Liebe Straßen aus Zucker,
vor ein paar Wochen bin ich das erste Mal auf die Zeitung gestoßen und hab sie mit großer Begeisterung gelesen. Viele Fragen, die mir schon lange im Kopf rumspukten wurden geklärt und noch viel mehr aufgeworfen 😛 Echt ein toller Denkanstoß!
Ein Punkt hat mir allerdings sehr Kopfzerbrechen bereitet und ich wollte mal wissen, was ihr dazu meint. Ich beziehe mich auf folgende Stelle (Die Revolution im Reformhaus, Seite 6 und 7, Ausgabe 7):
„Mehr konkrete Handlungsmöglichkeiten gibt es aber zum Beispiel bei Rassismus: Wenn ich im Supermarkt sehe, wie ein „weißer“ Opa rassistisch über den „schwarzen“ Mensch in der Warteschlange herzieht, macht es Sinn dazwischen zugehen: Um Nazi-Opa Grenzen aufzuzeigen, dem Menschen, der da gerade Rassismus erfährt, Unterstützung anzubieten und in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Rassismus nicht toleriert wird.“
Dazu folgende Vorgeschichte: Zur Vorbereitung für einen Freiwilligendienst im Ausland, habe ich ein Seminar besucht, in dem es viel um das Thema Rassismus und vor allem strukturelle Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit ging. Grob zusammengefasst wurde versucht zu vermitteln, dass selbst wenn die Absicht hinter einer Handlung antirassistisch und gut gemeint ist, kann die Handlung selbst rassistische Strukturen fördern. So impliziert zum Beispiel die Zahlung von Entwicklungshilfe, dass die „Weißen“ den „Schwarzen“ überlegen sind, weil sie über die Umverteilung des Geldes bestimmen können. Außerdem arbeiten zahlreiche Hilfsorganisationen mit stereotypischer Werbung, die die Bevölkerung des globalen Südens als schwach, arm, dreckig oder handlungsunfähig darstellt. Das Ziel dieser Aktionen mag lobenswert sein, nämlich einen Verminderung der aus dem Kolonialismus resultierenden Armut, aber dennoch passieren solche Handlungen nicht auf Augenhöhe, sondern von oben nach unten und unterstützen somit rassistische Strukturen.
Es hat einige Zeit gedauert bis ich dieses Konzept durchdacht hatte und nach einer Weile stellte ich mir dann die Frage, was das Ganze für Konsequenzen für mein Handeln hat. Wenn ich zum Beispiel in eine wie im Artikel beschriebene Situation komme und mich für den „schwarzen“ Menschen einsetze, erkläre ich ihn dann damit nicht gleichzeitig als unmündig und stelle mich selbst als den Retter dar? Also schaffe quasi eine Situation in der (wieder mal) der „Weiße“ den „Schwarzen“ beschützen muss, weil er selbst nicht in der Lage ist? Und ist das nicht genauso rassistisch? Allerdings wäre die Alternative dann nicht einzugreifen und tatenlos zuzusehen wie vor meinen Augen Rassismus gelebt wird. Eine furchtbare Vorstellung.
Ich hoffe ich konnte meinen Konflikt einigermaßen verständlich darstellen und bin jetzt sehr gespannt, was ihr zu diesem Thema zu sagen habt.
Interessante Lektüre zu dem Thema „Struktureller Rassismus“ ist die Zeitschrift „Von Trommlern und Helfern – Beiträge zu einer nicht-rassistischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit“. Dort wird die Problematik, die ich hier in ein paar Sätzen versucht habe zusammenzufassen, nochmal genauer beschrieben.
Ich freue mich auf eure Antwort.
Liebe Grüße!
A. („weiß“)
Hallo A.,
merci für Deine Mail und das Lob. Die Ausgaben schicken wir Dir auch gerne bald zu.
Den von Dir beschriebenen Konflikt kann ich gut nachvollziehen, und die Broschüre „Von Trommlern und Helfern“ hatte ich auch schon mal in der Hand und fand sie ganz gut.
