Lehr mich nicht voll

Wie der Terror in der Lehre weitergeht und was sich als Azubi dagegen machen lässt

„Junge? Warum hast du nichts gelernt?“ – 1,4 Millionen Menschen befanden sich 2013 in der sogenannten Berufsausbildung. Diese wird vom deutschen Staat und Arbeitgebervereinigungen als große Chance für Jugendliche angepriesen. Warum die weniger an deiner Zukunft oder deiner Person, sondern an deiner Arbeitskraft interessiert sind, und wie bisher und zukünftig versucht wurde, da trotzdem das Beste rauszuholen, versuchen wir hier zu klären.

Die Anzahl der Auszubildenden sinkt. Immer weniger Leute entscheiden sich für eine Berufsausbildung, also eine Ausbildung direkt in einem Betrieb, die mit theoretischer wie praktischer Prüfung beendet wird. Aber immer mehr Jugendliche machen Abitur, wenn sie können.
Unternehmen verschiedener Branchen beklagen, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen können, weil sie keine_r haben will. Deshalb machen Firmen oder auch die Bundesagentur für Arbeit viel Werbung für ihre tollen Ausbildungsstellen. Die Leute sollen sich am Besten schon während der Schulzeit entscheiden, welchen Beruf sie erlernen wollen und sich dafür eine Stelle suchen. „Bäcker, Polizist, Astronaut“ (ausbildung.de) – angeblich ist alles dabei. Doch wieso braucht es überhaupt eine derartige Imagekampagne und wieso sinken die Bewerber_innenzahlen? Dass die Zahlen sinken, liegt unter anderem an der miesen Bezahlung und daran, dass die Arbeitsbedingungen während der Ausbildung besonders schlecht sind. Daran mal wieder mitschuldig ist, wer hätte es gedacht, der alte Arsch Kapitalismus.

Schlecht ausgebildet, gut ausgebeutet
In Deutschland gibt es verschiedene Formen der Berufsausbildung. Meistens ist so eine Ausbildung dual, das heißt: Leute gehen zum einen in die Berufsschule, wo es Unterricht in den üblichen Schulfächern und zu speziellen Fachkenntnissen gibt. Zum anderen arbeiten sie im Betrieb und erlernen dort die berufliche Praxis. Die Arbeit, die Azubis real machen und der Aufwand, der Berufsschule bedeutet, sind groß. Meist werden sie im Betrieb einfach als Vollzeitkräfte eingesetzt und viel Verantwortung an sie übertragen. Bezahlt werden Azubis aber schlecht. Die „Vergütung“ bei Azubis beträgt zwischen 300 und 650 Euro monatlich, je nach Beruf und je nach Lehrjahr. Bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 30 – 40 Stunden pro Woche kommt man da auf einen kümmerlichen Stundenlohn von 4 Euro die Stunde. Also noch nicht mal die Hälfte des derzeitigen Mindestlohns, der ja auf Biegen und Brechen mit unzähligen Ausnahmen eingeführt wurde. Der geringe Lohn bedeutet, dass Auszubildende auf Unterstützung von Eltern und auf andere Förderungen angewiesen sind. Wer zuhause wohnt, bekommt keine staatlichen Förderungen.

Was all die anderen starten, sieht wie ’ne Landung aus.
Wer was davon hat, sind vor allem die Betriebe. Und natürlich Väterchen Staat. Oft wird die Ausbildungszeit zu lange angesetzt. Die wichtigen Skills hat man spätestens nach den ersten zwei Lehrjahren drauf, im dritten ist man vor allem eine unschlagbar günstige Arbeitskraft. Auch die Arbeitslosenstatistik für Deutschland sieht dann besser aus. Sobald Leute die Schule mit einem Abschluss oder nach Ende der Schulpflicht verlassen, befinden sie sich nämlich auf dem sogenannten „Arbeitsmarkt“. Das bedeutet auch, sie tauchen in der Arbeitslosenstatistik auf, wenn sie nicht in ein Beschäftigungsverhältnis kommen oder studieren gehen. Um die Zahlen zu senken, werden die Leute vom Jobcenter in wenig sinnvolle Umschulungs- oder Umorientierungskurse gesteckt. Wer das vermeiden will, muss sich eine Lehrstelle suchen. Also nix mit großen Chancen. Bildungsministerin Wanka hat es 2012 selbst in einer Broschüre ganz gut auf den Punkt gebracht: „Die berufliche Bildung qualifiziert junge Leute und sichert so den Fachkräftebedarf der Zukunft. Damit entscheidet sie auch über die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand unseres Landes.“ Also auch nix mit gutem Leben für alle, sondern Kapitalismus und Schland.

