Weiblich, männlich, anderes

„Geschlecht“ ist ein Merkmal, das uns alle stark prägt. Ob die Zuweisung bei der Geburt oder die Zuschreibung von anderen oder mir selbst: das, was wir angeblich sind, ist an gesellschaftlichen Normen und Regeln orientiert. Doch wie werden wir zu „Männern“ und „Frauen“ gemacht und was macht das mit uns?

Auf den ersten Blick scheint alles klar und festgelegt. Es gibt Jungen, sie kommen mit einem Pimmel auf die Welt, spielen gerne mit Feuerwehrautos und später werden sie mal Ingenieur, und es gibt Mädchen, sie haben eine Vulva, lieben Puppen und später ihre Kids. Hört sich ganz schön bescheuert an, und ist es auch. Obwohl es in der Realität allgegenwärtig ist und reale Auswirkungen hat, so einfach ist die Sache mit dem Geschlecht und allem drum herum gar nicht: Biologisches Geschlecht, chromosomales Geschlecht, hormonelles Geschlecht oder Hebammen-Geschlecht, dazu noch gefühltes und soziales Geschlecht, um nur ein paar der gängigsten Kategorien zu nennen. Hmm… Ganz schön viel. Was zählt denn nun? Gute Frage, andererseits auch wieder nicht. Denn die Frage müsste ja lauten: Warum ist es denn so wichtig, welches Geschlecht wir haben?

Im Kreischsaal fängt ́s an
Im Moment, in dem wir geboren werden, geht’s schon los. Die einen Schreihälse bekommen im Krankenhaus ein blaues, die anderen ein rosafarbenes Armbändchen. Damit soll uns klar gemacht werden, dass es zwei Geschlechter gibt – „Jungs“ und „Mädchen“. Der Brüller namens Geschlechteraufteilung bestimmt dann auch die gesamte – begriffliche und gedankliche – Vorstellungswelt in unserer Gesellschaft, ob bei der Wahl des Klos in der Kneipe oder beim Ankreuzen des Geschlechts in irgendeinem Formular. Dazu werden den Geschlechtern gleich mal ebenso unterschiedliche Eigenschaften zugesprochen: der typische blau gekleidete Junge hat seine Emotionen unter Kontrolle, ist zielstrebig, ehrgeizig und durchsetzungsstark. Das rosa tragende Mädchen gilt als emotional, sozial orientiert, sicherheitsbedürftig und intuitiv. Diese Zuschreibungen, die in unserer Gesellschaft als typisch für ein Geschlecht angesehen werden, werden mit dem englischen Begriff „Gender“ beschrieben: Sie sind gesellschaftlich gemacht und erwartet. Ein Leben lang spielen wir dann dieses Theater. Zum Schreien!

Bio? Gar nicht logisch!
Neben der sozialen Geschlechterrolle gibt’s natürlich noch die körperlichen Geschlechtsmerkmale, die allgemein mit dem englischen Begriff „sex“ bezeichnet werden. Und in der Tat hat bei der Frage, wie denn Geschlechter aufgeteilt werden sollten, vor ca. 150 Jahren die Biologie gewonnen. Sie unterscheidet aufgrund von so genannten Geschlechtsmerkmalen in zwei Geschlechter: nämlich Männlein und Weiblein. Alles, was dazwischen steht, wie intersexuell Geborene, also Menschen mit beiden Geschlechtsmerkmalen, wird immer noch als Störung der Geschlechtsentwicklung gesehen. Auch heute noch werden diese Menschen – teils auch zwangsweise – in ein den Ärzt_innen genehmes Geschlecht gepresst. Sie müssen teils dutzende Operationen über sich ergehen lassen, um in eine der beiden Kategorien der Geschlechterordnung zu passen. Hinzu kommt, ebenso wie bei transsexuellen Menschen, dass ihr Leben ob mit oder ohne OP oft von Gewalt, gesellschaftlicher Diskriminierung und Stigmatisierung geprägt ist.

