Theorie und Praxis

Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen

Text v češtině

Wenn man Leute kennt, die sich mit Politik beschäftigen, erlebt man oft verschiedene Vorstellungen von politischer Arbeit: Da gibt es einige, die finden Theorie langweilig und wollen sofort alle gesellschaftlichen Probleme am Schopf packen. Und solche, die stattdessen vor allem lesen und diskutieren und nicht ganz so oft auf den Demos zu sehen sind. Diese Lagerbildung hat viel mit persönlichen Präferenzen zu tun. Theorie und Praxis müssen dabei aber nicht unbedingt ein Widerspruch sein: Manchmal kann sich verschiedene politische Arbeit ergänzen. Und fast alle sind sich einig, dass es praktische Handlungen gibt, die superwichtig sind. Ob bei sexistischen Äußerungen intervenieren, sich und Freund_innen vor prügelnden Ekelnazis schützen oder sich mit Flüchtlingen zu solidarisieren. Diese praktischen Aktionen sind wichtig, weil sie aktuelle gesellschaftliche Zumutungen mildern. Ob sie die Gesellschaft dauerhaft ändern, sei mal dahingestellt, aber sie scheinen das Leben doch wenigstens vorübergehend ein wenig angenehmer zu machen.
Schwieriger zu beantworten halten wir aber die Frage, wie sich Gesellschaft jetzt grundlegend verändern lässt und welche Rolle Theorie und Praxis da spielen?

Im Zweifel für den Zweifel – Theorie und Kritik
Warum ist Theorie für politische Arbeit wichtig? Da fällt uns einiges ein. Zum einen wollen wir mit unserer Politik nicht bloß Mainstream Common Sense nachplappern. Wir wollen kreativ Dinge hinterfragen und neu gestalten. Um das Bestehende zu reflektieren und zu hinterfragen ist es meist notwendig zu lesen, nachzudenken und zu diskutieren: Theorie zu machen.
Heißt das umgekehrt, dass Menschen, die gesellschaftliche Bedingungen nicht hinterfragen und „bürgerliche Politik“ machen, nicht lesen oder denkfaul sind? Nö. Sie lesen, wenn auch andere Sachen. Und sie denken auch nach, oft sogar sehr angestrengt. Jedoch nehmen viele von ihnen die bestehende Gesellschaft als natürliche und selbstverständliche Organisationform wahr. Alles, was dem nicht entspricht, gilt als falsch, abwegig und unrealistisch.
Darüber hinaus stellt der Kapitalismus die Menschen oft vor widersprüchliche Anforderungen. Wir sollen sozial zu unseren Mitmenschen sein, gleichzeitig sollen wir aber immer die Besten, Klügsten und Erfolgreichsten sein und alle Konkurrent_innen ausstechen. Solche Widersprüche lassen sich im Alltag kaum auflösen. Stattdessen entwickeln die Menschen verschiedene Strategien, um mit den Widersprüchen irgendwie zu Recht zu kommen. Die können manchmal ganz schön eklig sein, wie zum Beispiel der Nationalismus: „Die anderen Deutschen sind alle meine Freunde und die Ausländer meine Konkurrent_innen“. Viele nennen so etwas “Ideologie“. Weil die Gesellschaft widersprüchlich ist und als „natürlich“ erscheint, entwickeln die Menschen komische Lösungsversuche.
Das passiert auch vielen Linken. Als in linken Kreisen noch „Nation“ und „Volk“ als „natürliche“ Kategorien galten, erschien es ganz logisch und unproblematisch sich mit nationalistischen und vielleicht sogar antisemitischen Befreiungsbewegungen zu verbünden. Heute sehen das viele Linke anders. Dies ist aber nicht vom Himmel gefallen, sondern war unter anderem das Ergebnis der theoretischen Reflektion von gesellschaftlichen Ereignissen.

Leg dein Ohr auf die Straße der Geschichte – Praxis als Lernprozess
Gesellschaftliche „Gewissheiten“ zu hinterfragen und Widersprüche aufzulösen ist oft gar nicht so einfach. Um nicht mit doofen politischen Aktionen gegen die Wand zu fahren, ist dauerhaftes Lernen und ideologiekritische Theoriearbeit notwendig. Der Wunsch, besser zu lernen und zu verstehen, soll aber nicht ausschließlich in der Bücherei enden. Sich aktiv im Arbeitsamt gegen Schikanen einsetzen oder zu rassistischen Vorurteilen in der Provinz arbeiten, ermöglicht oft anderes Lernen als es durch Bücher möglich ist. Das gleiche gilt auch, wenn man versucht, zusammen mit anderen – in Gruppen – organisiert in die Politik einzugreifen. Hier ist es möglich durch Erfahrungen in praktischen Konflikten, in Bündnissen und mit Institutionen mögliche gesellschaftliche „Bruchstellen“ kennenzulernen, d.h. Momente, an denen die Gesellschaft, die so festgefügt wirkt, und all ihre Scheinselbstverständlichkeiten kurz ins Wanken geraten. Es ist zum Beispiel eine ganz andere Erfahrung, sich in einem Schulstreik oder in einer Initiative für mehr Mitbestimmung einzusetzen als nur darüber zu lesen. Oft erfährt man in praktischen Auseinandersetzungen erst, was möglich ist – und wo die Verhältnisse (noch?) nicht wollen wie wir. Natürlich bleibt es hier auch ein Abwägungsprozess, wie man mit wem kooperiert und welche Kompromisse man strategisch für akzeptabel hält. Aber das lässt sich oft auch nicht theoretisch bestimmen, sondern nur aus politischer Erfahrung erlernen. Erfahrungen werden nicht einfach „gemacht“, sondern in politischen Prozessen erworben. Dazu gehört auch organisierte Reflexion wie z.B. das Nachbesprechen von Aktionen zusammen mit seinen Leuten. Oder das „sich kritisieren lassen“ von anderen. Wenn sich Ideen und Aktionen kritisieren lassen, dann bedeutet das nicht, dass sie dadurch geschwächt werden. Im Gegenteil: Kritik ist ein Instrument, das es ermöglicht, Argumente und Analysen zu überprüfen und zu verbessern. Zu lernen.

