Ene, mene, muh und…

Vom Leben im Hamsterrad und dem Hass auf alle, die es angeblich aufhalten

Wenn wir uns unsere Lebensläufe einmal genauer anschauen, bemerken wir schnell, dass die Angst, ohne Job zu sein oder diesen zu verlieren, ziemlich zentral ist. Schon die Jagd nach einem Ausbildungsplatz, das angstvolle Büffeln fürs Abi oder das Hecheln nach Praktika und Qualifikationen sind der Anfang vom Lauf im Hamsterrad. Und die Forderung, dass es ein lebenslanges Lernen bräuchte, verstehen viele zu Recht als Drohung. Doch wenn wir fallen, wacht über unser Wohlergehen der Sozialstaat, sagt man uns. Haben wir also Glück gehabt? Wenigstens müssten Leute, für die es keine Lohnarbeit gibt, nicht gleich verhungern und erfrieren. Das Sozialsystem beschütze die Bürger_innen vor den schlimmsten Gefahren des freien Marktes. Wir fragen aber, was das schon heißt – angesichts des Alltags, der für viele weiterhin gerade von erniedrigenden Arbeitsbedingungen, Hungerlöhnen und Existenzangst bestimmt wird? Und was heißt das schon – im Vergleich zum schönen Leben, das für alle möglich sein könnte?
Dass Hartz IV besser ist als gar keine Unterstützung und acht Euro Aufschlag besser als fünf Euro, macht den Sozialstaat nicht zur menschenfreundlichen Veranstaltung. Sein Zweck war von Anfang an auch die Kontrolle über die Einwohner_innen. Zum Beispiel wurden die staatlichen Sozialversicherungen ab 1881 im Deutschen Reich vor allem eingeführt, um die erstarkende Sozialdemokratie zu bekämpfen. Außerdem sollten die Arbeiter_innen nicht zu früh verrecken – der aufkommende Kapitalismus hatte die Gesundheit der meisten Leute in dramatischer Weise ruiniert, die Körpergröße wie Lebenserwartung der Menschen sank.
Heute gewährt die Bundesrepublik mit ALG2, Schüler-Bafög und Co. seinen Bürger_innen bedingt das Recht auf eine minimale Existenzsicherung. Auf diejenigen, die Hilfen des Staates beanspruchen, weil sie ihr (Über)Leben nicht mehr aus eigener Kraft sichern können oder wollen, wartet ein ganzer Katalog an Disziplinar- und Überwachungsmaßnahmen: Die Erwerbslosen werden vom Jobcenter systematisch fertig gemacht. Statt, wie behauptet, als Hort der Wohlfahrt, präsentiert sich der Sozialstaat als Sanktionsregime gegen alle, deren Arbeitskraft momentan nicht gebraucht wird. Durch den Leistungszwang und die Druckmittel der Behörden muss jede_r Einzelne immer mehr leisten – um immer weniger zu bekommen. Dieser Mechanismus führt auch zu noch mehr Konkurrenz unter den Lohnabhängigen. Denn wer die Anforderung erfüllt und alles tut, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, muss eben immer auch wollen, dass jemand anderes den Job nicht kriegt.

