Vom heimlichen Lehrplan und dem Sekundärtugendterror
Bruttoinlandsprodukt, Kurvendiskussion, mendelsche Regel … in der Schule werden wir geradezu überhäuft mit Inhalten. Schüler_innen bemängeln häufig, dass sie viel Erlerntes später nie wieder im Alltag brauchen werden. Und von Liberalen gibt es immer wieder die Forderung nach der Einschränkung von Fächern wie Kunst, Philosophie oder Literatur, die für die Wirtschaft kaum verwertbar sind. Wir hingegen sind der Meinung, dass ganz unterschiedliche Arten von Wissen dabei helfen können, diese Welt besser zu verstehen und dadurch auch zu verändern – das kann die Funktionsweise eines Verbrennungsmotors oder ein Gedicht sein. Zwar würden auch wir uns wünschen, dass man in der Schule mehr über Rassismus, über Kapitalismuskritik oder die Geschichte des Feminismus erfahren könnte. Aber unser Problem mit der Schule in ihrer heutigen Form ist nicht nur dieses „Was“ – die Auswahl der Inhalte, das Ausblenden von grundlegender Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen – , sondern auch das „Wie“.
Denn auch wenn wir im Unterricht vielleicht mal von deutschen Kolonialverbrechen erfahren, Texte von kritischen Autorinnen lesen oder die Gefahren der Atomenergie diskutieren: Die Form der Schule bleibt die gleiche und sie richtet uns auf eine Art und Weise zu, die uns zu funktionierenden Rädchen in dieser Gesellschaft macht, ohne dass wir es so wirklich merken. Denn in der Schule geht es nicht nur darum, gewisse Inhalte zu erlernen, sondern auch ganz nebenbei bestimmte „Tugenden“ zu verinnerlichen. Diese „Soft Skills“ sind auch in der späteren Lohnarbeit unerlässlich oder sogar wichtiger als in der Schule gelernte Inhalte. Nicht ohne Grund befürwortet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) „Leistungsbereitschaft, Disziplin und gute Umgangsformen“ und sein Bildungsexperte Thilo Pahl versichert: „In Zeiten eines verschärften Wettbewerbs um knappe Lehrlinge geben Betriebe zunehmend auch lernschwächeren Jugendlichen eine Chance – wenn die Persönlichkeitsfaktoren stimmen.“ Wir würden sogar sagen: Der heutige Schulunterricht taugt nicht besonders gut dazu, tatsächlich Inhalte zu verstehen, und das Erlernen von Wissen und Fähigkeiten ist auch gar nicht sein einziger Zweck. Was meinen wir damit?
Form follows function
Bei jeder Klassenarbeit gibt es Benotungen. Und immer gibt es gute und schlechte Arbeiten. Es werden niemals alle eine 1 oder alle eine 6 erhalten, sondern die Arbeiten werden aneinander gemessen, und heraus kommt so etwas wie eine Verteilungskurve. Wer gut ist, der sticht die anderen aus und macht sie damit zu Verlierer_innen. Das dahinterstehende Prinzip lautet: Konkurrenz. Auf dem Arbeitsmarkt, im kapitalistischen Alltag ist Konkurrenz das, was diese Gesellschaft am Laufen hält. Der Zweck des Schulbesuchs ist es, möglichst gute Noten zu bekommen, um sich in der Konkurrenz mit den Mitschüler_innen durchsetzen. Ganz klar, um eine gute Note zu bekommen, muss sich jemand einiges vom Unterrichtsstoff reinziehen, der bei den Prüfungen abgefragt wird. Da in erster Linie für die Prüfungen gelernt wird, ist es völlig egal, ob danach noch etwas hängen bleibt. Es zählt nur, zum richtigen Zeitpunkt das gewünschte Wissen in der vorgegebenen Zeit abzuliefern. Also trichtert Leute sich ein paar Tage vorher möglichst viel Lernstoff ins Gehirn, um ihn dann punktgenau wieder auszukotzen. Am Ende des Jahres wird dann bei der Abschiedsparty das verhasste Schulbuch ins Lagerfeuer oder zumindest die unterste Schublade geworfen. Dass in der Schule das tatsächliche Erlernen häufig nur Mittel zum Zweck ist, merkt man auch am Erfindungsreichtum von Schüler_innen beim Vortäuschen von Wissen und Verbergen von Unwissen. „Schummeln“ erscheint vielen als total normal, und ist doch irgendwie absurd und fürs Lernen unpraktisch: Würde es tatsächlich um die Inhalte gehen, wäre es doch am Vernünftigsten zuzugeben, dass ich etwas noch nicht begriffen habe und dann so lange daran weiterzuarbeiten, bis ich es eben verstehe. So wie beim freiwilligen Lernen: Wenn ich irgendeinen Skate-Trick noch nicht kann, dann übe ich den samstags im Skatepark so lange, bis ich es schaffe. Doch das individuelle Tempo und Interesse lässt der Notendruck nicht zu. Und im späteren Berufsalltag ist das Verbergen von Unwissen gegenüber der Chefin oft eine wichtige Fähigkeit.
