Hey, liebe Straßen aus Zucker- Redaktion,
wie fange ich an…? Ich bin in der 11. Klasse am Gymnasium in München und studiere nebenbei gerade Chemie. Damit ihr mich nicht gleich für den Nerd ohne Freunde und Hobbys haltet, will ich gleich dazu sagen, dass ich wahrscheinlich genauso gerne feiern geh, wie ihr (wovon ich, nachdem was ich gelesen habe ausgehe ;). Bis vor kurzem fand ich Politik ziemlich Scheiße. Zu allen die sich damit in meiner Nähe beschäftigt haben und darüber geredet haben, meinte ich : „hör doch auf mit deinem Scheiß“. Diese Einstellung kam vor allem daher, dass ich fand dass Politiker sowieso nur reden und nichts passiert. Also bringt es auch nichts selbst viel zu reden, denn man kann ja sowieso nichts machen.
Der Meinung, dass die Politiker viel reden und wenig dabei rauskommt, vor allem wenig sinnvolles, bin ich immer noch. Aber je mehr ich mich mit meiner Umwelt beschäftigt habe, ob es nun die Schule und das beschissene G8 in Bayern ist, dass ich nicht einfach so Party machen kann wie ich es manchmal gerne hätte, oder dass unsere Welt gerade den Bach runter geht und alle versuchen möglichst effizient weg zu schauen, dabei aber noch möglichst viel für sich selbst dabei rausholen und drauf scheißen, wie es den Leuten in 50 Jahren gehen wird, oder heute schon in anderen Regionen der Welt, denen ja „so bitternötig geholfen werden muss“. Je mehr man sich in den verschiedensten Richtungen informiert, desto mehr bekommt man Angst vor dieser Welt und was darin abgeht.
Jetzt bin ich eigentlich nicht unbedingt ein „Arbeiterkind“, sondern mein Vater sowie meine Mutter, bei der ich lebe, stehen wirtschaftlich recht gut da. Aber selbst dann, wenn man sich eigentlich keine Sorgen um seine Zukunft machen muss, merkt man ziemlich bald, dass hier einiges schief läuft. Vor allem wenn dann in der Schule auch noch die Banknachbarin Straßen aus Zucker-Leserin ist, jedes Wochenende im Marat sitzt oder wenn es sich gerade wieder anbietet nach Dresden fährt um sich mit Nazi-Schweinen zu Prügeln. Durch sie hab ich auch meine erste „Straßen aus Zucker“ bekommen und schon der Name war natürlich gleich interessant ;). Ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der etwas gegen solche einzuwenden hätte, genauso, wie mir inzwischen nicht mehr einleuchten kann, warum wir Menschen so viel Scheiße produzieren und es aber niemanden wirklich zu stören scheint. Außerdem sprecht ihr sehr viele Themen an, die einen, oder zumindest mich, aktuell beschäftigen, und interessieren. Deshalb will ich mich erst einmal persönlich und aber auch allgemein bei euch für eure Arbeit bedanken. Vor allem sind eure Texte auch größtenteils so geschrieben, dass die meisten Leute sie verstehen können.
Da setzt jedoch auch mein erster Kritikpunkt an, was hauptsächlich der Grund ist warum ich euch diese, jetzt doch schon länger werdende mail schicke:
Eure Argumentation ist an manchen Punkten meiner Meinung nach nicht ganz durchgezogen bzw. unvollständig. Auf Seite 9 (es geht um die 5. Ausgabe), wo es um den Ökostrom geht, gab es für mich beim Lesen so einen „Ja!? Und weiter? Das wars? Keine weiteren überzeugenden Punkte?“-Effekt, nachdem der „zuerst fällt auf“-Punkt über den Verbrauch von Strom in der Industrie und dann der „zudem“-Punkt, dass es zu teuer ist kommt und sofort auf den Bioladen übergegangen wird.
Als relativ allgemeinen (zweiten) Kritikpunkt würde ich gerne sagen, dass ich die Idee die in jedem eurer Texte als Grund für alles Schlechte, den Kapitalismus nennt, richtig und es kommt auch immer klar, logisch und eindeutig raus, dass es so ist, nur stellt ihr oft die Abschaffung desselben als einzigen Punkt dar, der überhaupt Sinn macht, ganz nach dem Satz: „it´s the system, stupid!“ Dieser Grundsatz ist zwar einleuchtend, aber dennoch bin ich der Meinung, dass nicht alles, was man hier, in dem leider nun mal gerade herrschenden System unnütz ist, sondern viele kleine und größere Aktionen Sinn machen und auch positive Wirkung haben. Bei euren Artikeln hab ich manchmal das Gefühl, vermittelt zu bekommen, dass alles was ich in meiner kleinen eigenen Welt ändere, ob es nun der Boykott von McDonalds ist, oder dass ich Ökostrom statt Atomstrom kaufe, wirkungslos ist. Ich glaube man mit dieser Argumentation Gefahr läuft, dass manche Leser sich denken: „Es gibt nur das eine große Ziel, alles andere ist egal“ und damit die Sensibilität verlieren auf viele Missstände aufmerksam zu werden.
