„Wir können doch nicht alle aufnehmen!“

Text v češtině

Von vollen Booten und leeren Tellern.

Sie kommen ins Land auf der Suche nach einem besseren Leben. Geben sich nicht die Mühe, die Sprache zu lernen, bleiben lieber unter sich, leben in Parallelgesellschaften mit eigenen Vereinen und Clubs. Sie wollen nicht arbeiten und haben zugleich das Gefühl, ihnen stehe alles zu. Und es werden immer mehr, ein Ende ist nicht abzusehen.
Die Rede ist von deutschen Rentner_innen in Spanien und der Türkei. Viele werden jetzt über diese deutschen Migrant_innen schimpfen: „Andere“ Kulturen müssten respektiert und das Gastrecht nicht strapaziert werden, das wäre ja klar.

Mit diesem Beispiel lässt sich schon eine Menge zeigen, was in der Debatte über „Ausländer“ und „Inländer“ falsch läuft. Ich will „Kulturen“ oder ein „Gastrecht“ nicht respektieren, sondern Menschen und ihre Bedürfnisse achten und dafür ganz grundlegend aus den Kategorien von „Wir“ und „die Anderen“ ausbrechen. Klar nerven selbstgefällige deutsche Tourist_innen, aber eben nicht deswegen, weil sie einer Kultur oder einem Land keinen Respekt zollen, sondern weil sie sich Menschen gegenüber herablassend und rassistisch verhalten. Wenn die Debatte über geflüchtete Menschen wieder mit dem Satz „Wir können doch nicht alle aufnehmen“ endet, frage ich nach. Wer ist denn dieses „Wir“? Warum sollen Menschen, die zufällig einen anderen Pass besitzen, weniger Grund haben irgendwoanders zu leben? Überhaupt will ich gar nicht einsehen, dass Menschen überflüssig oder illegal sein könnten. Und wenn dann noch der Satz fällt, „wir“ seien nicht „das Sozialamt der Welt“, wird es Zeit, über Fluchtgründe zu reden.

Every refugee is a political refugee
In Debatten über Flüchtlingspolitik sind sich viele einig: Menschen, die aus politischen Gründen flüchten, sollten aufgenommen werden, wirtschaftliche Gründe sollen jedoch nicht zählen. Abgesehen davon, dass auch politische Geflüchtete keinesfalls mit offenen Armen empfangen werden, ist die Unterscheidung totaler Blödsinn. Gerade Refugee Activists haben darauf hingewiesen, dass jeder Fluchtgrund politisch ist. Denn wenn Menschen aufgrund fehlender Perspektiven flüchten, weil die Konkurrenz des Weltmarkts ihre Region verwüstet hat, ist das politisch. (Und hat noch dazu mit den Industriestaaten zu tun, die Aktivist_innen sagen es mit „We are here because you destroy our countries“).

Nichts ist deswegen richtig an der Vorstellung, „wir“ seien „das Sozialamt der Welt“, ganz im Gegenteil. Was für die einen der Fluchtgrund ist, hat seine Ursache in der unerbittlichen Konkurrenz der Staaten untereinander: Deutschland kann nur zu den Gewinnern im weltweiten Wettbewerb gehören, weil es auch Verlierer gibt. Menschen flüchten aus vielen Gründen. Aber jeder Erfolg des deutschen Standortes erfolgt auf Kosten von Menschen in Ländern, die eben nicht Vize-Exportweltmeister sein können, weil irgendwer den ganzen Trash ja auch kaufen muss, der in D-Land hergestellt wird. So wird z.B. seit 2003 mit Hartz IV die Armut in Deutschland verstärkt und das Lohnniveau gesenkt. Das führte dazu, dass in Ländern, die nicht so krasse Einschnitte vorgenommen haben, Waren teurer produziert wurden als in Deutschland. Dieser Wettbewerb drückte die Länder in die Krise, weil die dort hergestellten Produkte nicht mehr gekauft wurden. Wenn dann verarmte Menschen aus diesen Ländern hier eine Perspektive suchen, stehen sie trotz EU-Pass ohne Sozialleistungen da. Seit 2012 bekommen sie kein Hartz IV mehr, das ihnen ihre Lage erst eingebrockt hat. Zugespitzt, aber wahr: Jedes Mal, wenn hier jemand sagt, man müsse den Standort fit machen, müssen Menschen irgendwo flüchten.

