Anstatt einer Einleitung: Warum eine internationale antinationale Zeitschrift?

Die Zeitschrift Routes sucrées erschien bisher nur in deutscher Sprache. 2009 in Berlin als einmaliges Zeitungsprojekt für junge Menschen anlässlich der nationalistischen Deutschlandfeierlichkeiten gegründet, wurde aufgrund der vielen positiven Reaktionen eine reguläre Zeitschrift daraus. Mit mittlerweile 8 Ausgaben, die im gesamten deutschsprachigen Raum gelesen werden. Zu Themen wie Alltagskritik, Nationalismus, Liebe, Geschlechterverhältnisse, Sexualität, Kapitalismuskritik, Religionskritik und vielen mehr. Wir versuchen dabei, die Texte allgemeinverständlich zu halten. Linke Texte, die abschrecken und klein machen, gibt es ja schon genügend.

Wenn wir auf deutsch schreiben, bleibt jedoch ein Punkt, der sehr wichtig ist, auf der Strecke: Der internationale Austausch. Wir stellen immer wieder erstaunt fest, wie stark doch die linken Diskussionen auf einzelne Sprachgebiete beschränkt sind. Uns scheint, wir haben über linke Debatten in anderen Weltgegenden oft nur schablonenhaftes im Kopf. Und wenn wir z.B. in die USA oder nach Südamerika fahren, werden wir ebenfalls mit teilweise komischen Vorstellungen davon, was angeblich in der deutschsprachigen Linken abgehe, konfrontiert.

Weil es aber einen ganzen Haufen Leute an vielen Teilen der Welt braucht, um dieselbe zu verändern, wollen wir gerne miteinander in Kontakt treten und einander verstehen. Deswegen nun endlich eine internationale Ausgabe auf englisch, Ausgaben in weiteren Sprachen sind geplant. Wir wollen diskutieren und uns vernetzen. Wir wollen Debatten jenseits der Sprachgrenzen führen (jenseits der Nationsgrenzen sowieso). Diese Ausgabe enthält deswegen Artikel über Themen, die uns am Herzen liegen. Wer mit uns diskutieren will, einfach schreiben an: info[at]www.strassenauszucker.tk
Wir werden Zuschriften und Austausch mit Eurer Genehmigung sammeln und veröffentlichen auf der Website: www.strassenauszucker.tk

Diesem Wunsch nach Austausch und Diskussion liegen zwei Urteile zugrunde, die wir kurz skizzieren wollen. Eine Bewegung, die unsere Interessen und Wünsche vertritt, muss – neben vielen anderen Punkten – zweierlei sein: internationalistisch und antinational.

Warum antinational?
Die häufigste Antwort, die wir auf unsere Aussage, dass wir antinational seien, hören, ist:
Das sei doch schließlich auch „unser Land“. Was daran stimmt, ist, dass die Leute, die in den jeweiligen Ländern wohnen, sehr oft auch den Pass oder andere Dokumente dieses Landes besitzen. Das heißt, es ist ihnen behörderlicherseits „erlaubt“, dort zu leben und zu arbeiten. Wenn sie keine Arbeit finden, ist es dann eine Behörde „ihres Landes“, die sie nervt und zu irgendeiner Arbeit zwingt oder kriminalisiert. Es ist „ihr“ Land, das eine Welt voller Konkurrenzsituationen anbietet, das in Kindergarten und Schule verständnisvoll lehrt oder auch nur einprügelt, dass mensch sich anstrengen muss um in der Gesellschaft bestehen zu können. Das alles, weil der „eigene Staat“ sich gegen andere Nationen behaupten will und muss, und ich dummerweise von dessen internationalem Erfolg auf dem Weltmarkt auch noch abhängig bin. Und wenn „Dein“ Land beschließt, dass nun irgendein anderer Staat(enbündnis) gerade der „Feind“ ist und die Berufssöldner_innen nicht mehr ausreichen, darf ich andere Leute erschießen oder mich totschießen lassen, coole Sache, das.
Für die Menschen, die keinen Pass von dem Land besitzen, in dem sie wohnen, ist das Konzept Nation umso gewalttätiger. Sie müssen sich einerseits vor staatlichen Drangsalierungen und anderseits von rassistischen Nachstellungen schützen. Man sieht schon: Unser Problem ist nicht nur ein irgendwie überzogener Nationalismus oder Patriotismus (was für uns das Gleiche ist). Oder, weil die „falschen“ Politiker_innen an der Macht wären. Das Problem liegt viel tiefer, weswegen wir nicht nur antinationalistisch – darauf können sich auch so manche liberals heuzutage noch einigen – sondern antinational sind: Nation und die Liebe zu ihr sind tödlich.

