Was es mit Critical Whiteness auf sich hat und warum wir von „Weißen“ und „Schwarzen“ sprechen, obwohl es keine „Rassen“ gibt
Wenn ich mit der Regionalbahn fahre, brauche ich keine Angst haben, wegen meines „Weißseins“ angemacht zu werden. Wenn mir Leute auf der Straße hinterher gucken, kann ich davon ausgehen, dass das an meinen nagelneuen Neon-Sneakers und nicht an meiner Hautfarbe liegt. Wenn ich mich in der Schule mal wieder voll daneben benommen habe, kommt kein Lehrer auf die Idee, das mit meinem „kulturellen Hintergrund“ in Verbindung zubringen.Wenn ich mich auf eine Wohnung bewerbe, muss ich keine Bedenken haben, dass mein „deutsch klingender“ Name ein Nachteil sein könnte.
Ganz normal, dass Name, Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle spielen?
In dieser Gesellschaft leider nicht. Denn für viele Menschen sehen diese Alltagssituationen anders aus als für Menschen, die als „Weiß“ und „deutsch“ wahrgenommen werden. Es reicht also nicht zu sagen: „Welche Hautfarbe jemand hat oder wo jemand herkommt, sehe ich gar nicht.“ Dass „Weiße“ Menschen diese unterschiedlichen Erfahrungen und ihre eigene Rolle darin erkennen, ist die Forderung einer anti-rassistischen Sichtweise, die „Critical Whiteness“ oder „Kritisches Weißsein“ genannt wird.
Schwarz und Weiß sind keine Farben
Wenn in diesem Artikel von „Schwarz“ oder „Weiß“ die Rede ist, sind damit nicht Pigmentierungen der Körperoberfläche gemeint, sondern soziale Konstruktionen. Ab wann eine Hautpigmentierung als „schwarz“ gilt, ist ziemlich relativ: Nach drei Wochen Strandurlaub in Kroatien ist die Haut meines schwedischen Mitbewohners deutlich dunkler als die meiner Kollegin, deren Großeltern aus Kamerun eingewandert sind. Trotzdem wird Lasse weiterhin als „Weiß“ wahrgenommen, Anna als „Schwarz“. Überhaupt, warum wird der Unterschied gerade durch die Hautfarbe gemacht und nicht z.B. die Größe der Ohrläppchen? Wäre genau so idiotisch. Aber noch absurder wird es, wenn dann über die Hautfarbe das Arbeitsverhalten oder die Musikalität eines Menschen „erklärt“ wird. Manchmal werden Hautfarben auch einfach erfunden: Wenn man einem Kind in Europa Malstifte in die Hand gibt und ihm sagt, es solle eine Person aus China malen, wird es die Farbe „gelb“ benutzen. Auch Günter Beckstein, der ehemalige bayerische Innenminister, sagt: Alle Menschen, ob „schwarz oder gelb“, sollen sich sicher fühlen (bevor er sie abschieben lässt). Obwohl Beckstein sicher schon so manchen Menschen aus Asien gesehen hat, ist ihm nicht aufgefallen, dass es keine „gelben Menschen“ gibt. Dass Chines_innen mit dieser Farbe verbunden werden, hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass Gelb die Farbe des chinesischen Königshofes war.
Ausgedacht und trotzdem da
Schwarz und Weiß mögen absurde und willkürliche Kategorien sein, sie existieren trotzdem als tägliche Realität. Denn in unserer Gesellschaft bedeutet Schwarzsein noch immer, für die gleiche Leistung wie Weiße einen schlechteren Schulabschluss oder weniger Lohn zu erhalten. Geprägt von rassistischen Darstellungen, z.B. von Schwarzen in der Werbung, in Büchern oder Filmen, nehmen Leute unterschiedliche Hautfarben als zentrale Eigenschaft von Menschen wahr und stecken sie nach dieser Eigenschaft in Schubladen, mit denen andere Eigenschaften verbunden werden.
