Gott, Gene und fiese Kapitalist_innen

oder: Warum viele Religionskritiker_innen ähnliche Fehler machen wie ihr Gegenüber

Leute, die in ihrer Freizeit mit irgendeiner heiligen Schrift rumlaufen und anderen daraus vorlesen, findet eigentlich keine_r richtig cool. In der Schule ist Reli oft eins der Fächer, bei denen selbst diejenigen schwänzen, die sonst keine Stunde verpassen. Und auch sonst sind da ganz viele einer Meinung: Religion sei ignorant und altmodisch, ganz klar, weil man ja mittlerweile wisse, dass die ganzen heiligen Bücher einfach nicht recht haben. Urknall, Einzeller, Dinosaurier und so weiter zeigten, dass die Schöpfungsgeschichte allenfalls ein nettes Märchen sei. Und im Weltraum seien wir auch schon gewesen, Gott haben wir aber nicht gefunden. Stattdessen solle man sich ja mal vor Augen führen, was Religion statt dem von Gott versprochenen friedlichen Leben wirklich verursacht habe: Nichts als Krieg und Elend. Nachdem etwa in London einige evangelikale Christ_innen auf die Idee gekommen waren, auf öffentlichen Bussen Werbung für das Christentum mit Sprüchen wie „Ungläubige werden Höllenqualen leiden“ zu machen, fühlten sich einige Atheist_innen dazu berufen, ihre eigene Buskampagne in mehreren europäischen Staaten zu starten. Auch in einigen deutschen Städten waren zum Beispiel Werbeflächen mit dem Text „Es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott“ zu sehen.
Aber sollte Religionskritik wirklich so aussehen? Dieser Artikel wird versuchen, ein paar Fehler in dem Weltbild von Religionskritiker_innen dieser Sorte herauszuarbeiten. Nach deren recht weit verbreiteten Sicht ist Religion nämlich gar kein Phänomen, das mit dem Aufbau der Gesellschaft zusammenhängt. Sondern stattdessen einfach ein Irrtum, dem unerklärlicherweise (oder vielleicht wegen einiger übler religiöser Anführer_innen, die hinter Macht und Geld her sind?) auch im 21. Jahrhundert noch eine ganze Menge Leute unterliegen. Wenn diese Menschen einfach mal ein paar wissenschaftliche Zeitungen lesen und dann akzeptieren würden, wie schlecht es mit Gottes Existenzchancen aussieht, wäre man mit dem ganzen Problem ziemlich schnell fertig und die Gesellschaft eine bessere. Dazu passt, dass viele jener Atheist_innen in ihrer Verurteilung der Religion dazu übergehen, die Ursachen für gesellschaftliche oder politische Konflikte in den unterschiedlichen Religionen der Beteiligten zu sehen und so zu einer verkürzten Erklärung zum Beispiel des Nahostkonfliktes oder auch der aktuellen „Integrationsdebatte“ kommen. Dass Interessenskonflikte gesellschaftlich bedingt und gerade auch im Kapitalismus vorprogrammiert sind, wird gar nicht beachtet. Wir wollen nun zwar nicht behaupten, dass unterschiedliche Religionen und vor allem deren besonders wahnsinnige Vertreter_innen auf politische Konflikte keinen Einfluss haben, aber es muss schon mehr Faktoren geben, denn schließlich bekommen es Anhänger_innen verschiedener Religionen an anderen Orten auch hin, gut miteinander auszukommen.

Leider fällt den atheistischen Kritiker_innen oft nicht auf, dass sie das, was sie an der Religion ablehnen, auf dem Gebiet der Naturwissenschaften fraglos akzeptieren können. Während die Religion alles aus Gott erklärt, dieser alle Bedingungen setzen soll, ist für die Naturwissenschaft das Atom oder die Aminosäuren o.ä. die Ursache aller Phänomene in der Welt. In wen wir uns verlieben, wann wir unsere Aktien kaufen und natürlich warum wir uns als Konkurrent_innen zueinander verhalten, hat man längst „herausgefunden“. Sogar das Religions-Gen wurde inzwischen ausfindig gemacht. Überhaupt: An die Stelle Gottes treten häufig die Gene, die das Verhalten des Menschen für immer und ewig bestimmen. Verdächtig!
Eine andere unfreiwillige Gemeinsamkeit besteht darin, wie vehement beide, Religiöse wie Atheist_innen, ihre stillen Voraussetzungen verteidigen. Das heißt: Über Detailfragen, etwa wie wörtlich man die Bibel jetzt nehmen muss oder unter welchen Bedingungen ein Experiment wissenschaftlich gültig ist, kann man super streiten. Grundsätzlichere Kritik kommt jedoch meistens schlecht an. Wenn man die eine Seite einmal fragt, warum sie überhaupt davon ausgeht, dass es einen Gott gibt und man seine Regeln befolgen muss, oder sich bei der anderen erkundigt, wie sie auf den Gedanken kommt, dass alles, was in dieser Welt vorkommt, mittels naturwissenschaftlicher Messmethoden erfassbar sein sollte, brechen die Begründungen ab und man bekommt Sätze wie „Irgendwo muss man ja anfangen!“ zu hören. Dass man selbstverständlich trotzdem unangenehme Fragen und Einwände mit inhaltsleeren Beschuldigungen wie „Gottlos!“ oder „Unwissenschaftlich!“ zurückweisen kann, müssen wir wohl nicht extra schreiben …
Vielen Naturwissenschaftler_innen und besonders deren atheistischen Fans fällt außerdem nicht auf, dass ihre Forschungsergebnisse gar nicht so objektiv und unabhängig von der bestehenden Gesellschaft sind, wie sie es gerne behaupten. Zwar haben die Ergebnisse der Experimente auf den ersten Blick eher nichts mit der aktuellen Produktionsweise zu tun – Kupfer wird den elektrischen Strom hoffentlich auch in tausend Jahren noch leiten – doch was erforscht wird, zu welcher Zeit, ob und wo die Ergebnisse veröffentlicht werden, hängt mit der historischen Situation zusammen, in der wir uns befinden. Zumal es ein ziemlich falscher Gedanke ist anzunehmen, dass die Forschungsgelder fließen, damit alle angenehmer in der Natur leben können, die uns umgibt. Investiert wird vom Staat nämlich vor allem dort, wo durch das Know-how ein politischer Vorteil entsteht, wie etwa auf dem Gebiet der Kernphysik, oder sich Gewinne machen lassen, nämlich beispielsweise bei der Entwicklung von Medizin gegen Krankheiten, die in der „westlichen Welt“ sehr verbreitet sind.