Vom Fortwirken kolonialer Herrschaftsverhältnisse
Alle Länder, die heute zum „Globalen Norden“ gezählt werden, haben direkt oder indirekt mit der gewaltsamen Unterwerfung und Ausbeutung von Ländern des „Globalen Südens“ zu tun. Auch Deutschland war maßgeblich an diesem weltumspannenden Gewaltverhältnis beteiligt. Das brutale Massaker, das deutsche Soldaten vor hundert Jahren an den Herero und Nama im Gebiet des heutigen Namibia verübten, war eine extreme Auswirkung davon. Dieses Gewaltverhältnis prägt bis heute die Gesellschaften der kolonisierten, aber auch der kolonisierenden Länder und besteht im Verhältnis von globalem Norden und Süden fort. Diese Weltordnung und das jahrhundertealte – hoffentlich nicht mehr lange – Gelaber von „Konkurrenz belebt das Geschäft“ und „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“, zwingt immer wieder Menschen zur Flucht.

„Betroffen aufessen“
Gerade in der Linken wird oft behauptet: „Wir leben auf Kosten der Menschen in ärmeren
Weltgegenden“. Auch so ein „Wir“, das die Sicht verkleistert. Das SaZ-Kollektiv ist ein bisschen
uneinig, wie der Zusammenhang vom höheren Lebensstandard in den Industrieländern und
den niedrigen Löhnen im globalen Süden aussieht. Wir werden das weiter diskutieren und in einer der nächsten Ausgaben mehr dazu schreiben, aber in einem sind wir uns einig: Auf Wohlstand hier zu verzichten verringert nicht die Armut anderswo. Ganz im Gegenteil: Die Folge hiervon im Kapitalismus wäre, dass die Lebensbedingungen auch in anderen Ländern sich noch mehr verschlechtern, damit sie im Abwärtswettbewerb Schritt halten können. Stattdessen müssen die Gesetzmäßigkeiten abgeschafft werden, die Staaten und Unternehmen dazu zwingen, sich für die Konkurrenz fit zu machen. Und durch den Kolonialismus geschaffene Ordnungen überwunden werden.

Einige sind gleicher?
Diese Gesetzmäßigkeiten und postkoloniale Ordnungen liefern auch die Gründe für die Fluchtabwehr. Und diese ist grausam. Die EU und die EU-Grenzschutztruppe Frontex morden meist im Stillen: Zwischen 1988 und 2012 starben an ihren Grenzen 18.673 Menschen, deren Name bekannt sind. Die reale Zahl dürfte weit höher liegen. Zur Einordnung die Zahlen eines anderen Todesstreifens: In 28 Jahren waren an der Mauer zwischen der DDR und der BRD insgesamt 136 bis 245 Tote zu betrauern. Jedes Grenzopfer ist eins zuviel, doch das sehen leider nur wenige so. Morgens einen Kranz für die Maueropfer abzulegen und nachmittags Abschiebungen anzuordnen ist dabei keine bewusste Heuchelei, sondern zeugt von rassistischem Denken: Die Opfer sind in diesem nicht gleichwertig, die einen gehören zum „Wir“ und Grenzmörder_innen sind eben immer die Anderen.
Nun hilft es nicht viel, einfach zu sagen, wir streichen diese Kategorien von „Wir“ und „den Anderen“, von „illegalen“ Menschen aus unseren Köpfen. Und verbrennen in Gedanken die Pässe und Visa. Auch wenn es der Anfang wäre, damit etwas besser wird. Aber diese Kategorien sind in der Welt, scheinen vielen selbstverständlich und vor allem werden sie sehr gewaltvoll durch Institutionen durchgesetzt. Es gibt Grenzen und die werden überwacht, es gibt Dokumente, die den Übertritt gestatten oder versagen. Wie die Grenzen verlaufen, kommt daher, dass z.B. irgendwann mal ein Fürst gegen einen anderen den Krieg verloren hat und deswegen ein Fluss nicht einfach ein Ort zum Baden ist, sondern die Grenze zum „anderen“ Land markiert. Ziemlich verrückt. Verrückter wird es nur noch, wenn die Leute an den unterschiedlichen Grenzflussufern mächtig viel Gefühl für „ihr Land“ entwickeln und ihm in der Konkurrenz mit dem Land auf der anderen Flussseite die Daumen drücken… .