Was Du beschreibst, ist glaube ich von seiner Grundstruktur nicht so leicht aufzulösen, sondern stellt tatsächlich ein Dilemma dar, aus dem man nicht einfach rauskommt: Der kapitalistische Weltmarkt ist aufgrund des Kolonialismus und seiner Nachwirkungen nun mal so strukturiert ist, dass es „arme“ und „reiche“ Staaten gibt und gegenwärtige Handelsbeziehungen und die sie begleitenden Institutionen wie IMF, Weltbank, WTO etc. diese Strukturen auch festigen. Das ist erstmal der Rahmen, in dem wir uns als Individuen bewegen, und den wir auch nicht einfach durch individuelles Handeln ändern können. Somit ist Entwicklungshilfe eben immer ein „Geben“ von den Staaten, die es sich leisten können, und die damit auch bestimmte Zwecke verfolgen – sicherlich tw. auch humanitäre, aber diese doch auch immer gebunden an das Festigen von regionaler Einflussnahme, dem Aufbau von Absatzmärkten für Produkte und Infrastruktur. Für diese Entwicklungshilfe bzw. -„zusammenarbeit“ braucht es Leute, die das ausführen: professionals, und viele weiße Freiwillige, oft Jugendliche. Dass das konkret Leuten vor Ort helfen kann – ein Brunnen im Dorf, ein Kinderheim, ein Sammeltaxi etc. – ist unbenommen. Und dass jenseits von dieser individuellen Ebene es eben nicht nur um den Brunnen im Dorf geht, sondern um die Durchsetzungsmacht von westlichen Staaten ist eben ein bescheuertes Dilemma, was sich in der gegenwärtigen Weltordnung nicht auflösen lässt! Indirekt werden damit auch rassistische Strukturen gestützt, aber um das zu ändern, braucht es eine grundlegende Änderung der Strukturen.
Auf die konkrete Situation bezogen lässt sich vielleicht etwas mehr machen: Ich war auch in so ein paar kritischen Rassismus-Trainings, und die schwarzen ReferentInnen haben das Problem des Paternalismus in dieser Art von Situation auch angesprochen: Anstelle FÜR jemanden zu sprechen („Mach doch den armen Jungen nicht an!“) wurde dann immer betont, dass es 1. gut sei von sich auszugehen, also deutlich zu machen, dass MAN SELBER keinen Bock hat, rassistische Äußerungen zu hören, in einer rassistischen Welt zu leben, etc. und 2. die von Rassismus Betroffenen zu fragen, ob und wie sie gerade Unterstützung brauchen. Manchmal wollen Leute ja vielleicht auch eher ihre Ruhe und keine Konfrontation in jeder möglichen Situation.
Also, ich bin eine (weiße) Frau und übertrage das manchmal auf den Umgang mit Sexismus (obwohl das sicherlich auch noch etwas anders ist, aber so als Gedankenspiel): Wenn mich jemand auf der Straße sexistisch anmacht und ich mit einem Freund unterwegs bin, dann fände ich es paternalistisch, wenn dieser sofort eingreift. Ich finde es aber nett, wenn er mich fragt ob ich gerade Unterstützung brauche. Und wenn diese kommt, dann fände ich es schräg, wenn es sowas wäre wie „Mach meine Freundin nicht an“, aber gut, wenn er klar macht, dass er Mackerverhalten und Sexismus SELBER scheiße findet.
Zurück zur Supermarktkasse: Ich würde in so einer fiktiven Situation vermutlich den Naziopa irgendwie anraunzen à la „Ich habe echt keinen Bock auf deine rassistischen Sprüche“ und irgendwie dann nochmal, vielleicht am Ausgang oder so, die betroffene Person fragen ob sie okay ist oder irgendwas braucht. Oder umgekehrt. Aber in so einer Situation nicht einzugreifen würde für mich eine Art von Komplizenschaft und Zustimmung bedeuten.
Tja. Schreib gerne nochmal zurück, oder auch sonst einfach nur liebe Grüße
Padme
für die SaZ
P.S. Ach, und dürfen wir diesen Mailwechsel anonymisiert auf die „LeserInnenbrief“-Rubrik auf der Website stellen? Deine Fragen interessieren sicherlich auch noch andere Leute…
Liebe Padme,
vielen, vielen Dank für die Antwort. Hat mir echt sehr weitergeholfen. Und ich hab natürlich nichts dagegen, wenn ihr das Ganze veröffentlicht. Ich würde mich sogar sehr freuen, weil ich auch einige Leute kenne, die sich für den Konflikt interessieren und die mich schon gebeten haben, die Antwort weiterzuleiten. Also nur zu!
Viel Erfolg noch bei eurem Projekt und bis zur nächsten Frage,
lg A.