Was Rostock-Lichtenhagen mit der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zu tun hat.
Im August 2012 jährte sich das rassistische Pogrom gegen Migrant_innen in Rostock- Lichtenhagen zum zwanzigsten Mal. Zum Gedenken pflanzte Bundespräsident Gauck ausgerechnet eine deutsche Eiche als Zeichen für den Frieden. Wir wollen in diesem Artikel die Ereignisse von 1992 und ihre Hintergründe darstellen und zeigen, dass es keinen Grund gibt, ein staatliches Friedensangebot anzunehmen.
Doppelmist: Nationale Vereinigung und vereinigter Nationalismus
Nach der sogenannten Wiedervereinigung, der Zusammenlegung von DDR und BRD nach dem Ende des Kalten Krieges, jubeln viele, dass nun „endlich zusammengewachsen sei, was zusammengehöre“. Dass Menschen sich in den Armen liegen, weil eine gewaltsam gesicherte Grenze niedergerissen wird, klingt ja auch erstmal ganz sympathisch. Von Anfang an wird aber deutlich gemacht, wer nicht dazugehören soll: Menschen, die nicht als „deutsch“ gelten, werden ausgeschlossen. Die gewaltsam gesicherten Grenzen, die sie draußen halten sollen, stören die Mehrheit keineswegs.
Seit Ende der 1980er und noch stärker in den frühen 1990er Jahren häufen sich in diesem nationalistischen Klima die Angriffe auf Migrant_innen. Zu den bekanntesten gehören die gewaltvollen Aggressionen gegen Flüchtlingswohnheime in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 sowie die Brandanschläge auf Wohnhäuser in Mölln 1992 und Solingen 1993. Doch auch in anderen Städten kommt es zu zahlreichen Überfällen und Gewalt gegen einzelne Menschen oder deren Häuser. Die Ausschreitungen der rassistischen Mobs werden von Politiker_innen genutzt, um die Abschaffung des Asylrechts politisch durchzusetzen. Nach den Ausschreitungen, Brandstiftungen und tagelangen rassistischen Belagerungen in Rostock resümiert der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Rede im Bundestag: „Die Situation hat sich bedrohlich zugespitzt. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr einer tiefgehenden Vertrauenskrise in unseren demokratischen Staat. (…) Die Menschen erwarten von uns Lösungen, die greifen und die dem Missbrauch des Asylgesesetzes wirksam einen Riegel vorschieben.“
Nicht die rassistischen Pogrome werden als Problem dargestellt, sondern der vermeintliche „Asylmissbrauch“.
…und rassistische Hetze
Das Thema „Asyl“ war schon seit Jahren ein Schwerpunkt in der politischen Debatte in Deutschland. CDU/CSU übernehmen Themen und Argumente von NPD und anderen offen rechten Parteien. Das ist nicht nur eine politische Strategie, um deren Wähler_innenstimmen zu bekommen, sie teilen vielmehr ihre Ansichten. Deutschland durch die Wiedervereinigung größer zu machen, ist das eine Ziel, eine starke einige Nation zu sein, das andere. In den 1990ern suchen tatsächlich mehr Menschen Asyl in Deutschland und anderen europäischen Ländern als in den Jahren davor. Unter anderem die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien – an deren Entfachung Deutschland nicht unbeteiligt war – und das Ende der Sowjetunion sind Anlass zur Flucht. Statt mehr Wohnraum für Asylsuchende und eine gute Infrastruktur zu fordern, skandalisieren Politik und Medien die Einwanderung als Bedrohung für die „eigene“, die deutsche Bevölkerung.
Bündnis zwischen Mob und Elite
Der Begriff des „Asylmissbrauchs“ wird erfunden und von zahlreichen Journalist_innen aufgegriffen: Menschen aus anderen Ländern würden sich Asyl in Deutschland erschleichen, obwohl es ihnen nicht zustehe. Diesem Missbrauch müsse ein Ende gesetzt werden. Menschenverachtende Bilder und Begriffe verleihen Bedrohungsszenarien Ausdruck, die bis heute die Vorstellung von und das Sprechen über Migration prägen. Es wird von „Flüchtlingsströmen“ gesprochen, die das Land überfluten, oder vom „Boot“, das bereits voll sei und unterzugehen drohe.
