Natürlich bin ich nicht dein Typ

Eine kleine Empfehlung des Buches „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“.

Immer wieder werden wir in den Medien, Politik, Familie und Freundeskreis mit Aussagen über eine angebliche Naturhaftigkeit des Menschen konfrontiert: ob nun, dass der Mensch von Natur aus egoistisch, faul und böse sei oder dass er sich ‚natürlicherweise‘ verliebt, Pärchen bildet, sich zum Nisten ein Reihenhaus baut. Vor allem in Hinblick auf Männer- und Frauenrollen sind die Kirche und die Biologie zwei ganz große und wichtige Institutionen zur Beibehaltung und Verbreitung solcher Schauermärchen. Heinz Jürgen Voß hat sich mit der Geschlechterforschung in der Biologie auseinandergesetzt. Ihr_sein Buch „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ aus der Reihe theorie.org, liefert einige Argumente und Fakten zum Zurückfeuern.

Die Biologie gehört zu den Naturwissenschaften und genießt eher den Ruf glaubwürdig zu sein, als andere Wissenschaften, deren Theorien meist als verhandelbar oder Ansichtssache gelten. Dabei werden ja auch in der naturwissenschaftlichen Forschung Fragestellung und Auslegung von Ergebnissen davon beeinflusst, was für die Forschenden denkbar ist. Statistiken und deren Auswertung z. B. dienen oft dazu, Behauptungen mit einer unterstellten Sachlichkeit zu untermauern. Kritische Betrachtung solcher Wissenschaften ist also angebracht. Während es bei den eindeutig rassistischen Behauptungen – wie denen von Sarrazin – kaum Sinn macht sich auf biologischer Ebene auf eine Diskussion einzulassen, kann das in anderen Fällen sinnvoll sein. Im Biologieunterricht wird uns eines ganz genau hinter die Ohren geschrieben: dass es eben – biologisch bewiesen – zwei gegensätzliche Geschlechter gäbe. Du zählst dann entweder zu den Adams oder Evas, je nach Hormonhaushalt.
Und dazu sollen jeweils ein typischer Körperbau, Fähigkeiten und Verhaltensweisen gehören. Hierzu bietet das Buch eine interessante Möglichkeit, sich mit der Wissenschaft und wie sie wahrgenommen wird, auseinander zu setzen. Voß geht auch als Biolog_in davon aus, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, und somit das, was als ‚natürlich‘ gilt, genauso menschengemacht ist, wie die Gesellschaft in der der Mensch lebt. In seinem Buch zeigt er, wie sich Ansichten in der Gesellschaft über Geschlechter und ihre Rollenbilder gewandelt haben – denn nicht immer wurde von einer Geschlechterdifferenz ausgegangen. Anschaulich und kurzweilig skizziert Voß die Achterbahnfahrt der Geschichte nach: von griechisch-antiken Theorien zu Ein- oder Mehrgeschlechtlichkeit über moderne Geschlechterforschung bis zu den neuesten Ergebnisse und Diskursen in der Medizin und Biologie. Dabei erwarten Dich keine langweilig-detaillierten Ausführungen über komplizierte biologische Prozesse, sondern ein nachvollziehbarer Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft, der auf viele Geschlechter und Individualitäten der Körper verweist. Forschende in Medizin und Biologie sind bis heute auf der Suche nach einem „geschlechtsdeterminierenden Faktor“, der auf chromosomaler Ebene die Geschlechtsentwicklung auslösen soll. Immer wieder werden dafür verschiedene Gene vorgeschlagen, jedoch widerlegen genauere Untersuchungen stets diese Behauptungen bzw. stützen nicht ihre Allgemeingültigkeit. Genau solche Uneindeutigkeiten deckt Voß auf und stellt dar, dass es keine Standard-DNA-Verknüpfung und keine genauen Orte der Ausprägung von Geschlecht gibt sowie auch keine klar zu unterscheidenden Wirkungen von biologischen Vorgängen auf ein männliches bzw. weibliches Verhalten. Bei allen mikroskopischen Streitigkeiten um Hormonhaushalt und Chromosomen mahnt das Buch jedoch auch, an das Wesentliche zu denken: „Es geht nicht darum, ob aktuell Differenzen zwischen ‚Frau‘ und ‚Mann‘ feststellbar sind, sondern es geht gegen die Annahme, dass diese Differenzen „natürlich“ seien.“

Erschienen 2011 im Schmetterling Verlag, 180 Seiten, 10 Euro.
http://www.heinzjuergenvoss.de