Wir wollen hier nicht die naturwissenschaftliche Forschung an sich als gefährlich und reaktionär hinstellen. Ohne all die Erkenntnisse aus Physik, Chemie und so weiter würde es sich bedeutend schlechter leben, außerdem gibt es auch viele kritische Forscher_innen, die sich der Rolle der Naturwissenschaften in der Gesellschaft bewusst sind. Aber leider geht es häufig nicht nur darum, durch ein paar Experimente hilfreiche Dinge für den Alltag herauszufinden. Denn das Bedürfnis Vieler nach einer Rechtfertigung der Welt und ihrer Widersprüche, welches vorher durch die Religion befriedigt wurde, existiert immer noch. Und viele suchen ihre Antworten jetzt in den zahlreichen Publikationen zum Beispiel in den Bereichen Hirnforschung und Genetik. Dabei wird übersehen, dass die Experimente gerade dort oft unter extrem zweifelhaften Bedingungen stattfinden. In der Interpretation der Ergebnisse, mit der die eigentlichen Wissenschaftler_innen manchmal auch gar nicht übereinstimmen, geht es dann häufig auch um den Aufbau der Gesellschaft. Das ist ein sehr fragwürdiger gedanklicher Schritt, schließlich sind der Ausgangspunkt doch nur Beobachtungen auf der Ebene der Teilchen und Zellen. Und die nicht gerade überraschenden „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ sehen dann so aus: Frauen seien nun mal von Natur aus in vielen Bereichen anders drauf als Männer und Konkurrenzverhalten entspräche dem Wesen des Menschen.
Wer das dann glaubt, hat natürlich keinen Grund mehr über eine mögliche andere Gesellschaft nachzudenken und wird sich mit dem Bestehenden arrangieren. Insofern dient das Vertrauen in „die Naturwissenschaft“ dazu, sich vor der eigenen Verantwortung für die Abschaffung der Misere in dieser Welt zu drücken – Es ginge ja nun mal nicht anders.
Aber auch linke Religionskritiker_innen bringen gern die ein oder andere seltsame These vor. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Ausspruch „Religion ist Opium für das Volk.“ Er ist Ausdruck einer Verschwörungstheorie der Art: „Die Herrschenden haben sich die Religion ausgedacht und sie verbreitet, damit die Arbeiter_innenklasse sich auf das Leben im Jenseits konzentriert und keine Revolution beginnt.“ Das anzunehmen ergibt allerdings wenig Sinn. Weder ist klar, wo und zu welcher Zeit sich die herrschende Klasse zusammengesetzt haben soll, um das (immerhin wohl schon seit Jahrhunderten existierende) Christentum den aufrührerischen Arbeiter_innen einzutrichtern. Zudem passt es auch nicht zusammen, dass das Proletariat zwar einerseits ständig kurz vor der Revolution stehen soll, sich auf der anderen Seite aber durch so eine schwache Story abspeisen ließe. Die Theorie dient als Rechtfertigung von Leuten, die um jeden Preis an ihrem zu einfachen Weltbild des guten, unschuldigen Volkes und der bösen und berechnenden herrschenden Klasse festhalten wollen. Marx wollte übrigens genau diesem Denken vorbeugen, als er unter anderem schrieb: „Religion ist das Opium des Volks“. Für ihn war die verkehrte Welt im Ganzen Ursache des verkehrten Weltbewusstseins aka Religion.
Um das Phänomen Religion und andere Ideologien richtig verstehen zu können, muss man sich also etwas genauer die Verhältnisse anschauen, unter denen sie funktionieren und erklären, woher das Bedürfnis nach einer einfachen Erklärung bzw. Rechtfertigung der Welt und ihrer Widersprüche stammt. Sonst ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, in die gleiche Falle zu tappen und die nächste fragwürdige Wahrheit zu verkünden, die zwar in den gegenwärtigen Forschungs-Hype oder ins eigene Gut-böse-Schema passt, dabei noch – eventuell unfreiwillig – die bestehende Gesellschaft stützt, aber im Grunde die gleichen Fehler macht und überhaupt nichts erklärt. Amen.

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