So finde ich zum Beispiel die Idee der Ökosteuer an sich gut. Wenn sie richtig konsequent durchgezogen werden würde, also: Alles was in irgendeiner Weise der Umwelt schadet, kostet so viel mehr, wie durch diese, für die Umwelt negativen Maßnahmen, eingespart wurde. Dies würde jeglichen Anreiz für Unternehmen beseitigen, solche Maßnahmen zu benutzen. Bei nur geringer Subventionierung würden dann die Pro-Umwelt-Technologien viel interessanter werden, außerdem hätte der Staat sehr viel mehr Steuereinnahmen. Einziges Problem, welches wieder durch den Kapitalismus bedingt ist, die Leute die kaum Geld haben können sich die teuren Sachen kaum noch leisten, was aber durch eine fairere Gestaltung der „Sozialstaatlichkeit“ weitgehend ausgebessert werden könnte.
Was ich sagen will, ich mag den Stil alles außer der „Endlösung“ abzulehnen nicht, da diese wohl kaum in absehbarer Zeit realisierbar sein wird, und man deshalb noch zusätzlich Lösungen für die Zeit bis dahin anbietet.
Jetzt hätte ich noch einige Punkte, aber da ich mir heute noch ein wenig Erholung in unserer Leistung fordernden Gesellschaft gönnen will, schreibe ich jetzt nur noch einen letzten…
Womit ich auch gleich beim Thema wäre. Die „Arbeit“, oder viele Inhalte der Schule, wie die „Kenntnis über verschiedene Monosaccharidketten“ (die übrigens falsch mit einem statt zwei „c“ geschrieben sind, womit ich wohl nun doch als Nerd zähle :S ), als allgemein schlecht und unnütz dargestellt werden. Ich denke aber, dass es viele Leute gibt, die gar nicht wüssten was sie mit ihrer Zeit anfangen, wenn sie nicht mehr „wie die Zombies. Frühmorgens rein in die Fabrik, […] schuften und […] völlig kaputt nach Hause“ könnten. Mir zum Beispiel macht es hin und wieder sehr viel Spaß und erfüllt mich mit Freude und Erfüllung, zu arbeiten, wobei ich mir dann natürlich aussuche was ich gerade machen will, ob es ein Vortrag in Chemie ist, oder mich ehrenamtlich einzusetzen, oder wie gerade, euch eine, jetzt wohl schon viel zu lange, mail zu schicken. Außerdem finde ich dass in der Schule nicht zu viel beigebracht wird, bis auf vielleicht in Geschichte und Sozialkunde, wo wir bewusst teilweise beschissen werden um diesen Staat toll zu finden und „Deutsche“ in „Deutschland“ zu sein, anstatt uns mit allen Menschen gleich zu setzen. In eigentlich allen anderen Fächern, auch wenn ich sie teilweise hasse und das Schulsystem ziemlich beschissen finde und daran sehr viel zu verbessern wäre, wichtig, als Abiturient eine dicke Ladung an Wissen mit zu bekommen, da sowohl Deutsch, als auch Mathe, Wirtschaft, Chemie, Bio, Reli usw. Grundlagen schaffen, die uns tieferes Verständnis für die ganze Welt und auch wieder einmal die Sensibilisierung für Probleme und Missstände, die meiner Meinung nach zu vielen Menschen, aufgrund mangelnder Bildung, was nicht ihr Verschulden ist, aber für sie eben nicht besonders gut, fehlt.
Wenn ich am Schluss ein bisschen verworren geworden bin, tut mir Leid, mein Gehirn denkt leider nach 18 Stunden nicht mehr ganz einwandfrei 😉
Ich würde mich über eine Antwort von euch freuen, außerdem bin ich übernächste Woche mit einem Freund in Berlin und würde mich freuen, wenn ihr irgendwie mal Zeit hättet, für eine gemeinsame Diskussion?
Beste Grüße,
L.
