Von romantischen Zweierbeziehungen, „freier Liebe“ und Polyamory
Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewußten Widerstand
(Theodor Adorno)
Selbst wenn man nicht auf Liebeslieder im Radio steht oder Hollywoodromanzen vermeidet, so scheint eines doch klar zu sein: Irgendwo da draußen gibt es Mr. oder Mrs. Right. Die eine Person, mit der man glücklich werden wird. Und wenn sie dann da ist, dann ist erstmal alles gut: Wir beide gegen den Rest der Welt, als Lover, Freund_innen, Unterstützer_innen, und später vielleicht auch mal als Eltern für Kinder. Seufz, so schön! Dabei hat sich auch einiges in den letzten Jahrzehnten geändert: Man muss als Paar nicht unbedingt heiraten, auch schwules oder lesbisches Herzklopfen ist erlaubt, die Kinder oder das Zusammenziehen sind nicht zwingend notwendig, und wenn man sich doch mal trennt oder scheiden lässt, dann wird man sogar als Frau nicht krass verurteilt. Und bis Mr. Right dahergestapft kommt, muss man nicht unbedingt im Zölibat leben – lose Affären oder „Friends with Benefits“ sind akzeptierter als zu den Zeiten, in denen man entweder Single oder unter der Haube war. Aber vieles ist doch gleichgeblieben: Wenn man in einer Beziehung ist, dann wird man von außen gefragt nach einem_r, und genau einem_r, Freund oder Freundin. Und das bedeutet dann auch was ganz Bestimmtes: Das ist die Person, mit der man in den Urlaub fährt, Silvester verbringt, der oder die man den Eltern vorstellt, Kosenamen gibt, an Jahrestage denkt, morgens um 4 anruft, wenn was doof ist. Ja, das ist „mein“ Freund, oder „meine“ Freundin, das ist das Konzept „romantische Zweierbeziehung“ (RZB).
Mehr als eine Liebe
Auf der Arbeit oder in der Uni würden einen Leute bestenfalls mitleidig anschauen, schlimmstenfalls als pervers beschimpfen, wenn man ihnen erzählen würde, dass man nicht nur eine feste Freundin hat, sondern manchmal auch Sex mit dem besten Freund und seit Sommer Schmetterlinge im Bauch wegen jemandem in einer anderen Stadt, und mit der Person manchmal quatscht oder kuschelt. Und dass das durchaus ernster werden könnte, vielleicht sogar eine zweite Beziehung. Auch in der „Bravo“ finden sich immer wieder Zuschriften à la: „Ich bin in einer Beziehung, finde aber den Nachbarboy süß – was soll ich tun?“ Dr. Sommer hat die Antwort klar: „Du musst dich entscheiden“. Aber es gibt sie, die Leute, die sagen, dass Dr. Sommer unrecht hat. Manchmal mit dem Stichwort „Polyamory“ bezeichnet, oder auch als „offene“ oder „nicht-monogame“ Beziehungen gelabelt, geht es bei diesen verschiedenen Definitionen doch um eine ähnliche grundlegende Idee: Es ist möglich und nett, in mehr als einen Menschen verliebt zu sein, mehr als eine Person wichtig und nah zu haben, und ja, auch nicht nur mit einem Menschen bis ans Ende aller Tage Sex haben zu wollen. Nicht eine Person kann und soll im Leben alles für einen sein: Retterin in der Not, Anschmiegperson, aufregender Sexpartner, potentielle Mutter von Kindern, Altersabsicherung, Politdiskussionspartnerin. Das kann einen Menschen ganz schön überfrachten, was nicht zuletzt der Grund dafür sein mag, dass so viele Beziehungen in die Brüche gehen. Hollywood fucks with your brain. Die RZB stellt zudem ungeschriebene Regeln auf, die einem das Leben oft schwer machen: Mit der besten Freundin kuscheln geht klar, mit dem Ex-Freund nicht? Für jemanden im Geheimen schwärmen oft auch Leute in einer festen Beziehung – aber sagen darf man es nicht? Mit dem Mädchen aus der Nachbarklasse auf Klassenfahrt am See sitzen und rummachen ist tabu, auch wenn es sich in dem Moment gut anfühlt und gar nicht die andere Beziehung in Frage stellt? In vielen Situationen wird deutlich: Was genau „erlaubt“ und „verboten“ ist, ist gar nicht so klar, wird aber oft auch nicht verhandelt. Polyamory setzt dagegen: Anzuerkennen, dass man eben manchmal mehrere Leute toll findet, mit mehr als einer Person schlafen oder kuscheln mag, und dass das nicht heißen muss, dass Menschen weniger wichtig werden. Das alles nicht im schlechten Stil als „Seitensprünge“ oder heimliche „Affären“, die reumütig gebeichtet oder peinlich verschwiegen werden, sondern mit der Zustimmung aller Beteiligten. Wie das in der Praxis aussieht, ist dabei unterschiedlich: Eine Primärbeziehung, bei der auch Affären okay sind; eine verbindliche geschlossene Dreierbeziehung; zwei Partner_innen; ein Netzwerk an Freund_innen, mit denen auch Sex drin ist etc.