Wer ist hier der Boss? Leider keine Frage.
Für Azubis ist es schwerer als für Angestellte, Arbeitsrechte durchzusetzen und die Chefs dazu zu bringen, die Schutzgesetze einzuhalten. Rassistische Sprüche, sexistische Ansagen oder Übergriffe am Arbeitsplatz kommen fast überall vor. Zum Beispiel müssen Bewerber_innen mit Namen, die nicht deutsch klingen, durchschnittlich sieben Bewerbungen schreiben, bis sie irgendwann eingeladen werden. Hans Müller muss nur fünf schreiben. Hans Müller hat auch größere Chancen als Luise Mül ler, eine technische Ausbildung anzufangen. Denn Frauen werden in technischen Berufen immer noch weniger ernst genom men und müssen sich Sprüche anhören, warum sie denn nicht Krankenschwester werden. Sich dagegen zu wehren ist in diesen Abhängigkeitsverhältnissen alleine schwerer, als wenn man in einer großen Gruppe organisiert ist. Vor allem in kleinen Betrieben, in denen man vielleicht sogar jeden Tag mit den Arbeitgeber_innen zusammenarbeiten muss. So oder so ist es aufwendig, eine Ausbildung abzubrechen oder den Betrieb zu wechseln. Je nach Schulabschluss ist absehbar, dass nach einer Kündigung die Suche nach einer neuen Stelle noch schwerer sein wird. Wer nach einem neuen Ausbildungsbetrieb sucht, muss denen erklären, dass und warum er_sie abgebrochen hat.

Bück Dich Hoch
Ein weiteres Problem ist, dass es keine Garantie gibt, den Arbeitsplatz nach der Ausbildung zu behalten und eine feste Stelle zu bekommen. Nach den durchgestandenen Lehrjahren und der abschließenden Prüfung müssen sich Leute dann fragen: „Werde ich übernommen? Darf ich in diesem Betrieb bleiben?“ Obwohl Solidarität unter den Auszubildenden wichtig wäre, wird es durch diese Situation schwer gemacht, zusammenzuhalten. Für manche ist daher die Berufsschule der einzige Ort, wo sie sich mit anderen Azubis über ihre Erfahrungen und Missstände austauschen können und Verbündete haben, auch wenn die Zeit in der Schule selbst scheiße sein kann. Schulprobleme, von Langeweile bis Mobbing, gibt’s auch hier und schwänzen ist schwieriger, weil es viel strenger überprüft wird und überhaupt Fehlzeiten nur sehr gering sein dürfen. Trotzdem braucht es den Austausch mit anderen, um zu erfahren, dass es denen genauso geht, oder dass es eigentlich anders sein sollte. Und um sich gegen diese Umstände zu verbünden.

Strike The Pain Away
Dass der ganze Stress und die Hetzerei nicht jeden Tag geschluckt werden müssen, dass haben Lehrlinge schon einmal gezeigt. 1968 gilt als Jahr der Studierendenrevolte. Doch auch die Lehrlinge haben sich organisiert, gestreikt und gekämpft. 1967 war das Streikrecht für Lehrlinge noch stark eingeschränkt, sie galten in den Betrieben oftmals nicht als „richtige Arbeiter“, Gewalt kam oft vor und am Ende musste noch diverser Stuff für die Inneneinrichtung des Meisters gebaut werden. In den damals häufigen sogenannten „wilden Streiks“ (nicht gewerkschaftlich organisiert) solidarisierten sich jedoch Arbeiter_innen und Lehrlinge und konnten die Ausweitungen des Lehrlingsrechts erkämpfen. Von den ersten Erfolgen angespornt, gründeten sich bundesweit Aktionsgruppen, forderten ein garantiertes Mindesteinkommen, das Verbot von ausbildungsfernen Tätigkeiten (wie Kaffeekochen für den Chef usw.) oder gründeten Lehrlingskollektive und Kommunen. Auf dem Höhepunkt der Bewegung wurde ein Kongress organisiert, an dem über 1500 Lehrlinge teilnahmen. Ab 1972 zerfiel die Bewegung aus verschiedenen Gründen. Das Wissen um sie ist leider kaum noch präsent. Um die Frage zu klären, wie sich Lehrlinge heutzutage organisieren und für ihre Rechte streiken, haben wir ein Interview mit Azubis in der Pflegeausbildung geführt.

