Wir sind nicht behindert, wir werden behindert.

„Nicht unsere Körper sind falsch, sondern die Gesellschaft, die nicht für sie eingerichtet ist“

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Wenn heute staatliche Stellen von Selbstbestimmung von behinderten Menschen reden, ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern einer Bewegung zu verdanken, die vor 40 Jahren in den USA anfing, ein paar Jahre später in die BRD kam und die viele doch nicht kennen: die Behindertenbewegung. Erstmals artikulierten sich viele laut, undankbar, ja offen zornig über die ständige Bevormundung. Wir sprachen mit dem linken Aktivisten Tim darüber, wer wo wen behindert, was noch passieren muss, dass aus „Sorgenkindern“ Menschen werden und warum behinderte Menschen nicht ins Kino gehen sollen.

Viele kennen die Frauenbewegung, den Kampf von Lesben und Schwulen, aber von einer „Behindertenbewegung“ haben wenige was gehört. Verwundert Dich das? Und verwendest Du eigentlich den Begriff „behindert“?

Ja, ich verwende den, aber in dem Sinne, dass wir von der Gesellschaft behindert werden. Und dass die Bewegung so unbekannt ist, verwundert mich überhaupt nicht. Behinderung ist doch allgemein kein hippes Thema. Das weckt erst mal nur Befürchtungen, das wollen viele von sich fernhalten. Außerdem ist die Behindertenbewegung klein geworden, vor allem in den letzten Jahren. Aber es ärgert mich natürlich, dass keiner sie kennt. Eine Menge Errungenschaften, die heute alle für selbstverständlich halten, würde es ohne sie nicht geben. Aufzüge in Bahnhöfen oder dass Betreuer_innen selbst gewählt werden dürfen – das ist den Regierungen ja nicht einfach so eingefallen.

…oder, dass die ZDF-Fernsehlotterie „Aktion Sorgenkind“ in „Aktion Mensch“ umbenannt wurde.

Ja, das passierte aber auch erst im Jahr 2000. Die Behindertenbewegung wandte sich ja gerade gegen den Fürsorgegedanken und die ganze Mitleidsschiene: Da meinen Menschen, die mich nicht kennen, zu wissen, wie mein Leben, wie ich so sei. Das weiß ich aber immer noch selbst am besten.

…und alles schön in ‚nem wohlmeinenden Gestus vorgetragen.

Ja, der geht mir mega auf den Keks. Früher wurde mir auch von völlig Fremden über den Kopf gestreichelt oder mir wurde ein Euro in die Hand gedrückt, als Spende. So was kommt heute seltener vor. Was mich aber immer noch richtig nervt, ist zum Beispiel, wenn Leute über meinen Kopf hinweg mit mir reden. Zum Beispiel wenn ich mit anderen Leuten, vor allem mit Nichtbehinderten unterwegs bin. Dann werden immer die angesprochen und nicht ich. Dann werden die gefragt „Wohin will er denn?“ oder „Kommt er mit seinem Rollstuhl da durch?“. Als wenn ich gar nicht da wäre. Die Leute sind so unsicher und haben viel Angst was falsch zu machen. Da vermeiden sie Kontakt lieber ganz. Es ist mir lieber, wenn jemand mal was Komisches sagt oder eine seltsame Frage stellt, als wenn ich als Subjekt ständig ausgeklammert werde. Diese Ausklammerung passiert mir sogar in linken Kreisen, wenn auch bisschen weniger. Da wird der Umgang meist auch schnell normal, wahrscheinlich weil da alle das Gefühl, Außenseiter_in zu sein, gut kennen.

Wie sieht die Ausgrenzung von behinderten Menschen heute aus? Ich kenne mich da nicht aus, weiß nur, dass es Heime und Sonderschulen gibt. Warst Du darin?

Nein. Aber dafür mussten meine Eltern auch sehr kämpfen. Sie wollten, dass ich mit meinen Freund_innen aus der Straße zusammen zur Schule gehen kann. Dafür musste ich mich aber zahlreichen Tests unterziehen. Es brauchte viele ärztliche Gutachten. Und trotzdem war die Einschulung nur auf Probe. Ich hätte jederzeit aus der Schule genommen und in die Sonderschule gesteckt werden können. Dass heute viele von „Inklusion“ reden und es keinen Zwang zur Sonderschule mehr gibt, ist erfreulich. Allerdings kommen viele Schüler_innen mit Behinderung trotzdem dahin, weil die normalen Schulen sagen, dass ihnen das zu teuer ist oder dass ihre Lehrer_innen dafür nicht ausgebildet sind. Abgesehen davon zeigt sich in dieser neuen Politik auch eine Modernisierung des Kapitalismus.

Was meinst Du damit?

Naja, was als behindert gilt, hat viel damit zu tun, wie die Menschen vernutzt werden sollen. Menschen, die wenig besitzen, haben ja eigentlich nur ihren Körper, mit dem sie arbeiten gehen und so Geld zum Leben verdienen können. Aber was, wenn diese Arbeitskraft nicht „normal“ funktioniert? Dann gibt es halt die Frage, wie man mit den als „unproduktiv“ etikettierten Menschen umgeht. Da war Verwahrung halt das Übliche. Heute jedoch, wo körperliche Arbeit, jedenfalls in Deutschland, unwichtiger geworden ist, liegt ja all die „behinderte“ Arbeitskraft brach. Die kann auch noch nützlich sein. Deswegen kriege ich zum Beispiel einen Teil meines Autos bezahlt – aber nur, wenn ich einen Arbeitsvertrag vorweisen kann. Bin ich hingegen arbeitslos, muss ich nach Meinung des Staates auch nicht aus der Wohnung raus. Für Fahrten zum Arbeitsamt oder für Bewerbungsgespräche darf ich dann Taxiquittungen einreichen, aber ansonsten soll ich halt zu Hause bleiben. Café oder Freund_innen treffen zählt nicht. Mein erstes Auto bekam ich für die Uni und streng genommen hätte ich es auch nur für Fahrten zur Uni verwenden dürfen. Als ich den Abschluss machte, wollte die Behörde das Auto zurück haben. Daran sieht man: Dass Behinderte auch vernutzbar sind, ist heute allgemein durchgesetzt. Und Behinderungen werden genau in dem Maße abgebaut, wo sie der Vernutzung entgegenstehen. Aber ins Kino soll ein arbeitsloser Mensch mit Behinderung nach dieser Ansicht nicht unbedingt gehen.

Aber die Vorstellung: „Die sind behindert“ ist ja nicht nur eine des Staates. Sondern die meisten Menschen rennen mit Körpernormen – was „schön“, was „normal“ sei – durch die Welt. Wie könnte man die auflösen?

Ich glaube, solange Behinderung zuallererst nur mit Schmerz, Leid und Benachteiligung verbunden wird, wird sich das nicht ändern. Aber wenn Menschen mit Behinderung als selbstbewusste, als fröhliche oder auch mal genauso depressive Menschen wahrgenommen werden und das ein Teil der Normalität ist, könnte es sich langsam auflösen. Aber dafür müssten eben erst mal all die gesellschaftlichen Behinderungen weg, all die Knüppel, die man hier zwischen die Beine oder in die Rolliräder geworfen bekommt.

Zum Weiterlesen:
Mondkalb – Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen
„Hauptsache gesund!“ – Text zu Behinderung und Krankheit von den Gruppen gegen Kapital und Nation