Die Politiker_innen verstehen es als ihre Aufgabe, das „wiedervereinigte Deutschland“ gegen angebliche Gefahren von außen zu verteidigen. Entsprechend gestalten sie die Flüchtlingspolitik in Deutschland: Aufnahmestopps für bestimmte Gruppen, erschwerte Bedingungen und miese Unterbringung und Versorgung sollen die Einreise massiv erschweren. Doch nicht nur Medien und Politik treiben die Hetze an: Nationalistische und offen neonazistische Gruppen haben im Zuge der Vereinigung von DDR und BRD viel Zulauf und können beim Rest auf stille Zustimmung hoffen. Neonazis werden dabei in der Öffentlichkeit kaum als Gefahr begriffen. Allein der Bereitschaft zur offenen Gewalt und ihrer Absage an bürgerliche Normen steht man skeptisch gegenüber. Ihren Nationalismus, das Stolzseinwollen auf Deutschland, teilen viele.
Selbst als die Angriffe schon zahlreiche Menschenleben gekostet haben, werden der in der Gesellschaft weit verbreitete Rassismus und die staatliche Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge nicht als Skandale erkannt. Die Ausschreitungen werden als unbeholfener Ausdruck von Wut, Angst und Überforderung der deutschen Anwohner_innen gedeutet, mit der sie die Politik zum Handeln auffordern wollten.
Rostock-Lichtenhagen 1992
Entsprechend der Flüchtlingspolitik der meisten Bundesländer sorgt der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern dafür, dass Asylsuchende aus Rumänien in der Zentralen Aufnahmestelle (ZAst) im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen untergebracht werden. Die hygienischen und räumlichen Zustände sind wie in vielen Sammelunterkünften in dieser Zeit so schlecht, dass sie im Sommer 1991 sogar von den Vereinten Nationen bemängelt werden. Der Rostocker Innensenator lehnt aber Verbesserungen ab. An den Zuständen stören sich auch deutsche Jugendliche. Anstatt sich aber gegen die skandalösen Verhältnisse zu wenden, greifen sie Geflüchtete an, die ihnen nicht ins Stadt- und Weltbild passen.
Auch ein Blick in die Lokalpresse zeigt ein einstimmiges Bild: In Leserbriefen und Artikeln werden rumänische Flüchtlinge als Kriminelle beschimpft. Am Samstag, 22. August 1992, versammeln sich mehrere tausend Menschen vor der ZAst und demonstrieren ihren Rassismus. Ab dem frühen Abend fliegen Steine, Flaschen, Leuchtraketen und Brandsätze. Vermummte rufen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ und „Sieg Heil“. Auch ohne Vermummung, also offensichtlich ohne Angst vor Verfolgung, wird der anwesenden Presse auf rassistisch erklärt, warum hier Menschen angegriffen werden: „Unsere Protestaktion, die richtet sich gegen die angeblichen rumänischen Asylanten. Für uns sind das, auf Deutsch gesagt, Dreckschweine“ erklärt ein Anwohner einem Fernsehteam, nachdem er bekräftigt hat, „weißgottnicht“ ausländerfeindlich zu sein.
Brennende Häuser und klatschendes Publikum
Die Polizei stellt sich dem Mob nicht entgegen, sondern lässt sich von den demonstrierenden Rassist_innen vertreiben. Am nächsten Tag versammeln sich Tausende vor der ZAst. Unter ihnen sind organisierte Neonazis, die aus anderen Städten angereist sind, aber auch zahlreiche „ganz normale Deutsche“. Ein Imbissstand versorgt den Mob mit Bratwurst und Bier. Das Haus und seine Bewohner_innen werden aus der Menge heraus mit Flaschen und Steinen angegriffen und rassistische Parolen gerufen. Die Menge spendet den Angreifenden Schutz und Beifall. 350 Cops sind vor Ort, lösen die Menge aber nicht auf. Bei einer antifaschistischen Demonstration gegen die rassistischen Ausschreitungen nehmen sie dagegen 60 Menschen fest.
