Alice im Wunderland

Was kann man denn nach der Schule machen? Gleich arbeiten oder studieren? Oder doch ein freiwilliges soziales Jahr? Seit knapp vier Jahren gibt es eine Alternative der ganz besonderen Art: Für den Freiwilligendienst „Weltwärts“ komplettfinanziert in ein Entwicklungsland reisen und dort Aufbauhilfe leisten. Na das hört sich doch toll an! Gutes tun, ein Jahr in den Süden fliegen und das alles auch noch für umme.

Immer mehr junge Menschen (auch einige von uns SaZ-Redakteur_innen) haben sich seitdem für einen Freiwilligendienst im Ausland entschieden. Aber bei allen schönen Dingen, die so eine Reise mit sich bringt, sehen wir auch das ein oder andere Problem. Der gleiche Staat, der durch Agrarsubventionen für Exportschwierigkeiten in Ländern des Südens sorgt und den Menschen, die dann von dort nach Europa flüchten, die Grenzschutztruppe Frontex auf den Hals schickt – dieser Staat spendiert jetzt selbstlos jährlich über 70 Millionen Euro um Menschen in Entwicklungsländern aus der Patsche zu helfen? Und das auch noch durch Schüler_innen? Das erscheint nicht nur uns merkwürdig. „Egotrip ins Elend“ schallt es gar aus der Presse. Nicht ganz zu Unrecht. Denn im Gegensatz zu ausgebildeten Entwicklungshelfer_innen fehlt uns Freiwilligen zumeist das nötige Know-how und die Erfahrung, um der dortigen Bevölkerung wirklich helfen zu können. Von dem Geld, das der Staat uns Jugendlichen für Flug, Seminare und Unterkunft gibt, könnten oft vor Ort mehrere dringend notwendige neue Jobs in der Sozialarbeit finanziert werden.

Who am I? I am Europe
Diejenigen, die am meisten von dem Auslandsprogramm profitieren, sind wir Freiwilligen selbst. Transportierten die Kolonisatoren früher mittels direkter Gewalt noch einen Haufen Gold, Silber und Gewürze aus der heutigen Dritten Welt nach Europa, so funktioniert Ausbeutung mittlerweile vor allem über einen Vorsprung von Technik und Wissen. Europäische Firmen müssen wissen, wie die Einwohner_innen Brasiliens ticken, wenn sie in São Paulo eine Zweigstelle errichten wollen. Fragen zu Fremdsprachenkenntnissen und Auslandsaufenthalten gehören mittlerweile zum Standardrepertoire eines Vorstellungsgespräches. Denn „will Deutschland Exportweltmeister bleiben, brauchen gerade kleine und mittlere Unternehmen mehr Auszubildende mit Auslandserfahrung”, weiß auch der Chef der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Hauptintention von Weltwärts ist weder Entwicklungshilfe noch der Wunsch nach einer Welt ohne Rassismus, sondern dem deutschen und europäischen Arbeitsmarkt mehr Leute mit internationaler Erfahrung zur Verfügung zu stellen, um die überlegene Position gegenüber sogenannten Entwicklungsländern zu festigen. Erfahrung, interkulturelle und soziale Kompetenzen sind in einer globalen Ökonomie halt wertvolle Güter.
Ob aber vielleicht Jugendliche aus Bolivien, Nicaragua oder Indien auch mal ein Jahr durch die Arbeit in einem deutschen Kindergarten Erfahrung sammeln dürften? Fehlanzeige. Ohne deutschen Pass bedeutet eine Reise über den Atlantik ein teures und entwürdigendes Abenteuer. Für die wenigen, die die hohen Kosten für Flug und Visum aufbringen können, warten ewige Visaprozedere, Fragen nach Einladungsschreiben und Kontostand inklusive. Wir können nur so unkompliziert reisen, weil das Land, das uns unseren Pass gibt, zufällig eine mächtige Position auf dem Weltmarkt innehat. Im Gegensatz zu jenen Menschen in Ländern, die wir mit unserem Freiwilligendienst bereisen und dieses „Glück“ nicht haben. Interkultureller Austausch, wie das erklärte Ziel von Weltwärts ist, wird eben nur in eine Richtung finanziert.
Es ist eine Illusion mit einem Freiwilligendienst der unangenehmen kapitalistischen Ordnung eine Absage zu erteilen und sich dadurch auf die Seite der Drittweltbevölkerung schlagen zu können. Als Freiwillige betreten wir Entwicklungsländer nicht als Gleiche unter Gleichen, sondern als Vertreter_innen einer privilegierten Schicht, die den Degradierten einen Besuch abstatten, in einer Art und Weise, wie es diesen nie vergönnt ist.