Moralische Schlampen
Dass es nicht immer einfach ist, Bedürfnisse und Interessen von mehr als zwei Menschen unter einen Hut zu kriegen, ist klar. Und manchmal kriegt das Ganze auch eine eklige, sogar sexistische Schlagseite: Wenn gerade Männer nämlich „offene Beziehungen“ als Freifahrtschein verstehen, mit möglichst vielen Frauen Sex zu haben, um dafür Anerkennung von den Freunden zu bekommen. Und die, denen es damit nicht gut geht, auch noch als „Spießerinnen“ aburteilen. Manche Kommunenbewohner_innen der 68er-Bewegung mit ihrer „freien Liebe“ boten ein schlechtes Beispiel, wie man(n) es nicht machen sollte. Dass sexuell aktive Männer als coole „Womanizer“ gelten, Frauen hingegen eher als „Schlampe“ abgestempelt werden, sind Zuschreibungen, die in heterosexuellen offenen Beziehungen auch mitgedacht werden sollten. „Polyamore“ Beziehungen sind also gar nicht einfacher – so nach dem Motto: „Da machen einfach alle das, was sie wollen“ – sondern auch schwierig: Denn erstmal muss klar über Bedürfnisse kommuniziert werden („Ist es okay für Dich, wenn ich mit meiner anderen Beziehung in den Urlaub fahre?“, „Wieviel Details willst Du eigentlich von meiner Affäre mitbekommen?“ – ganz zu schweigen von der Notwendigkeit, wirklich auf safen Sex zu achten), es kann nicht von irgendwelchen vermeintlich generell akzeptierten Hollywood-Skripts ausgegangen werden. Und es muss anerkannt werden, dass wir erstmal so sozialisiert wurden, dass wir Eifersucht, Verlustängste, Unsicherheiten kennen und in Beziehungen verspüren. Damit freundlich umzugehen, ist eine Grundlage offener Beziehungen.
„Eifersucht“ ist dabei ein komisches Phänomen, dass sehr unterschiedliche Beweggründe haben kann: eigene Unsicherheiten („Die andere ist bestimmt viel schlauer als ich“, „Der Typ sieht bestimmt besser aus“), Verlustängste („Wenn mein_e Freund_in sich auch noch in jemand anderes verknallt, dann wird sie weggehen“), Eigentumsdenken in einer Gesellschaft, die genau davon geprägt ist („Da hat sich jemand an meiner Freundin vergriffen!“) und Projektion von Unzufriedenheiten in der Beziehung auf die neue Kombination („Die haben bestimmt mehr/besseren Sex“, „Die reden bestimmt immer voll toll“). Insofern – und obwohl der ganze Schmerz nicht weggeredet werden soll – ist Eifersucht auch ein spannendes Ding, aus dem sich einiges über sich und die andere_n Person lernen lässt. „Natürlich“ ist daran sicherlich nichts, das zeigt schon der Blick über den kulturellen oder zeitgeschichtlichen Tellerrand: In anderen Gesellschaften und zu anderen Zeiten gibt und gab es immer auch Beziehungskonstellationen, bei denen mehr als zwei Menschen verbindlich miteinander da waren – und es deswegen nicht reihenweise zu Eifersuchtsdelikten kam.