Meine Herrschaft hört auf den Namen Deutschland. Für Menschen in Argentinien heißt sie Argentina und in Russland wird sie Россия genannt. Ein Beispiel mag ein Teil des Gedankens illustrieren: Während der Fußball-Europameisterschaft 2012 wünschten sich einige, Griechenland würde gewinnen. Denn das „arg gebeutelte Land brauche Hoffnung und Freude“. Das zeigt den Kitt an, den der Nationalismus bietet. Gesellschaftliche Widersprüche werden weggetanzt, all die Neu-Obdachlosen sollen, wenn sie schon nichts zu essen haben, sich wenigstens freuen können. Und stolz auf ihr Land sein. Doch dieser Stolz steht einer Änderung der Verhältnisse, die für Obdachlosigkeit und Hunger sorgen, eklatant entgegen. Viele Menschen in Griechenland scheren sich auch schon lange nicht mehr um den nationalen Erfolg. Weil sie wissen, dass ihre Lebenssituation dadurch nicht besser wird. Sie beginnen in den engen Grenzen, in denen das kollektiv hier möglich ist, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, wie es einige Jahre vorher viele in Argentinien taten.
Auch ich setze keine Hoffnung auf Wachstum des Bruttosozialprodukts. Denn ich werde davon sowieso nichts sehen. Und selbst denen, die davon profitieren, könnte es in einer vernünftig verfassten Gesellschaft besser gehen. Ich verweigere mich der Reden vom Standort, für den mensch den Gürtel enger schnallen müsse. Ich verweigere mich auch den liberalen Reden, ich solle auf die Verfassung oder Sozialgesetzgebung „meines“ Staates stolz sein. Allein, dass ich mir nicht aussuchen kann, welche Verfassung mir weltweit am besten gefällt und ich dort dann Bürger_in werden kann, entlarvt diese Vorstellung der Nation als ideelle Wohlfühlagentur als Lüge von Akademiker_innen. Ich verweigere mich dem Jubeln für „meine“ Nationalmannschaft, den Namen meiner Herrschaft rufe ich nur mit der Erinnerung an seine Opfer aus. Aus den Nationalfarben meiner Herrschaft versuche ich hoffnungsvolle Farbkombinationen zu basteln (in Deutschland einfach das goldene rausschneiden und es wird die schwarz-rote Fahne) oder lass mir Flaggen gleich ganz egal sein. Ich brauche keine Nation, ich brauche Freunde.
Ich will vernünftige Lebensbedingungen für alle Menschen. Und ich will dass wir alle gemeinsam darüber entscheiden können, was vernünftige Lebensbedingungen sind, und uns nicht irgendwelche Behörden, Parlamentarier_innen (die selbst unter ganz anderen Bedingungen leben dürfen) oder irrsinnige nur im Kapitalismus bestehende Sachzwänge sagen, dass die Löhne der Beschäftigten, die Sozialhilfe oder die Gelder für Asylbewerber_innen hoch genug sind.

Warum internationalistisch?
Wir verstehen unter Internationalismus den Versuch, die nationalen Grenzen zu sprengen. Deswegen bereitet uns das Internationalismus-Verständnis, das teilweise in linken Kreisen vorherrscht, Kopfschmerzen: Wenn Internationalismus heißt, sich automatisch auf die Seite von Widerstandsbewegungen in aller Welt zu schlagen, ist es nicht unserer. Wir solidarisieren uns nicht unkritisch mit allen Menschen, die aufbegehren, sondern fragen zuerst nach ihrem Grund für das Nicht-Mehr-Mitmachen. Die Logik, der Feind unseres Feindes sei unser Freund, ist für uns unlogisch. Wir machen unsere Unterstützung an emanzipatorischen Maßstäben fest, für die wir mit Argumenten streiten. Wer sich in martialischem Auftreten und männlicher Dominanz gefällt, Parteidisziplin erwartet und nicht Arbeit reduzieren sondern Held_innen der Arbeit küren will, wer Rassismus oder Antisemitismus in seinen Reihen duldet, Homosexualität oder Transmenschen ablehnt, die_den kritisieren wir. Wessen Kapitalismuskritik darin besteht, Bankiers für alles durch den Kapitalismus produzierte Übel persönlich verantwortlich zu machen und wer die sowieso nur imaginierte „Reinheit der Völker“ erhalten will und an der Herrschaft nur schlecht findet, dass sie von denen ausgeübt wird, die aus einem anderen Land kommen, also „Fremd“herrschaft sei, mit der_m haben wir nichts gemein. Da ist es egal, ob sie oder er gegen eine Herrschaft aufbegehrt, die wir auch kritisieren. Wir wollen nicht einfach irgendwelchen Erfolg haben, sondern Erfolg mit dem, was wir politisch wollen und ersehnen. Wer alles, für was sie_er streitet, vergisst, um mehr zu sein, macht uns ratlos.

