„In Rojava ist eine Revolution geschehen“

Über Widerstand gegen Islamismus und den Aufbau einer anderen Gesellschaft in Nordsyrien
2012 vertrieb die westkurdische Bevölkerung in Syrien das Baath-Regime und baute selbstverwaltete Strukturen in der Region Rojava auf, die sie seitdem gegen die IslamistInnen des Islamischen Staats und anderer reaktionärer Kräfte verteidigt. Wir sprachen mit Ercan Ayboga, der in Nordkurdistan in der Ökologiebewegung aktiv ist und zusammen mit anderen das Buch „Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo“ (19,80 Euro, VSA) rausgegeben hat.

Euer Buch hat den Titel „Revolution in Rojava“ – warum „Revolution“?

Weil sich dort in kürzester Zeit Grundlegendes verändert hat. Es geht nicht nur um die Übernahme der Macht – die Frauenbefreiung schreitet schnell voran, die Wirtschaftsstruktur wird relativ schnell umgestellt, der Nationalstaat wird überwunden, die Gesellschaft wird immer demokratischer organisiert. Deswegen ist es eine Revolution.

Kannst Du etwas mehr über die Selbstverwaltungsstrukturen
vor Ort sagen?

In der Region wurde ein Rätesystem unter Beteiligung der ganzen Bevölkerung entwickelt. Die Räte organisieren das ganze wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben, heute haben sich rund 80% der Kurd_innen ihnen angeschlossen. Und Frauenräte haben eine besondere Stellung. In den ersten Monaten war es eine große Herausforderung, das Leben zu organisieren, denn die Leute waren Selbstverwaltung nach langen Jahren der Repression gar nicht gewöhnt. Aber inzwischen haben sie das alle besser hinbekommen.

Für viele ist die kurdische Bewegung sehr autoritär und nationalistisch und auf den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan fixiert. Hat sich da was geändert?

In den letzten Jahren ist die Bewegung mit Rojava und der HDP, der pro-kurdischen linken Partei in der Türkei, zu einer antinationalistischen Bewegung geworden. Es gibt einige Aktivist_innen, die sich anders äußern, aber sie sind deutlich in der Minderheit. Wir haben vor Ort gesehen, dass viele nicht-kurdische Gruppen und Bevölkerungsteile sehr zufrieden und in das Projekt eingebunden sind – nicht aus Taktik, sondern aus Überzeugung. Die PKK war früher recht hierarchisch und autoritär, aber sie ist in einem großen Wandel seit etwa 15 Jahren. In den letzten sieben, acht Jahren ist der Beteiligungsgrad der Bevölkerung immer größer geworden.

Du hattest die Frauenräte erwähnt – welche Rolle spielen die Frauen in der Revolution?

Ohne die Frauen hätte die Revolution wahrscheinlich keinen Erfolg gehabt. Sie haben bei der Verteidigung eine wichtige Rolle gespielt, aber vor allem bringen sie demokratische Strukturen voran. Frauen wollen aus den patriarchalischen Strukturen raus. Natürlich haben sich Teile der Männer gewehrt, aber weil die Bewegung und die Frauen selbst das wollten, haben sie es nach und nach akzeptiert. Es ist eben ein Prozess – nicht alle sind total feministisch, aber mit der Zeit wird es immer fortschrittlicher. Frauen sind überall dabei: In allen Strukturen, auf allen Ebenen. Allein dieser Umstand führt zu einer Bewusstseinsänderung.

Was ist die Situation von Jugendlichen?

Es gibt kaum Jobs, die Kriegssituation ist schwierig. Viele Familien schicken eins ihrer Kinder ins Ausland, damit sie sie von dort aus wirtschaftlich unterstützen. Aber es gibt in der Revolution eine sehr starke, organisierte Jugendbewegung. Die macht viel Bildungsarbeit, Versammlungen, Diskussionen, Demos mit über 10 000 Teilnehmenden. Sie macht aber auch Kulturarbeit mit Theater, Tanz, Musik. Auch hier organisieren sich Frauen separat, es gab zum Beispiel einen ‚Kongress der jugendlichen Frauen‘.

Wie bedroht der Islamische Staat (IS) und allgemein der Islamismus die Menschen vor Ort?

Der IS stellt gerade eine Hauptgefahr für viele Orte in der Region dar. Ideologisch ist er der krasse Gegensatz zu Rojava. In Rojava ist die Frauenbewegung stark, direktdemokratische Strukturen sind weit verbreitet, in der Wirtschaft werden Kooperativen statt Privatunternehmen unterstützt. Der IS hingegen ist islamofaschistisch. Dort sind besonders reaktionäre Menschen, auch aus Europa gehen dort ja vor allem reaktionäre, patriarchal denkende Jugendliche hin. Frauen sind für den IS de facto Sklavinnen, Untertanen, Ausbeutungsobjekte. Rojava ist einer der Hauptfeinde des IS – militärisch, geographisch, aber auch aufgrund des politischen Konzepts. Denn der IS fürchtet, dass Menschen von dem Projekt Rojava beeindruckt sein könnten, anstatt für den IS zu jubeln.