Erfindungsreichtum ist auch angesagt, um sich gegen andere durchzusetzen. Da gibt es immer die Leute, die andere nicht abschreiben lassen – denn was wäre die eigene „1“ noch wert, wenn plötzlich alle eine hätten? Diese Verhaltensweise ist irgend- wie logisch, wenn man immer dazu angehalten wird, auf den eigenen Vorteil zu schielen, anstatt sich beispielsweise die Hausaufgaben zu teilen (Erdal macht Mathe, Yoshio Deutsch, Sophie Chemie, am Ende schmeißen wir zusammen und kriegen alle eine 1!). Spicker beim Lehrer petzen, sich bei ihm einschleimen, Seiten aus Büchern rausreißen, damit andere nicht die richtigen Informationen finden, Notizen nicht weitergeben (denn die faulen Hunde hätten sich ja ruhig mal selber anstrengen können!) – all solche Verhaltensweisen machen nur Sinn, wenn man ein Interesse daran hat, dass die anderen schlechter sind als man selber. Das „Nach oben buckeln, nach unten treten“ des Kapitalismus wird in der Schule fürs Leben gelernt. Wenn es wirklich um gemeinsames Lernen gehen würde, dann würden sie keinen Sinn ergeben: Oder zeigt ihr etwa Euren Freund_innen, wenn ihr Euch beispielsweise zusammen World of Warcraft beibringt, ganz gezielt nicht, wie man ins nächste Level kommt? Helft ihr eurer kleinen Schwester extra nicht, wenn sie ihre Hausaufgaben machen soll? Nein, denn Wissen weitergeben kann echt Spaß machen, und ganz besonders, wenn man gemeinsam was erreichen will. Dieses Steine-in-den-Weg-legen macht nur Sinn, wenn wir andere als Bedrohung unseres eigenen Status sehen. Genauso, wie später unser Arbeitsplatz immer als bedroht wahrgenommen wird, und wir für seinen Erhalt „besser“ als die anderen bleiben müssen: qualifizierter, deutscher, fitter. Diese Logik gilt übrigens auch bei den viel gepriesenen Gruppenarbeiten, die in der Schule zunehmend in Mode sind. Dann stehen eben Gruppen in der Konkurrenz nach außen, und nach innen setzen sich die Schüler_innen praktischerweise gegenseitig unter Druck, ganz ohne Zutun der Lehrerin.
Wie schön also, dass es für uns bereits in der Schule normal geworden ist, dass es eben „die da oben“ und „die da unten“ gibt. Landesweite Standards und Vergleichsarbeiten zementieren diese Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit und ermöglichen jedem und jeder zu wissen, wie „normal“ er oder sie eben im Vergleich zum Rest der Gesellschaft ist. Und wenn‘s dann jemand nicht schafft, dann liegt das am individuellen Versagen, und nicht etwa daran, dass es als Frau, Migrant_in oder Proletarier_in ungleich schwerer ist, nach oben zu kommen.