Who are you? Projektion und positiver Rassismus
Sich für ein Jahr unter die Armen dieser Welt zu mischen, empfindet man leicht als befreiend. Als freiwillige_r Helfer_in in einem tansanischen Waisenhaus kann man endlich mal das miefende Gewand des privilegierten Westlers abstreifen und sich in eine vermeintlich unberührte Gemeinschaft begeben.
Die Abwesenheit von moderner Technik wird schnell als sympathisch empfunden, der Einfluss des Westens und der Moderne hingegen wirken als Bedrohung der naturnahen authentischen Kultur der Einheimischen. In der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Natürlichkeit werden Tradition und Folklore zu Symbolen einer Welt, wo noch alles in Ordnung ist. Dass wir Freiwilligen aus Deutschland „unsere“ Traditionen wie Volkslieder und Trachtenkleidung oft als lästig empfinden und nichts mit ihnen zu tun haben wollen, wird dabei schnell vergessen. Die Faszination von kultureller Folklore geht so weit, bis die Bereisten kaum mehr als Personen, sondern als Repräsentant_innen ihrer kulturellen Gemeinschaft betrachtet wird. Interessant ist der_die Peruaner_in besonders dann, wenn er_sie traditionelle Kleidung trägt und irgendwelche „uralten traditionellen Riten“ praktiziert.
Rassismus ist, wenn Menschen aufgrund ihrer „ethnischen“ oder „kulturellen“ Herkunft beurteilt werden. Dabei werden „die Anderen“ oft konkretisiert, das heißt sie werden mit konkreten, vermeintlich unverfälschten und einfachen Eigenschaften in Verbindung gebracht und als naturnah, gefühlsbetont, authentisch beschrieben. Dabei entsteht eine durchaus hierarchische Gegenüberstellung von „modern“ und „natürlich“, „Vernunft“ und „Gefühl“, „aufgeklärt“ und „religiös“. Das muss nicht unbedingt negativ gemeint sein. Im Gegenteil: Mit der Projektion des „Natürlichen“ auf die Einheimischen wird gerade ein Gegenstück zu der von vielen als bedrohlich empfundenen Moderne gesucht. „Hach, seht, wie toll der Peruaner mit seinen bunten Klamotten singt!“, oder auch: „Ist es nicht toll, wie schön die Menschen hier noch ohne Strom auskommen!“ Aber gerade wenn wir die „Einheimischen“ für ihre vermeintliche Natürlichkeit mögen, ist dies eine Art von Rassismus. Jemand, der in Peru geboren ist, ist nicht a priori ein naturverbundener Mensch. Er_sie ist, genau wie wir, zuerst einmal ein Individuum, das selbst entscheidet, wie es sich sein Leben gestalten will. Und wenn Leute nun lieber iPhones statt einer Panflöte besitzen möchten oder lieber Flugzeug fliegen, anstatt mit dem schnucklig-klapprigen Reisebus durch die Pampa zu tuckern, dann ist das ihr gutes Recht, welches wir, als längst mit diesen Privilegien ausgestattete, ihnen nicht abzusprechen haben.

Ich & Du (When I go, I go prepared!)
Ein Jahr in einem Entwicklungsland zu verbringen, kann eine tolle Erfahrung sein, ist aber nicht immer leicht. Nicht nur die vielen organisatorischen Probleme, die lange Abwesenheit von zu Hause und die schwierige Eingewöhnung. Auch kommen wir nicht daran vorbei, unsere eigene Position in der Welt zu reflektieren. Und ja, auch wir selbst kommen dabei nicht wirklich gut weg. Wir finden uns selbst oft total individuell, unabhängig und politisch korrekt. Das Problem ist aber, das niemand komplett unabhängig ist. Unsere Sichtweisen, unser Handeln und auch Auswirkung unseres Handelns sind beeinflusst, von der Gesellschaft, in der wir leben. Wir können uns der postkolonialistischen Struktur dieser Welt oft nicht entziehen, auch wenn wir das gerne hätten.
Genauso müssen wir auch unsere Sichtweise auf die Bereisten reflektieren. Niemand ist ein_e neutrale_r Beobachter_in und auch wir kommen mit ganz bestimmten vorgefertigten Bildern in fremde Länder. Und von sozialromantischen Vorstellungen, dass das Leben woanders deshalb besser ist, weil der moderne Kapitalismus dort (noch) nicht so stark ausgeprägt ist, sollten wir uns auch lieber heute statt morgen verabschieden.
Nicht zuletzt sollten wir noch klären, was unsere Intentionen für so ein Auslandsjahr sind. Klar ist es wunderbar und wichtig Menschen helfen zu wollen, deren Lebensbedingungen noch viel, viel schlechter sind als unsere hier in Deutschland. Aber wir sind keine ausgebildeten Entwicklungshelfer_innen und die Gesamtscheiße kann leider auch nicht durch Sozialarbeit weggeputzt werden. Wer Lust hat, ein Jahr ins Ausland zu gehen, soll das gerne tun. Wer aber die Welt verbessern will, wird das nicht durch einen Freiwilligendienst tun können.

Zum Weiterlesen:

Broschüre „Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet”