„Brecht die Residenzpflicht!“

Ein Interview mit einer Aktivistin der Refugee-Proteste.

Über 600 km sind sie gelaufen, bevor sie im Oktober 2012 in Berlin angekommen sind. Bereits im März 2012 begann der Protestmarsch der Flüchtlinge. Startpunkt der Öffentlichkeitskampagne war ein Asylbewerber_innenheim in Würzburg. Von hier aus machten die Aktivist_innen in verschiedenen Asylbewerber_innenheimen und Städten in der Bundesrepublik halt, um schließlich Berlin-Kreuzberg zu erreichen. Hier am Oranienplatz existiert seitdem ein Refugee-Camp. Die Geflüchteten protestieren gegen die rassistische Asylpolitik in Deutschland. Konkret fordern sie die Abschaffung der Residenzpflicht, bei der sich die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge auf einen Bezirk, Kreis oder ein Bundesland beschränkt.

Außerdem verlangen sie die Schließung aller Flüchtlingslager in Deutschland. Diese liegen meist völlig außerhalb und fernab von öffentlicher Infrastruktur, wodurch die Heimbewohner_innen von Gesellschaft und Gesundheitsversorgung abgeschottet leben müssen. Durch die Isolierung sind sie vor rassistischen Angriffen nicht geschützt. Im Dezember letzten Jahres besetzten die Flüchtlinge eine leerstehende Schule in Kreuzberg, die nun als „Refugee Strike House“ genutzt wird. Im Rahmen eines Interviews berichtet uns Napuli als Aktivistin der Proteste von ihren persönlichen Erfahrungen zu den Themen Flucht, Asylgesetzgebung und Protestbewegung:

Warum bist du geflüchtet?
Der Grund sind die vielen Probleme in meinem Land. Ich habe im Sudan bei einer Menschenrechtsorganisation gearbeitet. Aber dort werden Journalist_innen und Aktivist_innen kriminalisiert. Es gibt viele Gründe, warum ich gegangen bin.

Du warst also schon politisch aktiv, bevor du nach Deutschland gekommen bist?
Ich hatte zumindest politische Ansätze, da ich eine Menschenrechtsaktivistin war. Und natürlich war ich gegen die Politik in meinem Land.

Wie lange bist du schon hier und warum gerade Deutschland?
Ich bin seit Juli letzten Jahres hier. Ich habe mir Deutschland aber nie ausgesucht. Ich wusste immer, dass dies kein Platz ist, an dem es mir gut gehen wird. Ich denke, es waren die Verbindungen, denn ich kannte schon einige Leute hier. Aber wir kennen die Geschichte Deutschlands, ich kannte sie auch vorher schon. Deutschland will uns nicht. Sie geben dir einen Käfig. Man fühlt sich wie ein Fisch im Aquarium: Du schwimmst und schwimmst, bis du irgendwann müde wirst. Entweder du wirst verrückt oder du stirbst. Die ganze Zeit in diesem Käfig, nur essen und schlafen, essen und schlafen. Das ist es, was sie wollen.

Wie ist dein rechtlicher Status?
Das weiß ich nicht, ich muss abwarten. Ich habe keine Papiere und das seit neun Monaten. Nichts, nur warten. Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, wie lange noch. Mir wurde gesagt, sechs Monate sind das Maximum. Danach bekommst du deine Papiere oder du wirst zurückgewiesen. Ich warte aber bereits seit neun Monaten. Oh mein Gott, vielleicht muss ich noch 20 Jahre warten, keine Ahnung. Ich will das nicht mehr, dieses ständige Warten. Deswegen bin ich hier draußen.

Wie geht ihr mit der beständigen Angst und Bedrohung um, die sich sicherlich ergibt, wenn man die Residenzpflicht übertritt?
Unser Schutz ist die Öffentlichkeit. Ich hab keine Angst mehr. Die Polizei lässt uns in Ruhe. Einmal, das war noch ganz am Anfang, kamen Polizist_innen zum Oranienplatz, die uns kontrollieren wollten. Also sind wir alle nach vorne zur Straße gekommen. Aber die Polizist_innen wollten in unsere Zelte hinein. Wir fragten sie nach dem Grund, denn in den Zelten war niemand mehr. Doch die Polizei wollte nicht hören und ging in die Zelte. Natürlich war niemand darin. Sie waren sehr wütend und sind dann einfach wieder gegangen. Ein bisschen verwirrend. Seitdem sind sie nur noch selten da. Und sie kommen nicht mehr in unsere Zelte.


Diese Art von Flüchtlingsprotesten sind ja total neu: Was war anders als früher?