Hallo L.,
erst einmal wollen wir uns dafür entschuldigen, dass wir so lange gebraucht haben, um dir zu antworten. Vielen lieben Dank für das Lob und deine ausführliche Beschreibung, wie du zur Straßen aus Zucker gekommen bist. Solche eMails zeigen uns als Redaktion, dass es sich doch lohnt, diese Zeitung zu machen. Womit wir schon indirekt bei einer deiner Fragen bzw. Kritikpunkte wären: „It’s the system stupid!“ als Antwort auf alle Probleme. Du sprichst damit quasi eine ziemlich große Diskussionen an, wenn es darum geht, wie man aus radikaler, emanzipatorischer Perspektive Politik machen sollte und kann – darüber haben wir in der Redaktion auch schon häufiger diskutiert. Dazu gibt es ganz grob wohl drei unterschiedliche Positionen, die sich aber auch überschneiden können. Es gibt Menschen, die versuchen durch Reformen die Verhältnisse zu ändern. Andere meinen, man müsse zuerst bei sich selbst anfangen. Wiederum andere sagen, nur durch einen revolutionären Umsturz der bestehenden Gesellschaft sei eine bessere Einrichtung dieser zu erreichen. Wir in der Redaktion sind Menschen mit verschiedenen Meinungen, aber wir halten Reformen und Einzelinitiative aus unser Perspektive für schwierig, da diese durch die Grundregeln dieser Gesellschaft eingeschränkt sind und deshalb oft nicht über einen bestimmten Punkt hinausreichen können oder inhaltliche Forderung aufgeben müssen. Darum enden viele der Texte dann meist mit dem Fazit, dass der Kapitalismus abgeschafft gehört und Nationen und Staaten aufgelöst werden müssen, damit sich wirklich was ändert. Das heißt aber nicht, dass wir gesellschaftliche Verbesserungen nicht anerkennen würden und nicht sensibel für konkrete Handlungs- und Verbesserungsmöglichkeiten in der heutigen Gesellschaft seien. In den Texten zu Geschlecht&Staat und Porno zum Beispiel geht es konkret um positive Veränderungen in diesen Bereichen. Die finden wir super! Gleichzeitig braucht es aber weiterhin eine radikale Kritik, da grundlegende Herrschaftsmechanismen unser Gesellschaft bestehen bleiben. Da wir jedoch auch immer wieder neu über diesen Punkt streiten, werden wir wohl in absehbarer Zukunft (ein bis zwei Ausgaben – nun ist sie da, die Straßen aus Zucker Nummer 7) eine Ausgabe dazu machen und haben daher noch keine feste Gruppenposition dazu. Cool also, dass du es ansprichst!
Bei deiner konkreten Fragen zum Text „Das gleiche in grün“, fällt leider auf, dass es manchmal verwirrend bzw. nachteilig sein kann, Themen nur auf wenigen Seiten behandeln zu könne – und das halbwegs verständlich. Der Bioladenpunkt sollte hier quasi als weiteres Beispiel dienen, um zu zeigen, dass sich manche Handlungsmöglichkeiten nur für Menschen mit entsprechenden Geldbeutel eröffnen. Argument Nr. 1 war: Strom wird größtenteils in der Industrie verbraucht und das Atomstromproblem kann nicht nur! durch privaten Stromwechsel bewältigen werden. Das zweite Argumente sollte dann noch innerhalb des privaten Bereichs aufzeigen, dass selbst dort nicht alle wechseln können. Mittlerweile haben sich Atomstrom und Ökostrom vom Preisniveau zwar ziemlich angenährt, aber das ändert nichts an der grundlegenden Schwierigkeit, dass private Handlungen oft abhängig von der sozialen Position der Menschen sind. Das ist leider wohl nicht richtig rübergekommen. Natürlich halten wir Atomstrom für sehr unvernünftig und sind für dessen Abschaffung. Aber dieses nur durch individuelle Kaufentscheidungen zu erwirken, halten wir für fragwürdig; vielleicht auch elitär.
Nun zu deinem dritten Kritikpunkt. Da können wir dir nur zustimmen. Auch wir halten es für notwendig zu wissen, was man da eigentlich kritisiert und wie die Gesellschaft funktioniert. Ohne diesen Anspruch würden wir diese Zeitung auch nicht machen. Denn bei dem Projekt geht es ja eben darum, zu sensibilisieren, mit neuen Meinungen zu konfrontieren usw. Demnach ist auch nicht alles, was in Schule oder Uni gelernt und beigebracht wird, unnützes Wissen! Doch, wie du ja selbst schreibst, geht es in der Schule als staatlicher Einrichtung oft nicht darum, dass möglichst viel Wissen zur Verfügung gestellt wird. Sondern eher, dass man danach fähig ist, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Das klingt wieder sehr nach „It’s the system stupid“. Aber du sagst ja selber, dass dir beispielsweise im Geschichts- und Sozialkundeunterricht oft nur eine bestimmte Geschichte gelehrt wird. Und an Bildung teilhaben können leider auch nicht alle Menschen gleich.
Wir hoffen, dass dir diese Mail ein paar Fragen beantworten kann und würden dann einfach auf unsere kommenden Ausgaben verweisen, wo es dann wohl mehr zum Thema Revolution, Engagement und Co. geben wird. Ansonsten, finden wir es wirklich cool, wenn Menschen sich so intensiv mit unseren Texten und der Gesellschaft auseinandersetzen. Vielleicht schreibt uns ja dein_e andere_r Sitznachbar_in als nächstes 😉
Liebe Grüße
die SaZ-Crew