Die BRD und die Marktwirtschaft – Eine Liebesgeschichte
Geschichtsunterricht kann in der Schule manchmal nervig sein. Da wird z.b. die soziale Marktwirtschaft mit ihrem genialen „Vater“ Ludwig Erhardt abgefeiert, weil sie sich in der Nachkriegs-BRD gegen andere Wirtschaftsformen durchsetzte, etwas später den „Wiederaufbau“ und das Wirtschaftswunder hervorbrachte, und somit Deutschland wieder zu einer der großen Industrie-Nationen machte. Garniert wird das alles mit Bildern von Schaufenstern, die die Marktwirtschaft unmittelbar nach ihrer Wiedereinführung „über Nacht“ endlich wieder mit Waren füllte. Dabei wird indirekt behauptet, dass die Bevölkerung von dieser Entwicklung ausschließlich profitierte, und geradezu dankbar dafür war.
Wer nun aber die Verhältnisse (zum Beispiel die Marktwirtschaft aka Kapitalismus), unter denen die Menschen leben, für nicht so rosig hält, und eigentlich glaubt, dass irgendetwas daran fundamental falsch sein muss, kann angesichts eines so sinnstiftenden Blicks auf die Geschichte schon mal an der eigenen Sichtweise zweifeln. Wenn so etwas Unveränderliches wie die Vergangenheit den Beweis dafür liefert, dass z.b der Kapitalismus die „richtige“ Form des Wirtschaftens ist, dann muss das doch stimmen. Oder etwa doch nicht?
Mit dieser und diversen anderen Fragen befassen sich die Verfasser_innen des Buches „Zwischen Ignoranz und Inszenierung“. Sie zeigen anschaulich, wie die Vergangenheit benutzt wird, um die gegenwärtigen Verhältnisse zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung geschieht nicht etwa mittels geschichtlicher „Lügen“. Vielmehr werden bestimmte Ereignisse der Vergangenheit hervorgehoben und mit der Gegenwart verknüpft, während andere unerwähnt bleiben. So entsteht ein Mythos.
Der Zugriff auf so einen Mythos ist praktisch. So kann, um auf das obige Beispiel zurück zu kommen, kritischem Hinterfragen des Kapitalismus einfach begegnet werden, indem auf vollendete historische Tatsachen verwiesen wird. „There is no alternative.“ Die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt, weil sie das historisch „Richtige” war, und die Geschichte scheint das zu beweisen. Es ist so wie es ist, weil es so kommen musste.
Aus diesem Geschichtsbild lässt sich auch die Rolle der Menschen darin ableiten. Sie sind dabei nicht handelnde Subjekte, sondern schwimmen im Strom der Geschichte, ohne die Richtung bestimmen zu können. Soweit, so bescheuert.
MythBusters!
Doch natürlich geben sich die Autor_innen alle Mühe, diesen und andere Mythen zu dekonstruieren. So wird zum Beispiel auf den Generalstreik eingegangen, an dem sich, als Reaktion auf die Wiedereinführung der Marktwirtschaft, am 12. November 1948 etwa neun Millionen Arbeitnehmer_innen beteiligten. Eine hohe Zahl angesichts der extremen Preissteigerungen, allerdings nicht verwunderlich. Die gefüllten Schaufenster machen sich zwar gut in Geschichtsbüchern, hatten aber nichts mit der Realität des Großteils der damaligen Bevölkerung zu tun, der sich diese Waren nicht leisten konnte. Freude über die neuen Verhältnisse sieht in jedem Fall anders aus, ganz anders als es die bürgerlichen Erzählungen rund um die Einführung der Marktwirtschaft vermuten lassen.
Dieses Beispiel zeigt, dass der Blick auf die Geschichte stets verschiedene Deutungen zulässt. Welche Schlüsse daraus gezogen werden, liegt immer im Auge des Betrachtenden.
Dies zeigen die Autor_innen an weiteren Beispielen. So beschäftigen sie sich auch mit dem Mythos der Stadt Dresden als „unschuldiger Stadt“, und der Erinnerungskultur mit der den deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges gedacht wird; der spanischen Bewegung „Contra la Impunidad“, die gegen die Straflosigkeit der Täter des Francoregimes kämpft; und der ideologischen Bedeutung des Zusammenbruchs der DDR für das gegenwärtige, „wiedervereinigte“ Deutschland.
Von dem etwas hochtrabenden Titel und der ziemlich theoretischen Einleitung sollte sich niemand abschrecken lassen. Der Großteil des Buches ist von nicht allzu theoretischer Natur und aufgrund der vielen unterschiedlichen geschichtlichen Bezüge fällt das Lesen leichter. Die Autor_innen schaffen es dabei, einen völlig neuen Blick auf das Verhältnis von Vergangenheit und Geschichte zu vermitteln. Und nicht zuletzt ist das Buch eine großartige Hilfe bei dem Versuch, im Geschichts- und Politikunterricht nicht den Verstand zu verlieren.