studien kommen zu ähnlichen oder noch erschreckenderen Ergebnissen.
Uns ist genau das wichtig, nämlich die Frage, ob Menschen mit ihren Überzeugungen und Taten das Leiden der Menschen verringern wollen, oder ob ihre Einstellungen und Handlungen geeignet sind, das Leiden von Menschen zu vergrößern, wie z.B. Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus.
Ob der VS oder die Leute selbst sich als Extremist_innen einschätzen oder nicht ist uns schnuppe: Menschenfeindliche Einstellungen gehören bekämpft. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung und große Teile der Eliten bestimmte Politik befürwortet, heißt das also noch lange nicht, dass diese gut ist. Wer 1950 für die Gleichberechtigung von Homosexuellen eintrat, stand am Rand der Gesellschaft und außerhalb des Gesetzes: Ein Paragraph, der 1935 von den Nazis formuliert wurde und „homosexuelle Handlungen“ unter Strafe stellte, wurde in der BRD erst 1969 eingeschränkt, in der DDR 1957.
Dass es dazu kam, ist den Kämpfen von Menschen zu verdanken, die ihren Widerspruch zur Mehrheit der Bevölkerung laut und entschieden geäußert haben – nach der Definition des VS also ganz klar „Extremist_innen“. Was
heute als „extremistisch“ gilt, kann morgen schon gesellschaftlicher Konsens sein und umgekehrt. Auch deshalb ist es wichtig, sein politisches Handeln daran auszurichten, das Leben für die Menschen besser zu machen. Und nicht daran, ob es dem VS in den Kram passt oder nicht.
3) „Der Staat muss die FdGO schützen und kann deshalb per Definition nicht extremistisch handeln“.
Bei der Extremismusdoktrin wird gänzlich ausgeschlossen, dass der Staat selbst irgendwie extremistisch in Erscheinung treten kann, beispielsweise durch rassistische Handlungsweisen. Er hat die Aufgabe, die FdGO gegenüber äußeren Gefahren zu schützen und kommt demnach nicht als potentieller Übeltäter in Frage. In unseren Augen ist aber bereits die Einteilung von Menschen in Inund Ausländer_innen und die alltägliche Diskriminierung der letzteren durchaus rassistisch. Wie lässt sich das mit der angeblichen Neutralität des Staates vereinbaren? Ist der Staat vielleicht doch extremistischer als er zugeben möchte?
Bereits 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl nach Verhandlungen und letztendlich einer gemeinsamen Entscheidung zwischen CDU und SPD, letztere war zu dieser Zeit in der Opposition, faktisch abgeschafft. Der Verfassungsschutz war bei dieser Grundgesetzänderung weit und breit nicht zu sehen, obwohl es hierbei um eine grundlegende Änderung der Verfassung ging. Durch diesen „Asylkompromiss“ wurden die Rechte von Geflüchteten massiv eingeschränkt. Dieser besagt, dass nur Migrant_innen, die nicht aus „sicheren Drittstaaten“ eingereist sind, ein Recht auf Asyl besitzen. Dabei gelten jedoch alle Nachbarstaaten Deutschlands als sichere Drittstaaten. Der Staat versucht also, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge mit allen Mitteln abzuwehren, während die Forderung nach ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland nicht abreißt. All diejenigen, die dem Standort Deutschland in irgendeiner Weise nützlich sein können, werden mit offenen Armen empfangen. Die übrigen Menschen werden durch staatliche Maßnahmen abgewehrt.
In Deutschland lebende Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel werden darüber hinaus juristisch schikaniert. Sie dürfen ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen, müssen in Massenunterkünften unter unmenschlichen Bedingungen leben und werden mit lächerlich ausgestatteten Essenspaketen versorgt. Die politischen Rechte der Geflüchteten wie das Versammlungsrecht oder das Recht zu arbeiten werden ihnen dabei genommen. Und in den allermeisten Fällen werden sie unter Anwendung teils massiver Polizeigewalt abgeschoben.
Der deutsche Staat handelt dabei nach seinen eigenen Spielregeln, die er als demokratisch definiert und gleichzeitig eben auch rassistisch. Dies schließt einander nicht aus. Unsere Kritik setzt da an, wo Menschen unter unmenschlichen Umständen leben müssen und überall dort, wo Menschen abgeschoben werden. Ob dies von staatlicher Seite als extremistisch eingestuft wird, interessiert uns dabei herzlich wenig!