Vielmehr als die vermeintliche Hautfarbe beschreiben „Weiß“ und „Schwarz“ also, wer Rassismus erfährt und wer nicht. Das sind natürlich auch viele Menschen, die oder deren Eltern zum Beispiel aus der Türkei, arabischen Ländern, Polen und anderswo herkommen. Statt „Schwarz“ verwenden viele Aktivist_innen deswegen auch den Begriff „People of Color“ als selbstgewählte Bezeichnung. Es waren vor allem „People of Color“ in antirassistischen Kämpfen und an der Uni, die die oben beschriebene Sichtweise namens „Critical Whiteness“ eingefordert haben.
Wer spricht mit wem über wen?
Diese Sichtweise dreht die Blickrichtung um. Beim Sprechen über Rassismus geht es häufig nur um die Betroffenen. So ist z.B. bei vielen Rassismus-Definitionen von „Diskriminierungen“ und „Diskriminierten“ die Rede. Aber wer diskriminiert denn eigentlich? Critical Whiteness rückt die Menschen in den Fokus, die irgendwie als Norm erscheinen. Also: Weiße.
Dieser Perspektivwechsel hatte Auswirkungen zum Beispiel auf antirassistische Kämpfe: Denn auch hier diskutierten oft Weiße über Schwarze und die rassistische Aufteilung in aktiv handelnde Weiße und passive schwarze Objekte wurde damit aufrecht erhalten. Critical Whiteness fordert: Nicht mehr Arbeit „für die armen Schwarzen“, sondern diejenigen in den Blick nehmen, die Rassismus ausüben und durch ihre Handlungen reproduzieren: Weiße.
Rassismus betrifft nicht nur rassistisch Diskriminierte
So ein Zugang ermöglicht eine ganz andere Sicht auf Rassismus. Rassismus wird nicht mehr als Problem von einzelnen Menschen betrachtet, sondern als eine Struktur, in der es auch aktiv Handelnde gibt. Also als eine Struktur, zu der Weiße wesentlich mit dazu gehören. Damit wird auch klar, dass eine „weiße“ Person bewusst oder unbewusst zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Rassismus in der Gesellschaft beiträgt.
Das kann zum Beispiel sein, dass ich jemand anderen einfach Duze, obwohl wir uns gar nicht kennen oder bestimmten Menschen in der U-Bahn eher meinen Platz anbiete als anderen. Oder schwarze Menschen gleich als nicht-deutsch anspreche: Verstehst du deutsch? Das kann auch heißen, dass ich mir nicht bewusst mache, wie ich selber im Alltag eigentlich behandelt werde und vielmehr noch: was mir erspart bleibt. Eben die Eingangsbeispiele oder, dass ich nicht immer und immer wieder gefragt werde, wo ich denn „eigentlich“ herkommen würde. Eine Möglichkeit, diesen Skandal zu bekämpfen, besteht eben darin, sich bewusst zu werden, wie ich mich selbst verhalte, und wie mit mir umgegangen wird – abhängig von meinem wahrgenommenen Weißsein. Eine aktive Auseinandersetzung mit eigenen rassistischen Vorstellungen ist ein wichtiger Schritt, zu ihrer Überwindung beizutragen.
„Erstens: Vergiss, daß ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, daß ich schwarz bin. “
(Pat Parker, afroamerikanische Feministin)
Momentan erfolgt die Ausgrenzung und Abwertung von Menschen in Deutschland vor allem anhand ihrer vermeintlichen „Kultur“. Früher wurde behauptet, Menschen aus Afrika wären Deutschen aufgrund ihrer Gene und körperlichen Erscheinung unterlegen. Heute wird argumentiert, Menschen aus Afrika hätten eine andere Kultur, die rückständiger sei als „die deutsche“ (was auch immer das sein soll). Das heißt nicht, dass es keinen biologisch argumentierenden Rassismus mehr geben würde. Aber wer Rassismus effektiv bekämpfen will, darf nicht aus den Augen verlieren, dass rassistische Kategorisierungen und Zuschreibungen sich ständig verändern und gesellschaftlichen Bedingungen anpassen.
Hier liegt eine Schwierigkeit von Critical Whiteness: Sicher ist es ist keine Lösung, einfach so zu tun, als wären alle Menschen gleich, solange es in der Wirklichkeit nicht so ist. Gleichzeitig kann bei einer unkritischen Nutzung des Konzepts der Eindruck entstehen, es handele sich bei Schwarz und Weiß um unveränderbare Kategorien, die unauflösbar mit ihren Träger_innen verbunden sind. Dieses Dilemma lässt sich nicht vollständig auflösen, macht aber deutlich wie wichtig es ist, die Wandelbarkeit rassistischer Kategorien in den Blick zu nehmen. Rassismus geht durch gesellschaftliche Gruppen hindurch und lässt sich nicht klar auf zwei Gruppen verteilen, von denen die einen Täter und die anderen Opfer sind.