YOLO – Streiken für mehr Geld, weniger Arbeit, weniger Stress und mehr Streik
Gerade im Bereich der Pflegeberufe und der Pflegeausbildung berichten viele Auszubildende von einer hohen Belastung. Der Arbeitsalltag ist bestimmt von Stress. Oft werden den Azubis Aufgaben aufgebrummt, die sie eigentlich gar nicht übernehmen dürften. Die vielen Überstunden, die dann gemacht werden, sollten am besten gar nicht aufgeschrieben werden. Das sehen die Vorgesetzten nämlich gar nicht gerne. Pfleger_innen stehen in der Hierarchie dabei meist weit unten und werden höchstens als Handlanger_innen der Ärzt_innen gesehen. Versuche der Aufwertung des Berufs werden zurückgewiesen und der eigene Status verteidigt. So warnte Ulrich Montgomery, der Vorsitzende der deutschen Bundesärztekammer, doch ernsthaft vor einer „Überakademisierung“ des Pflegeberufs. So etabliert sich immer mehr sein Bild von „tatkräftig mit Hand und Herz“ statt mit guter Ausbildung. Der Idealismus der Beschäftigten macht sie dann leider auch oft erpressbar und an so etwas wie Streik ist natürlich schwer zu denken, wenn man Patient_innen hat, deren Leben und Wohlgefallen in deinen Händen liegt. Mit diesen Schwierigkeiten mussten sich auch die herumschlagen, die sich gegen ihre Arbeitsbedingungen wehren wollten. Tamara und Daniel waren Anfang 2014 beim Azubi-Streik dabei, der bundesweit stattgefunden hat.

Warum machen denn Auszubildende einen eigenen Streik?

Tamara: Zu dieser Zeit liefen gerade die Tarifverhandlungen von den Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes. Und weil bei diesen Kämpfen die Azubis normalerweise nur wenig berücksichtigt werden, wurde in verschiedenen Städten unter dem Label yolo2 ein eigener Streik organisiert. Die Forderungen sollten aber alle Beschäftigten betreffen.
Daniel und Tamara: Die Forderungen waren: unbefristete Übernahme für alle Azubis. Mehr Urlaub (30 Tage) für alle, 100 Euro mehr Ausbildungsvergütung und dazu 3,5% mehr Gehalt für Beschäftigte.

Tamara: Die Schwierigkeit war, dass nicht alle für den Streik freigestellt wurden. Obwohl das Recht auf Streik auch für uns Azubis gilt. Wir arbeiten in einem Krankenhaus und da herrschen ja bekanntlich sowieso schlechte Arbeitsbedingungen, aber wer sich dagegen wehren will, mit Protesten und gerade Streik, wird von vielen anderen Kolleginnen und Kollegen abgehalten. Sie waren genervt, weil sie mit der Arbeit, die eben trotzdem anfällt, nicht alleine sein wollten. Azubis wurden zum Teil persönlich unter Druck gesetzt, ihnen wurde die Verantwortung vorgehalten, die sie den Kollegen und den Patienten gegenüber hätten.

Daniel: Andere Azubis wurden auf ihren Stationen einfach nicht informiert und wieder anderen wurde von ausgelernten Fach kräften schlicht verboten zu streiken. Und die haben durch ihre Position einfach eine Autorität, die sehen wir dann auch jeden Tag wieder.

Tamara: Trotz alledem waren wir viele Auszubildende, die in der Stadt demonstriert haben. Wir haben noch weitere Azubis von ihren Berufsschulen abgeholt – eine komplette Erzieher_innenschule wurde sogar für den Tag geschlossen, weil alle Schüler_ innen weg waren!

Daniel und Tamara: Naja, aber die Forderungen wurden trotzdem nicht so wirklich erreicht: 28 Urlaubstage für Azubis und 30 für Beschäftige. Besonders beim Gehalt haben wir viel weniger bekommen, als gefordert. Und übernommen werden auch nicht alle, aber durch verlängerte Übernahmeregelungen soll es einfacher werden.
Daniel: Ein paar Tage nach dem yolo2 -Streik gab es noch einen für alle Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Aber da waren ganz, ganz wenige Angestellte aus unserem Krankenhaus. Die Ausreden waren fast immer die gleichen: Die Kolleginnen dachten, dass es nichts bringt und sogar mehr Arbeit macht, wenn „die anderen da hin gehen und sich nen schönen Tag machen, müssten sie „doppelt und dreifach“ arbeiten“. Wir haben versucht, mit einigen Kollegen darüber zu reden und ihnen zu erklären, wie wichtig es für alle ist, wenn viele Angestellte des Krankenhauses mitgehen. Aber es hat nichts genützt.

Tamara: Zum Schluss wurde mir nahegelegt, pünktlich zu meinem Dienst zu erscheinen. Aber wir freun uns schon auf das nächste Mal!

Zum Weiterlesen:
„Ausführliche Darstellung der Lehrlingsbewegung und ihrer Geschichte“

„Die Antwort ist 27“ – Eine ganze Generation von Linken wurde von dem Kampf um Kinderläden und für antiautoritäre Erziehung geprägt. Doch das ist Vergangenheit. Heute gibt es keine linke Erziehung mehr. Text von Felix Klopotek