No Power To The People – Theorie als Machtverweigerung
Ein anderer Grund für viele politisch engagierte Menschen viel Theoriearbeit zu machen ist die schlechte historische Erfahrung mit linken Praxen. Hintergrund ist die Geschichte des autoritären und staatlichen Terrors mit dem „Linke“ versucht haben, ihre Tugenden durchzupeitschen. Das ging in der französischen Revolution los und wurde auch während des Realsozialismus in der Sowjetunion und DDR noch mal richtig schlimm. So etwas hat viele radikale Linke dazu gebracht, Machtpolitik ganz abzulehnen: Die Welt soll verändert werden, ohne die Macht zu übernehmen. Es wird sogar von einigen als problematisch angesehen, Gruppen zu gründen, um Einfluss zu gewinnen. Denn dies würde in einer Gesellschaft münden, in der diejenigen ihre Interessen umsetzen können, die am stärksten sind, die sich am besten organisieren können und die am meisten Mitstreiter_innen haben. Und das ist wieder Zwang und Herrschaft. Wie geht’s aber stattdessen zu einer Welt, in der die Menschen solidarisch und frei von Macht und Herrschaft miteinander leben? Um einer solchen Idee näher zu kommen, sollten sich die Praxen auch an diesem Ziel orientieren.

Das Entkorken der Flaschenpost – Praxis zur Anwendung der Theorie
Viele Menschen sind nicht bereit, sich auf neue Argumente einzulassen, finden radikale Argumente schon von Anfang an abseitig oder können sich nach einem anstrengend Tag Lohnarbeit nur noch von RTL berieseln lassen. Und wenn man dann als kleine emanzipatorische Gruppe mit der Gesellschaft über Texte und Aufrufe in Kontakt treten will, dann erreicht man meistens – naja, ihr wisst schon. Deshalb muss versucht werden, einen möglichst herrschaftsfreien radikalen Diskurs zu schaffen: auf Demonstrationen, durch Plakate, in Diskussionsrunden oder eben in einer dieser wunderschönen Zeitung, die du gerade in der Hand hältst.
Viele Linke sind hier oft zu Recht ein bisschen skeptisch, wenn versucht wird, die Argumente mit bunten Bilden, einprägsamen Parolen und cooler Hintergrundmusik zu verkaufen. Wir wollen ja nicht überzeugen, weil wir cooler sind, sondern weil wir das bessere Argument haben. Aber selbst das beste Argument kann sich nur entfalten, wenn es auch rüberkommt. Wer das eigene Argument ernst nimmt und für wichtig hält, wünscht sich Bedingungen, in denen dieses Argument möglichst einflussreich sein kann. Und solche Bedingungen werden durch symbolpolitische Interventionen geschaffen. So kann es zum Beispiel ziemlich sinnvoll sein, eine Demo gegen das Konzept von „Nation“ am 3. Oktober zu machen. Da reden eh alle über Nation und Deutschland und da besteht eine bessere Chance, gehört zu werden, als irgendwann im Sommer, wenn alle schon an Urlaub denken.

Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind
Praktische Aktionen sind für sich alleine selten in der Lage, Gesellschaft zu reflektieren und lieb gewonnene Gewissheiten infrage zu stellen. Dazu braucht es Theorie als Ideologiekritik. Ohne die theoretische Reflexion von politischen Aktionen kann man jahrzehntelang humanistische Flüchtlingsarbeit machen, ohne etwas über institutionellen Rassismus zu verstehen. Auch sprechen politische Aktionen selten „für sich“, ihre Entwicklung und Wahrnehmung muss theoretisch abgesichert und überprüft werden. Theorie ist wichtig.
Wer aber den ganzen Tag nur noch liest, ohne sich Gedanken zu machen, wie man das Gelesene vermitteln kann, handelt unpolitisch und oft selbstgefällig. Da wird eigentlich keine gehaltvolle Theorie mehr gemacht, sondern nur selbstgenügsame Rhetorik. Obwohl und gerade weil wir nur eine herrschaftsfreie Diskussion haben wollen, müssen wir durch Praxis Situationen schaffen, in der ein gesellschaftsverändernder Diskurs möglich ist.

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