Mal müssen müssen
Andere Dinge, die man in der Schule „fürs Leben“ lernt, sind zum Beispiel das Überleben in einer Zwangsgemeinschaft: Niemand kann sich aussuchen, mit wem er oder sie in der Klasse ist – du musst dich irgendwie mit den anderen arrangieren. In der Praxis bedeutet das oft, dass sich die Schwächeren den Stärkeren unterordnen und deren Verhaltensnormen übernehmen müssen. Zusätzlich fordern die Lehrenden, sich mit dieser Zwangsgemeinschaft (=Klassengemeinschaft) zu identifizieren. Die scheinbar selbstverständliche Einordnung in die Gruppe wird gefördert durch Veranstaltungen wie Klassenwettbewerbe und identitär befeuert, wenn dann die Klasse „4a“ sich soviel cooler fühlt als die „4b“. Dass es miteinander konkurrierende nationale Kollektive gibt, erscheint in der Verlängerung dann ganz normal. Und dass man sich später nicht aussuchen kann, wie und mit wem man den größten Teil des Lebens verbringt, ebenso. Wir lernen auch, dass andere über unsere Lebenszeit verfügen. Es erscheint uns normal, dass eine Institution uns jeden Tag nötigt, bei Kälte und Dunkelheit aus dem Haus zu torkeln, Pünktlichkeit ist selbstverständlich, selbst vor dem Toiletten- gang muss schön gefragt werden, und eine Krankheit muss die Ärztin bestätigen. So wie später auch im Arbeitsleben kann niemand entscheiden, ob der Morgen nicht zu früh zum Aufstehen ist, ob jemand an einem sonnigen Nachmittag lieber an den See fahren will, wann endlich mal Urlaub angesagt ist. Klar ist es in jeder Gesellschaft notwendig, sich mit anderen abzustimmen bei gemeinsamen (Lern- ) Projekten und auf sie Rücksicht zu nehmen. Aber die Unterdrückung spontaner und individueller Bedürfnisse ist keine Notwendigkeit – Gesellschaft könnte auch anders eingerichtet sein. Doch 9 bis13 Jahre Schule lassen das alles schnell als natürlich erscheinen.
Damit geht einher, dass wir in der Schule lernen, die Autorität von Vorgesetzten zu akzeptieren. Deren Notengebung beeinflusst unser Selbstbewusstsein in der Gegenwart und entscheidet über unsere Zukunft – Schulempfehlungen, Ausbildungs- und Uniplätze – , obwohl Noten doch nur scheinbar objektiv sind, sondern auch von Sympathien, Neigungen und politischen Einstellungen der Lehrer_innen abhängt. Und anstatt Aufträge zu hinterfragen, sollen Schüler_innen einfach machen, was von ihnen verlangt wird und sich somit unter die Zwecke einer Auto- rität oder Institution unterordnen. Das schließt auch so absurde Sachen ein wie das Wahren einer bestimmten vorgegebenen Ordnung bei der Gestaltung von Heft oder Mappe – als ob gutes Lernen davon abhängt, ob ich an meine Zettelränder Strichmännchen male oder nicht. Doch „gute Schüler“ verinnerlichen eben Gebote und Verbote. Dann muss jemand gar nicht im Politikunterricht etwas über die Verfassung gelernt haben, um ganz nebenbei zur guten Staatsbürger_in zu werden.