„Weißt du noch, als wir alle zu viel waren“
Aber warum dürfen die Brücke über den Fluss nicht alle benutzen? Ein ziemlich wichtiger Grund für all die Fluchtabwehr ist der, dass Menschen in dieser Gesellschaft nicht einfach nur Jack und Jill, Siegfried und Roy und Ich & Ich sind. Menschen sind in der Marktwirtschaft so genanntes Humankapital. Das heißt, es gibt ein Interesse, ihre Arbeitskraft anzuwenden und sie zu kontrollieren. Wenn diese nicht benötigt wird, sind sie „zuviel“. Das gilt für alle, die nicht viel besitzen. Doch es gibt Unterschiede – Menschen mit der „falschen Hautfarbe“ oder dem „falschen Pass“ sind häufiger „zuviel“. Doch erstmal einen Schritt zurück: Was hat es mit dem „zuviel“ auf sich? Alle Arbeitskraft, die nicht Anwendung findet, ist erst einmal unrentabel. Nun kann niemand sagen, wann es zu viele Menschen sind, die nicht benötigt werden. Dieses
„zuviel“ ist umkämpft. Und gibt es doch auch als feste Größe. Ein wenig „zuviel“ ist für das Ausbeutungsregime noch sinnvoll, weil dadurch jede Person, die zuviel Lohn will oder
sich anderes von ihrem Leben vorgestellt hat, erpresst werden kann, weil immer welche auf ihren Job warten. Aber zu viele sollten nicht von Sozialleistungen leben, und wenn jemand davon ausgeschlossen wird, muss sie_er auch von irgendwas leben. Und Polizei und Gefängnisse für die zur Kriminalität gezwungenen Menschen kosten viel Geld. Und dann könnten die ja auch noch auf die Idee kommen, dass das Leben mehr sein könnte als Plackerei und Armut… Das, was hier „Öffentliche Ordnung“ heißt und mit Kontrolle, Einschüchterung und Klein-Machen übersetzt werden kann, ist teuer. Alles falsche Kosten, die in der Konkurrenz mit anderen Staaten zurückwerfen, weswegen versucht wird, so viele Menschen wie möglich an den Grenzen abzufangen und schon die Herkunftsländer auf grausame Fluchtabwehr zu verpflichten. Eine Weile war zum Beispiel der gestürzte Diktator Gaddafi der beste Freund des Westens, weil er für EU-Geld mit allen Mitteln afrikanische Flüchtlinge schon in Libyen stoppte. Meist werden parallel Abkommen geschlossen, nach denen einige Leute aus dem Land nach Europa kommen dürfen, was dann als humanitäre Tat verkauft wird. Dieses „Nur ihr kommt rein“ ist dabei nur die andere Seite von „Ihr bleibt draußen“. Und wer Green- oder BlueCards fordert oder bei der Anerkennung von ausländischen Studienabschlüssen nicht die Unterscheidung zwischen nützlichen und unrentablen Menschen kritisiert, ist kaum besser als die, die behaupten, das Boot sei voll. Nicht, dass solche Regelungen nicht das Leben Einzelner verbessern, aber doch nur insoweit sie dem deutschen Standort nutzen. Das ist Abschiebung und Frontex auf Rot-Grün, schön mit Solarboot und bleifreier Munition, aber genauso tödlich.
Also alles gleich, wieder nur die Antwort: Revolution? Nicht ganz. Okay, meistens reagierte Flüchtlingspolitik nur auf neue Bedingungen: So war mit dem Ende der DDR das Vorspielen von Humanität, mit dem man „dem anderen Deutschland“ seine Berechtigung absprach und deswegen alle Flüchtlinge von dort aufnahm, nicht mehr notwendig. Statt den rassistischen Mob zu bekämpfen, wurden seine Forderungen erfüllt und das ganze Asylrecht abgeschafft. Und doch bleibt die Frage, wann es hier zu viele „unrentable“ Menschen gibt und warum gerade Leute aus anderen Ländern immer „zuviel“ sein sollen, umkämpft. Hoffentlich führen diese Kämpfe auch dazu, dass eine Gesellschaft, in der Menschen „überflüssig“ sind, abgeschafft wird. Aber sicherlich können sie dazu führen, dass schon im Hier und Jetzt das Leben von Illegalisierten besser wird. Gerade die aktuellen Flüchtlingsproteste haben vieles erreicht. Diese zu unterstützen, wo das gewünscht ist, Strukturen für „illegale“ Menschen zu sichern und rassistischem Denken entgegentreten, ist ein Anfang. Der Anfang davon, dass irgendwann kein Mensch mehr illegal und auch kein Arbeitskraftbehälter ist. Und alle Menschen umziehen können, wohin sie wollen.

Weiter zum Thema:
The Voice-Kampagne – The VOICE Refugee Forum Germany – Flüchtlinge und Asyl in Deutschland

Text zur Abschottungspolitik von den Gruppen gegen Kapital und Nation (2005)