XXXYXXYXO?!
Doch selbst Biolog_innen sind sich darüber im Klaren, dass Geschlecht gar nicht eine so eindeutige Kategorie ist, wie landläufig angenommen wird. Alles fängt damit an, dass es verschiedene Zusammensetzungen von Chromosomen gibt. Viele von euch kennen aus dem Biounterricht sicher noch die Einteilung: Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer XY-Chromosomen und daneben gibt’s Menschen mit XXY- oder XO-Chromosomen. Diese Merkmale machen das chromosomale Geschlecht aus. Doch so einfach ist auch diese Einteilung nicht. Es gibt z.B. Frauen mit XY-Konstellation. Und nu? Hinzu kommen dann hormonelle Einflüsse – Testosteron und Östrogen als die bekanntesten Vertreter. Während der Embryonalentwicklung, Kindheit und Pubertät prägen und beeinflussen diese uns langfristig und sorgen für unterschiedliche Genvarianten von „Frauen“ und „Männern“. Ob und wie das alles im Zusammenspiel zu welchen äußerlichen Geschlechtsmerkmalen, die ja so wegweisend sein sollen, steht, ist auch nicht mit hundert-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu sagen. Dennoch wird bzw. werden wir danach gemacht. Wie wenig sich selbst der Mainstream im Klaren darüber ist, wer jetzt wie genau einzuordnen ist, zeigt zum Beispiel die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya: Sie gewann bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 in Berlin die Goldmedaille im 800-Meter-Lauf und musste sich danach vielen entwürdigenden Tests unterziehen, bei denen ihr Geschlecht geklärt werden sollte. Der IAAF- Generalsekretär teilte dazu der Presse mit: „Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent.“

Selbst biologisches Geschlecht ist also von vielen Faktoren abhängig und kann nicht einfach mal so klar bestimmt werden, vielmehr gibt es eine angelegte Varianz. Ganz abgesehen von der Rolle der sozialen Umwelt und ihrer Wirkung auf die Geschlechtsentwicklung samt -verhalten. Festgehalten wird dennoch am Modell der Zweigeschlechtlichkeit.

Die Gesellschaft macht ́s
Die Vorstellung von biologischen Geschlechtern schließt dabei aber nur an kulturell etabliertes Alltagswissen von einer vermeintlichen Zweigeschlechtlichkeit an. Die Biologie guckt bereits mit der rosa-blau-Brille und der Körper wird eben unter der Maßgabe Zweigeschlechtlichkeit interpretiert. Die Zuweisung „Du bist!“ ist demzufolge eher „Werde so!“. Dementsprechend wird so auch unser Verhalten (vor)bestimmt. Was also im Kreißsaal mit einem blöden Armband anfängt, findet in unserem weiteren Leben dann auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt: Die mit dem rosa Armband haben die Bravo-Girl mit den neuesten Beauty-Tipps und Berichten zur süßen Boy-group zu lesen, sich in der Schule für Kunst zu interessieren und danach einen sozialen Beruf zu erlernen. Kommen die mit dem blauen Armband dagegen auf die Idee, sich die Fingernägel zu lackieren oder ein „Mädchenhobby“ wie Ballett oder Reiten zu haben, finden das viele ganz schön komisch.

Auf ganz unterschiedlichen Ebenen – im ökonomischen, politischen und kulturellen Bereich – werden wir so zu „Männern und Frauen“ gemacht. Da wir diese Geschlechterordnung oft unhinterfragt als selbstverständlich hinnehmen, sehen wir auch unsere Umwelt jeden Tag durch die rosa-blaue-Brille. Der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit ist von vielen so weit verinnerlicht, dass die Frage, ob „der Typ mit den langen Haaren da jetzt ́n Mann oder ́ne Frau“ sei, auch auf alternativen Partys bedenkenlos gestellt wird. Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage angekommen wären, warum diese Einordnung denn so wichtig ist. Denn eines sollte mittlerweile klar sein: Die Beschreibung von Geschlecht ist eine von gesellschaftlichen bzw. politischen Vorstellungen geprägte soziale Praxis und kein direktes Abbild irgendeiner vermeintlichen Natur. Ferner, wenn es so wäre, ließe es sich eben auch nicht so einfach auf zwei Geschlechter reduzieren, wie wir am Beispiel der Biologie sehen. Das Merkmal Geschlecht bzw. die geschlechtsspezifischen Rollen und andere Zuschreibungen sind das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, und eben nicht wie zumeist angenommen ihr Ausgangspunkt. Drum lass dir dein Leben nicht von Rosa und Blau diktieren und entscheide selbst, ob du lieber Boxen und Ponys oder Minirock und Mathe cool findest.

Zum Weiterlesen:
– Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“, erschienen bei Suhrkamp.
– Die ARTE-Dokumentation „Tabu Intersexualität“