Mono/poly
In manchen Kreisen ist „Polyamory“ sogar zur neuen Norm geworden: Monogame Paare werden als spießig betrachtet, und wenn sie dann noch heterosexuell leben, können das niemals Linke sein. Der_die „Liebste“ wird dann im öffentlichen Raum oder beim Feiern kaum beachtet, geschweige denn liebevoll angefasst. Das mag zwar eine Reaktion auf die Monogamdiktatur der Mehrheitsgesellschaft sein, ist aber auch ganz schön eklig. Erstmal geht es in Beziehungen um die Vermehrung von Glück. Und das kann eben auch heißen, mit jemanden zusammen zu sein, bei dem es viel um Exklusivität, Einzigartigkeit und um „Besonders-Fühlen“ geht, und nicht gleich weggehen, wenn es mal nervig oder schwierig wird. Dabei bergen die Gefahr der Beliebigkeit und Austauschbarkeit ironischerweise verschiedene Beziehungsmodelle in sich: „Polyamory“ und „offene Beziehungen“, wenn sie eben nicht auf Bedürfnisse achten, sondern eine Ausrede sind für „möglichst viel Sex mit möglichst vielen Menschen, möglichst unkompliziert und unverbindlich. Und die, die damit ein Problem haben, sind eben Spießer“. Dann werden Menschen nämlich zu bloßen Nummern. Aber auch die RZB birgt diese Gefahr: Weil es dann eben um Modelle geht. Mein Freund hat mich verlassen? Dann suche ich eben einen neuen, die Stellenausschreibung ist schon klar: Es geht um Funktionen, die im eigenen Leben schon vorher klar sind, und Leute werden dafür passend gemacht. Das kann auch verunmöglichen, die Einzigartigkeit von Susanne, Ahmed oder Aja zu sehen, weil es eben nur die Raster „Freund“, „beste Freundin“, „Affäre“ etc. gibt. Anstelle der Frage „Was ist das Spezifische, was Ahmed und mich verbindet?“ steht dann die Frage „Passt Ahmed zur Stellenausschreibung ‚Freund‘?“
So sehr auch „Liebe“ unmittelbar vom Kapitalismus beeinflusst ist, so wenig kann man doch sagen, dass die eine oder die andere Beziehungsform ihn per se stützen oder stürzen würde. Zentral ist nicht die Art der Beziehung, sondern die bewußte Entscheidung dafür – die Erkenntnis, dass Monogamie nicht „natürlich“ ist und Alternativen einen vielleicht glücklicher machen. Dass Entscheidungen in dieser Gesellschaft immer nur bedingt „frei“ und „bewußt“ sind, wir von verschiedenen Ideologien nicht zufällig geprägt sind, ist dabei klar. Es bleibt die Hoffnung darauf, dass in einer Gesellschaft, die nicht auf dem Tauschprinzip basiert, auch Menschen weniger austauschbar werden.
Zum Weiterlesen:
– Diskussion über Poly in der „Jungle World“:
Interview: „Wer arm ist, kann sich Polyamorie nicht leisten“
Oliver Schott: Dem Leben Schönes schenken
Sebastian Winter: Die Beziehungsweise
Fremdgenese: Effizienz macht hässlich
Les Madeleines: Dialektik der Treue
Georg Kammerer: Experimental Sex
Roger Behrens: Liebe ohne Staat und Herrschaft
– Der „Klassiker“ der Polyamory-Bewegung, auch auf Deutsch: Dossie Easton/Janet Hardy: The Ethical Slut – A Practical Guide to Polyamory, Open Relationships & Other Adventures, auf Deutsch: Schlampen mit Moral
Eine praktische Anleitung für Polyamorie, offene Beziehungen und andere Abenteuer, 2014, 17 Euro.
– Theodor Adorno: Minima Moralia. 1951. Darin die Abschnitte Nr. 110 „Constanze“ und Nr. 49 „Moral und Zeitordnung“, online hier
– Text von 2016: Anxious Polys Unite! Nicht wir Neurodivergenten, Eifersüchtigen und Unsicheren sind das Problem, sondern Poly-Ideale!
Kurzstatements zu Formen des Zusammenlebens
Spätestens nach der Uni oder der Ausbildung ist bei den meisten in Deutschland Schluss mit lustig. Die WG wird aufgelöst, um bald darauf eine „Papa-Mama-Kind“-Familie zu gründen. Trotz Patchworkfamilien und vielen „Single-Haushalten“ ist sie auch heute noch das absolute Idealbild, wenn es um Familie und Zusammenleben geht. Es gibt aber auch viele Leute, die den Strukturen der Kleinfamilie kritisch gegenüber stehen und nach anderen Möglichkeiten suchen, in verlässlichen und verbindlichen Beziehungen mit anderen Menschen zu leben. Wir haben in unserem Freund_innenkreis Leute gefragt, die andere Formen des Zusammenlebens kennen gelernt haben.
Im Kibbuz
Paola (21): Im letzten Jahr war ich für sechs Monate in einem Kibbuz in Israel und habe da als Freiwillige gearbeitet. Ganz schön abgefahren: Die Leute dort wohnen in einer großen Gemeinschaft, alle bekommen das gleiche Geld, egal, ob sie auf dem Feld oder im Büro arbeiten. Auch so Sachen wie Kindererziehung und Kochen galten als Arbeit, so dass sich manche vor allem darum gekümmert haben, was natürlich für die Anderen ´ne echte Entlastung war. Für die Kids war das teilweise auch nice – waren sie gestresst von ihren Eltern, hatten sie noch andere enge Bezugspersonen, mit denen sie reden konnten. Nach sechs Monaten hat‘s mir dann aber auch schon fast wieder gereicht: Das Arbeiten war ziemlich stressig, die autoritären Strukturen haben mich echt genervt und so viel Kohle kam auch nicht bei rum. Wobei man drinnen im Kibbuz auch fast alles einfach ohne Geld bekommen hat.