Kopfnote – das war kein Selbstmord, das war Mord
Die kritische Bildungsforschung sprach nach der 68er-Bewegung in diesem Zusammenhang vom „heimlichen Lehrplan“. Doch so heimlich ist dieser Lehrplan gar nicht: So sollen die Schüler_innen in Bayern laut Schulgesetz zur „Ehrfurcht vor Gott, (…), Liebe zur bayrischen Heimat und zum deutschen Volk“ (kein Scheiß!) erzogen werden, in Berlin immerhin noch dazu „ihre Aufgaben als Bürgerinnen und Bürger … wahrzunehmen“. Sie erhalten also einen Grundkurs in sozialen Regeln, um in der Schule und damit auch der weiteren Gesellschaft klarzukommen. Das mag auch freundliche Seiten haben, wenn man etwa nebenbei erlernt, dass man andere ausreden lässt, Probleme nicht mit körperlicher Gewalt löst oder Menschen in der (Klassen-)Gemeinschaft auch in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren lernt. Aber schulische Sozialisation umfasst eben auch all die oben beschriebenen Verhaltensformen und sind gerade in Schulen, die nicht zum Abitur führen, einer der zentralen Lerninhalte. Die Klagen deutscher Chefs über „schlampige Azubis“ und einer Jugend, der mal wieder gehörig Benehmen beigebracht werden müsse, finden hier ihre Antwort. So bereiten die „Kopfnoten“, mit denen in einigen Bundesländern soziales Verhalten bewer- tet wird, auf die im Betrieb notwendigen „Soft Skills“ vor. Schule hat sich damit teilweise auch veränderten ökonomischen Bedingungen angepasst: Sie ist weniger autoritär geworden, und die Verantwortlichkeiten für „richtiges“ Verhalten werden zunehmend in die Schüler_innen selbst ausgelagert. Die Noten vergeben beispielsweise nicht mehr ausschließlich die Lehrer_innen, sondern Schüler_innen sollen sich gegenseitig oder selbst bewerten. Sie dürfen aber nach wie vor weder darüber entscheiden, was sie lernen wollen, noch darüber, nach welchen Kriterien und ob sie überhaupt bewertet werden wollen. Der Druck der Konkurrenz wird also nicht abgeschafft, sondern Schüler_innen sollen ihn sogar noch gegen sich selbst durchsetzen. Während man früher wenigstens auf ungerechte Lehrer_innen und ihre schlechten Noten schimpfen konnte, ist man jetzt für sein eigenes Unglück auch noch selbst verantwortlich, weil man sich die 5 mithilfe des Kontrollbogens selber eingetragen hat.
Die Schule ist angeblich zum Lernen da, aber dafür ist sie ziemlich unklug eingerichtet. Weder kann man sich aussuchen, was man lernt, noch mit wem zusammen man das lernt, noch wer einem diese Sachen beibringt. Und auffälligerweise werden diejenigen, denen Lernen am Schwersten fällt, in Schulen abgescho- ben („versetzt“), in denen sie auf jeden Fall sehr wenig lernen werden, anstatt sie ganz besonders zu fördern. Die Schere zwischen Schüler_innen, die bei Vergleichstests sehr gut oder eben sehr schlecht abschneiden, ist in Deutschland so groß, wie in nur wenigen anderen Ländern. Als Problem wird das aber nur gesehen, wenn auf einmal zu wenig Arbeitskräfte da sind: „Wir brauchen jeden“, heißt es dann zum Beispiel in der „Berliner Erklärung zur Nachwuchskräftesicherung für Unternehmen durch Ausbildung“. Allen Schüler_innen zu ermöglichen, möglichst gut und viel zu lernen ist also kein Selbstzweck, sondern dient nur dem Ziel, die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu befriedigen. Und wenn der gerade wenig oder keine Menschen braucht heißt das im Zweifelsfall: Pech gehabt.
Ob nun bei Assassin‘s Creed oder im Skatepark mit Freund_ innen: Gutes Lernen geht eben anders.
Zum Weiterlesen:
„Deutschlands wichtigste Ressource“ – Die Broschüre der AG „Hitzefrei bei jedem Wetter“ der Gruppe redical m aus Göttingen kritisiert den Zweck von Pädagogik im Kapitalismus
„Wieso? Weshalb? Warum? Macht die Schule dumm?“ – Text von Freerk Huisken
„Mythos Intelligenz“ – Text der Zeitschrift Streifzüge
„Wie Krank feiern?“ Tipps!
Ronald M. Schernikau: „Kleinstadtnovelle“, Taschenbuch, 10 Euro.