Was verstehen wir aber dann unter Internationalismus? Aktuell scheiden sich die Menschen unter anderem in „Nationen“ und „Völker“. Unser Ziel ist es, dass alle Menschen sehen, dass diese Trennungen sie abhalten, sich endlich zusammenzuschließen. Es gibt nur eine Menschheit. Die Liebe zur „eigenen“ Nation – aus welchen Gründen auch immer – ist genau das Gegenteil der politischen Solidarität der Menschen, die wir anstreben. Patriotismus und internationale politische Solidarität der Menschen untereinander sind zusammen nicht zu haben. Aus Patriot_innen werden kurz oder lang immer unsere Gegner, weil ihr Ziel letztlich nicht die Befreiung der Menschen ist.

Damit erklärt sich eigentlich schon, warum wir internationalistisch sind. Warum in den Grenzen der Nationen, die wir bekämpfen, diskutieren? Diese Frage ist uns so eindeutig beantwortet, denn wir fühlen uns der Feministin in Benin weit näher als dem Rassisten in Berlin.
Anderseits ist der Kapitalismus als Weltsystem verfasst. Den anti-autoritären Kommunismus, für den wir streiten und in dem endlich nach Bedürfnissen produziert wird, nur in einem Land aufzubauen halten wir für nicht durchführbar. Allzu schnell hätte man die Armeen der Welt gegen sich, die noch jeden Versuch, Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle zu verwirklichen, blutig niederschlugen. Und in einer arbeitsteiligen Weltökonomie müsste man sich dann zudem noch auf Markt- und Konkurrenzkriterien des Kapitalismus einlassen, um an die Dinge zu kommen, die nicht in der eigenen Gegend herzustellen oder abzubauen sind – mit enormen Auswirkungen auf die eigene bedürfnisorientierte Ökonomie. Deswegen müssen wir auch schon in Zeiten, in denen an Revolutionen nicht zu denken ist, uns austauschen und vernetzen. In Zeiten, in denen wir nur eine kleine radikale Minderheit sind, wollen wir Strukturen schaffen, die über Sprachgrenzen hinweg funktionieren. Strukturen, in denen an Organisationsformen für revolutionäre Zeiten gebastelt werden kann, damit dann in bewegten Tagen möglichst hierarchiefrei über eine befreite Gesellschaft diskutiert werden kann. Denn wir wollen, dass niemand jemals wieder irgendjemandem folgt und diese herrschaftsfreie und bedürfnisorientierte Kommunikation will gelernt sein. Wie lassen sich Wissenshierarchien abfedern, wie kann sichergestellt werden, dass nicht immer nur die Männer oder Älteren reden, aber auch: wie lassen sich zusammen Texte so verfassen, dass alle sie verstehen und sie trotzdem nicht vereinfachend Dinge darstellen? Welche Organisationsformen taugen hierfür? Wir wollen es ausprobieren!

Bist Du jemand, der das auch versuchen will? Dann kontaktiere uns. Kennst Du Gruppen, die das selbe Projekt haben, dann leite uns bitte ihre Kontaktdaten weiter. Willst Du diese Zeitung verteilen oder in Deiner Gegend auslegen, schreib uns, wir schicken kostenlos zu (kann dauern, immer wenn Geld da ist).

Nun aber: Viel Spaß beim Lesen. Findest Du einen Artikel falsch und willst uns kritisieren, auch bitte gleich schreiben.