Gleichzeitig ist es wichtig, den Rassismusbegriff nicht beliebig auszuweiten. Wenn die CDU-Familienministerin Kristina Köhler es als Rassismus bezeichnet, wenn Deutsche als „Kartoffeln“ beschimpft werden, ist das Blödsinn. Natürlich ist es doof, wenn Leute angemacht werden, egal weswegen. Aber„Kartoffel-Sein“ führt wie oben gezeigt nicht dazu, strukturell von Benachteiligung und Ausgrenzung betroffen zu sein.
Privilegien für alle!
Ein großer Verdienst von Critical Whiteness ist es, die Blickrichtung zu drehen. Dadurch wird deutlich, dass Dinge, die von der Mehrheitsgesellschaft als Normalität begriffen werden, für viele Menschen aufgrund rassistischer Ausschlüsse eben nicht selbstverständlich sind. Um diesen Perspektivwechsel deutlich zu machen, wird manchmal Begriff des „Privilegs“ benutzt. Dieser Begriff drückt aus, dass Dinge nur von einer kleinen Gruppe auf Kosten anderer Menschen genossen werden können. Problematisch ist, dass der Begriff den Eindruck erwecken kann, dass z.B. ein angstfreies Leben eine Ressource ist, die immer nur wenige Menschen auf Kosten von anderen genießen können.
Dinge, die für alle Menschen eine Selbstverständlichkeit sein sollten, erscheinen dadurch als etwas besonderes, für das man ein schlechtes Gewissen haben sollte. Dabei spricht nichts dagegen, dass alle immer und überall Regionalbahn fahren könnten, ohne belästigt zu werden!
Aktuell ist es noch häufig so, dass die Aussichten für Menschen mit „deutsch klingendem“ Nachnamen besser sind, etwa bei der Wohnungssuche, weil ein Teil der Mitbewerber_innen schon wegen ihrem „ausländisch klingenden“ Nachnamen schlechtere Chancen hat.
Aber dass überhaupt ein Wohnungsmarkt existiert, auf dem Menschen um angemessenen Wohnraum konkurrieren müssen, ist kein Naturgesetz. Es ist eine Folge davon, dass im Kapitalismus Häuser gebaut werden, um Profite zu erwirtschaften – und nicht um das menschliche Bedürfnis nach Wohnraum zu befriedigen.
Wer sagt was?
Das Konzept „Critical Whitness“ betont berechtigterweise, dass bei Debatten über Rassismus Menschen, die davon negativ betroffen sind, unbedingt gehört werden müssen. Dies darf aber nicht dazu führen, dass persönliche Erfahrung und politische Analyse gleichgesetzt werden. Dass also nur wichtig ist, wer spricht, und nicht, was die Person sagt. Menschen ernst zu nehmen, heißt nämlich auch, nicht zu denken, dass Leute aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen ganz bestimmte politische Einstellungen haben werden. Und es heißt, ihre politische Positionen zu hinterfragen, zu kritisieren, mit ihnen zu diskutieren. Solange Ungleichheit entlang rassistischer Teilungen existiert, solange muss sie auch benannt werden. Antirassistische Politik darf aber nie das Ziel aus den Augen verlieren, die rassistischen Kategorien von Schwarz und Weiß zum Verschwinden zu bringen.
Zum Weiterlesen:
Eggers/ Kilomba/ Piesche/ Arndt: „Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland“, erschienen 2009 bei Unrast, 549 Seiten, 24 Euro.
Karakayali/ Tsianos/ Karakayali/ Ibrahim: „Decolorize it!“ – Artikel, der sich kritisch mit Critical Whiteness auseinandersetzt.
Interview mit Vassilis Tsianos über deutschen Rassismus und Identitätspolitik
Eine theoretische Einführung ins Thema „Wo kommst du her?“ von Mutlu Ergün. Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Kara Günlük. Die geheimen Tagebücher des Sesperado“