Am Montag, 24. August, werden die Asylsuchenden aus der ZAst in andere Städte evakuiert. Der Innensenator nennt es „das Problem ernst nehmen“. Als sich abends wiederum Tausende versammeln, dieses Mal vor dem benachbarten Sonnenblumenhaus, zieht die Polizei zunächst einen Großteil ihrer Kräfte ab. Als der Mob das Gebäude – in dem überwiegende vietnamesische „Gastarbeiter_innen“ wohnen – anzündet und stürmt, verlässt sie schließlich ganz den Tatort. Ohne Polizeischutz kann die Feuerwehr erst eineinhalb Stunden nach ihrem Eintreffen mit den Löscharbeiten beginnen. 120 Bewohner_innen können sich in letzter Minute über das Dach retten. Viele von ihnen werden wenig später abgeschoben; die „deutschen“ Mieter_Innen hingegen erhalten wegen der Brandschäden einen Mietnachlass.
Die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und die fast täglich stattfindenden Angriffe und Anschläge auf Migrant_innen und Geflüchtete werden von großen Teilen der Politik als „Überforderung“ der deutschen Bevölkerung gewertet. Nur halbherzig werden die gewaltsamen Ausschreitungen verurteilt. Die Angriffe werden vielmehr als Anlass genommen, die schon länger von der CDU/CSU geforderte Änderung des Asylgrundrechts im Grundgesetz umzusetzen: Wenige Monate nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wird am 6. Dezember 1992 der sogenannte „Asylkompromiss“ zwischen der Koalition aus CDU/CSU/ FDP und der SPD-Opposition vereinbart und am 26. Mai 1993 die Grundgesetzänderung verabschiedet. Das Grundrecht auf Asyl in Artikel 16 wird durch den Artikel 16a ergänzt, der ihn faktisch aushebelt.
Das deutsche Asylrecht schränkt nun die Möglichkeit, Asyl in der BRD zu bekommen, massiv ein. Unter anderem wird die sogenannte Drittstaatenregelung eingeführt. Sie besagt, dass Menschen, die über ein „sicheres Drittland“ (also ein Land, in denen ihnen keine Verfolgung droht) in die BRD einreisen, um hier Asyl zu beantragen, keinen Anspruch auf dieses Grundrecht haben. Die Folge ist die Abschiebung zurück in das jeweilige Drittland. Da alle benachbarten Staaten Deutschlands als sichere Drittstaaten gelten, bleibt einzig die Einreisemöglichkeit per Flugzeug. Doch dafür gibt es bereits das sogenannte Flughafenschnellverfahren, bei dem in kurzer Zeit vor Ort inhaftiert, geprüft und „rückgeführt‘‘ wird.
Antirassismus gegen den Staat
Rund 74 Prozent der Deutschen sprechen sich im Februar 1992 in einer Umfrage für die Grundgesetzänderung aus. Für die Hetzer_innen in Presse und Politik, den Mob von Rostock-Lichtenhagen, die organisierten Neonazis aber auch für Teile der Bevölkerung, die ihnen zustimmen, ist diese rassistische Grundrechtseinschränkung ein großer Erfolg. Für Geflüchtete ist es seitdem fast unmöglich, in Deutschland einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu bekommen. Große Teile der Bevölkerung sorgen sich mehr um das Ansehen Deutschlands im Ausland, als um das Wohl der bedrohten und ausgegrenzten Menschen. An „Lichterketten“, die das internationale Ansehen Deutschlands verbessern sollen, nehmen Hunderttausende teil. Selbsthilfe und Solidarität mit den Betroffenen werden gegen den Staat und weite Teile der Bevölkerung organisiert: Aus der Erfahrung, dass die Polizei keinen Schutz gewährleistet, schließen sich Migrant_ innen zur Interessenvertretung und Selbstverteidigung in Gruppen wie der Antifa Gençlik zusammen, während Autonome Antifa- und Antira-Gruppen praktische Solidarität üben.
Alles muss man selber machen
Die Situation und das gesellschaftliche Klima haben sich seit den 1990ern verändert. Der NSU-Skandal und der alltägliche Rassismus, der Migrant_innen staatlicherseits und von weiten Teilen der Bevölkerung entgegenschlägt und Gesten wie die „Friedenseiche“ machen deutlich, dass der Kampf gegen Rassismus und Nazis nach wie vor in die eigene Hand genommen werden muss. Im Zweifelsfall auch gegen die Einstellungen der Bevälkerungsmehrheit und erst recht gegen den Staat.
Weiter zum Thema:
Fight Racism Now
Kampagne zum 20. Jahrestag (2013) der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und dem Mordanschlag in Solingen.