Entspannt und gemeinsam – in einem Kaff in Brandenburg…
Lisa (20): Ich bin in einer Landkommune in Brandenburg aufgewachsen, in einem krassen Kaff ohne Bahnanbindung, was mich spätestens mit 15 so richtig genervt hat. In der Kommune gab es ein großes Wohnzimmer, alle zehn Erwachsene hatten noch ihr eigenes Zimmer, nur ich musste mir eins mit meiner Schwester Sarah teilen. Streng genommen ist sie nur meine Kommune-Schwester, denn wir haben nicht die gleichen Eltern. Aber wir sind zusammen aufgewachsen, das fand ich toll, so war ich kein Einzelkind. Auch jetzt noch halten wir echt eng zusammen. Super war auch, dass in unserem Wohnzimmer immer was los war, langweilig war mir da nie.
Zusammen ist man weniger allein
Tom (17): Zusammen mit meiner Schwester Luise und meiner Mutter Inga wohne ich in einer großen WG in Hamburg. Ich finde das O.K., denn die anderen bei uns sind echt nett, mit manchen bespreche ich sogar meine Probleme, andere helfen mir beim Lernen auf‘s Abi. Nur mit Inga und meiner kleinen Sis wär‘s mir glaub ich manchmal etwas zu einsam, ihnen umgekehrt auch mit mir. Was ich hasse, ist, wenn die Anderen an mir rumerziehen wollen und mich anstressen, wenn ich den blöden Putzdienst nicht gemacht habe.
Meine Mütter: cool und trotzdem stressig!
Meine Eltern stressen mich ganz schön mit Ansprüchen: Ich soll Abi machen, studieren, einen tollen Job haben: „Erfolgreich sein“. Was das bedeutet, das wissen die beiden schon ganz genau. Ich bin einfach ihr Kinderwunsch, aber was sie sich da vorstellen, kann ich gar nicht erfüllen. Aus dieser Rolle rauszukommen, ist ganz schön schwer – im Moment bin ich ja auch noch finanziell von ihnen abhängig und rechtlich sind sie eben für mich zuständig. Die Schule informiert sie über meine Noten und mein Verhalten. Sie müssen Verträge für mich schließen und für mich haften, im Zweifelsfall. Ich mag meine beiden Mütter und finde cool, was sie machen in ihrem Leben. Ich will sie nicht tauschen! Aber eigenständig sein ist nicht einfach, solange wir zum Beispiel zusammenwohnen oder besser: ich bei ihnen wohne. Flache Hierarchien gibt’s auch in der antiautoritären Erziehung nicht automatisch.
Only Crew Love is true love!
Ohne meine Homies wäre ich einfach aufgeschmissen. Wir verbringen ziemlich viel Zeit zusammen, in der Schule, beim Feiern, beim Nachhausekommen, wannauchimmer. Ich würde sagen, das ist Familie. Das ist schön, aber nicht immer einfach. Obwohl es sich manchmal so anfühlt, gibt’s ja nicht „uns“ und nur außenrum die blöde Welt. Die können wir ja nicht einfach ausziehen oder den ganzen Schrott, den wir da lernen, wegwerfen. Miese Machtverhältnisse und Konkurrenz schaffen das Gefühl, besser sein zu müssen, als jemand anders, um dabei sein zu dürfen. Kotzescheiße!
Andererseits sind meine Homies genau die, die das ja auch anders haben wollen. Wir kümmern uns um uns, und ich wünsche mir, dass das noch lange so ist. Kommunismus nur mit Euch, Dears!
Wir sind viele!
Elena (18): Meine Eltern heißen Gitte, Paul, Ruth und Andreas. Also, ich habe vier Eltern: Meine „biologischen“ Eltern Gitte und Paul hatten schon von vornherein klar, dass sie es total absurd finden, Kinder in einer Kleinfamilie großzuziehen und haben eine „Elterngruppe“ gegründet. Die vier sind alle schon seit superlangem befreundet und wir sind dann alle zusammen gezogen, als ich geboren wurde. Für meinen Bruder und mich ist das super: Die Erwachsenen haben einfach mehr Zeit und sind weniger gestresst als viele der Eltern meiner Freundinnen. Und ich hab‘ auch weniger Angst, dass sie sich irgendwie „scheiden“ werden – Freundschaften sind ja oft viel stabiler als Liebesbeziehungen.