Wir sind anders, weil wir nicht nur reden. Wir setzen das um und tragen unsere Forderungen auf die Straße. Alle, die hier sind, haben bereits zwei Regeln gebrochen: In Lagern zu leben und die Residenzpflicht einzuhalten. Wir sind im Protest, wir sind in Aktion, einfach nur, weil wir hier sind. Es gibt natürlich auch viele andere Proteste und Aktionen, die wir von hier aus starten. Aber vor allem sagen wir unseren Leuten: Brecht die Residenzpflicht! Es ist dein Recht, raus zu gehen, es ist dein Recht, dich zu bewegen. Niemand sollte uns dieses Recht nehmen dürfen. Das ist, was uns besonders macht. Wir nehmen uns unsere Rechte, gehen damit auf die Straße und bleiben dort.

Wie sieht ein typischer Tag im Camp für dich aus?
Ich bin ziemlich beschäftigt, was auch daran liegt, dass ich die einzige Frau in der politischen Organisationsgruppe bin. Es gibt natürlich viele andere Frauen, aber sie sind nicht politisch organisiert. Viele brauchen einfach nur einen Platz zum Schlafen. Es gibt jeden Tag viele Termine – oft ist es wichtig für die Leute, dass ich erscheine, weil ich eine Frau bin. Außerdem spreche ich englisch. Ständig muss ich bei Treffen sitzen und übersetzen. Das ist schon anstrengend.

Ist es schwer für dich in der Bewegung eine Frau zu sein?
Sehr sehr schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, die anderen wollen mich einfach nur wütend machen. Dann ist es sehr kompliziert, mit ihnen umzugehen. Manche sagen mir, ich solle zurück in die Küche zu den anderen Frauen gehen. Inzwischen werde ich akzeptiert, aber auch das musste ich mir erstmal erkämpfen.

Wie ist die Situation in der Schule?
In der Schule schlafen inzwischen fast 200 Menschen. Einige schlafen in den Korridoren, weil die Zimmer alle schon voll sind. Aber ansonsten passiert in der Schule nicht viel. Sie ist nur zum Schlafen da, gegessen wird im Camp. Die Treffen und Plena sind beim Camp. Dort ist der Schwerpunkt unseres Protest, dort sind wir sichtbar.

Gibt es im Camp auch Konflikte?
Natürlich gibt es Konflikte, meistens persönliche. Aber das ist auch total klar. So ist eben unsere Bewegung: Wir haben unterschiedliche politische Vorstellungen, das ist alles ziemlich kompliziert. Wir müssen einander verstehen, nicht nur sprachlich. Aber irgendwie funktioniert es eben trotzdem. Wir kämpfen alle gemeinsam für unsere Rechte. Niemand hat mich gefragt, ob ich das hier tun kann. Aber ich will nicht mehr wie ein Fisch im Aquarium sein. Ich will kämpfen. Für uns und die Menschen, die nicht hier sein können.

Was gab es für positive bzw. negative Reaktionen der Nachbarschaft?
Die Reaktionen waren zum Teil sehr aggressiv. Sie denken: Wer sind diese Leute und was tun sie hier? Aber sie sind freundlicher geworden. Es gibt viele Menschen, die uns helfen. Sie lassen uns bei sich duschen und unsere Sachen waschen. Oft bringen Menschen Kleidung oder Essen zum Camp. Manche Menschen wollen uns natürlich immer noch nicht da haben. Der Frühling kommt und die Leute gehen wieder raus. Sie wollen Platz haben, die Kinder spielen lassen. Dabei stört sie unser Camp. Sie sollten viel eher mit uns für unsere Rechte kämpfen – wenn wir unsere Rechte haben kriegen sie auch den Oranienplatz zurück. Es ist doch nicht in unserem Interesse, dort wohnen zu bleiben.

Wie kann zu euren Kämpfen beigetragen werden?
Im Moment benötigen wir vor allem finanzielle Hilfe. Aber wir brauchen auch Menschen, die Schichten beim Infopoint übernehmen.
Auch einfach nur bei uns vorbeizukommen und mit uns zu sprechen bedeutet viel. Die Menschen sind dann sichtbar für uns und wir haben das Gefühl, dass sie für uns da sind. Es ist wichtig, dass unser Protest verbreitet wird. Dass die Menschen wissen, wofür wir kämpfen. Je mehr Leute davon wissen, desto mehr setzen wir die Politiker_ innen unter Druck.

Vielen Dank für das Interview.

Weiter zum Thema:

www.refugeetentaction.net – nicht mehr betreute Seite, bis 2013

News of Berlin Refugee Movement – from inside

The VOICE Refugee Forum

Caravan – for the rights of refugees and migrants

Übersicht über migrantische Selbstorganisationen in Deutschland