4) „Der Verfassungsschutz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus als Schutz gegen eine neue Diktatur eingerichtet“.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde 1950 gegründet, seit 1955 unterhält die Bundesrepublik eigenständig die Stelle zur „Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten“, die vorher unter Aufsicht der Alliierten stand. Viele alte Nazis, größtenteils hohe Funktionäre des NS-Regimes, bekamen im Bundesamt und in den Landesämtern für Verfassungsschutz gut bezahlte Stellen. Ihr Auftrag bestand weiterhin in der Sammlung von Informationen über mögliche staatsfeindliche Umtriebe. Über ihre teilweise hohen Positionen im Nationalsozialismus zum Beispiel als Staatsanwalt, Sicherheitsbeauftragter und an hohen Positionen im Militär – und ihre Verantwortung für Morde des Regimes, wurde nicht nur großzügig hinweggesehen, sondern sie wurden gerade als Spezialisten eingestellt, deren Erfahrung gebraucht wurde. So etwas wie „Objektivität“ der Behörde war also schon damals nicht gegeben und die politischen Anliegen waren der Arbeit der Ämter – Verfolgung von Linken und vermeintlichen „Staatsfeinden“ oft anzumerken.
Auch nachdem eine großangelegte Telefonüberwachung in den 60ern für einen Skandal in der Öffentlichkeit sorgte, wollte sich die Behörde nicht von ihren Mitarbeiter_innen trennen:
„Es gibt nur wenige Kräfte, die den schwierigen Aufgaben des Verfassungsschutzes genügen. Ein dringendes Sicherheitsbedürfnis wird in nicht zu verantwortender Weise aufs Spiel gesetzt, wenn die von der öffentlichen Kritik betroffenen ehemaligen SS-Angehörigen aus dem BfV entlassen würden. Diese Leute sind an der Aufklärung mehrerer bedeutender Spionagefälle in den vergangenen Jahren beteiligt gewesen. Es gibt auch keine rechtlichen Handhaben, sie aus dem Amt zu entfernen, da sie sich keiner Dienstvergehen schuldig gemacht, sondern sich im Gegenteil bewährt haben.“ (Bundesministerium des Innern, August 1963)
5) „Der Verfassungsschutz ist ein demokratischer Akteur und voll gegen Rechts“.
Guckt man sich das Demokratieverständnis vom Verfassungschutz an, wird schnell klar, was er im Sinne der sogenannten „Extremismustheorie“ als demokratisch denk-
und machbar erachtet und was nicht. Er legt den Maßstab fest. Der Staat bzw. VS hat dadurch stets eine Vorteilsposition. Das Demokratieverständnis ist sehr eingeschränkt und beruft sich dabei nur auf das Grundgesetz und die parlamentarische Form. Problematisch kommt hinzu, dass einige Vertreter_innen und Ausführende der „Theorie“ meinungsmäßig nicht nur stark konservativ denken, sondern selbst hart am von ihnen verurteilten rechten Rand stehen. 2013 kamen Vorfälle zu Tage, dass es im baden-württembergischen Landesamt für VS gern mal rassistisch und islamfeindlich zugeht. Ein Beamter hat auf seinem Schreibtisch das Schwert seiner Kreuzritterspielfigur auf eine Miniatur-Moschee gerichtet, zudem sind Worte wie „Herrenrasse“, „Muselmann“ und „Ölauge“ gefallen. Auch warnte man den deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan vor Abhöraktivitäten (Auch klar, da ja zwei Polizisten diesen in ihrer Freizeit gegründet hatten). Und dann tun die Schlapphüte so, als seien sie die Verfechter der Demokratie. Alles, was sie als abweichend oder darüber hinaus sehen, brandmarken sie als extremistisch. Dabei haben sie sich vor allem auf Linke eingeschossen. Der Extremismustheoretiker Eckart Jesse beschwerte sich einst darüber, dass, wenn man im „Neuen Deutschland“ schreibt, ungeschoren davon kommt, hingegen als Interviewpartner der „Jungen Freiheit“ eine Kampagne am Hals hat. Für ihn ist die neurechte ultra-nationalistische Zeitschrift „Junge Freiheit“ nur demokratisch-konservativ. Die Vorstellung von demokratischer Mitte wird somit nach rechts verschoben. So ist es nicht verwunderlich, dass alles, was nicht rechtsmittig ist, automatisch links ist. Sowieso gilt: links = linksextrem. Da kann es schon mal vorkommen, dass eine Initiative im Verfassungsschutzbericht auftaucht, weil sie sie sich gegen Nazis positioniert. So wird antifaschistisches Engagement mal eben kriminalisiert.
Was der VS insbesondere gegen oder besser zusammen mit Nazis tut, zeigt sein Verhalten im Falle des NSU.
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Dieser Text ist aus unserer Broschüre „Geheimdienst gib Handy! Was wir am Verfassungsschutz kritisieren und warum der Geheimdienst nichts an der Schule zu suchen hat.“ Eine Übersicht aller Text findet ihr hier.