„Das ist Kapitalismus – mit menschlichem Antlitz!“
Angeblich profitieren alle Angehörigen – und vor allem die Schwachen – vom Sozialstaat. Ist er also doch ein Helfer in der Not? Mitnichten! Schon, dass eine solche Institution überhaupt nötig ist, um die Gesellschaft zu organisieren, sollte stutzig machen. Das System der Lohnarbeit entspricht den Bedürfnissen der Menschen offensichtlich doch nicht so gut, wie gern behauptet wird. Der Staat macht aus den selbstverständlichen Bedürfnissen, nicht verhungern oder erfrieren zu wollen, überhaupt erst ein Recht. Und damit letztlich Paragraphen, die genau klären, wer wann aus welchem Grund Ansprüche stellen darf. Die Voraussetzung dafür ist, na klar: Bereitschaft zur Arbeit. Mit seinem Schutz vor den brutalsten Folgen des Wettbewerbs, bindet der ach so sorgende Staat die Menschen an die Idee der Sozialpartnerschaft. Wer sich zu den Schützlingen zählen darf, ist wiederum umstritten. Das Anrecht auf vermeintlich begrenzte Haushaltsressourcen wird verteidigt mit rassistischen Parolen und sozialchauvinistischen Zuschreibungen. Anders als beim Chauvinismus oder Nationalismus, bei dem der Ausschluss über die Nation funktioniert, werden Menschen im sozialchauvinistischen Denken über ihre vermeintliche Leistungsbereitschaft (bzw. -fähigkeit) auf- und abgewertet. So kritisierte ein Politiker der Grünen 2007, Erwerbslose würden ihren Lebenssinn darin sehen, „Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen“ und nicht zufällig wurde drei Jahre später der Anspruch von Hartz IV-Empfänger_innen auf Genussmittel wie Alkohol und Tabak gestrichen. Und der damals noch als SPD-Finanzsenator tätige Sarrazin riet allen, die ihre Heizrechnungen nicht mehr zahlen könnten, sie sollten sich überlegen, „ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können“.

„Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers“
Gegen die staatlichen Zumutungen regt sich nur spärlich Widerstand. Die Bevölkerungsmehrheit beteiligt sich stattdessen durch die Stigmatisierung von Erwerbslosen als „Schmarotzer_innen“ und von Einwander_innen als „Kriminelle“ zumindest verbal an deren gesellschaftlicher Ausgrenzung und Zurichtung. Zum „Schutze des deutschen Arbeitsmarktes“ unterstützen sogar die Gewerkschaften die rassistische Politik gegen osteuropäische Arbeiter_innen, anstatt ernsthaft zu versuchen, die Lohnabhängigen über Grenzen hinweg zu organisieren. Wenn diejenigen, die Arbeit haben, mit dem Finger auf die „Überflüssigen“ zeigen, machen sie sich die menschenfeindliche Logik des Standorts zu eigen. Die besagt: Arbeitslosigkeit verursacht der Gemeinschaft Kosten. Deshalb verlange es schon die Höflichkeit, dass Leistungsempfänger_innen keine allzu hohen Ansprüche stellen. Ihre Entwürdigung habe auch einen tieferen Sinn. Sie biete einen Ansporn, selbst etwas für die Gemeinschaft zu tun. Nämlich, zu noch so beschissenen Bedingungen zu arbeiten. Dieselbe Logik sagt, Erwerbslose seien höchstpersönlich für ihr „Versagen“ verantwortlich. Dabei werden Arbeitsplätze aufgrund wachsender technischer Möglichkeiten und unter dem ständigen Druck zur Profitsteigerung wegrationalisiert. Es gibt also immer weniger Jobs, ganz egal, wie sehr sich die Erwerbslosen anstrengen.

Erwerbslos zu sein oder es zu werden, ist die größte Angst der Staatsbürger_innen. Sie fürchten nichts mehr, als den sozialen Abstieg und die damit einhergehende vollkommene Ohnmacht. Je größer die Furcht vor den Folgen eines Jobverlustes, desto eher sind die Bürger_innen bereit, zu Gunsten der Firma auf Lohn und Freizeit zu verzichten. Deshalb ist Deutschland nicht nur Papst, Superstar und Weltmeister der Herzen, es ist auch Lohnminusmeister. Mit dem Verzicht auf 4,5 Prozent vom Reallohn zwischen 2000 und 2009 haben die Deutschen ihren Konkurrent_innen etwas voraus. So wurde zum Beispiel die griechische Wirtschaft schonungslos niederkonkurriert. Unter anderem dadurch wurde der Staatsbankrott Griechenlands verursacht, den die deutsche Öffentlichkeit aber meist als Resultat einer angeblichen südländischen Faulheit darstellte. Eine bemerkenswert unsolidarische Leistung. Aber mit dem deutschen Lohnverzicht ist es noch nicht genug: Über Leiharbeit und Ein-Euro-Jobs werden weitestgehend entrechtete Arbeiter_innen für die Marktanforderungen flexibel gehalten. Der Niedriglohnsektor ist staatlich gewollt und subventioniert. Wer in die Mühlen der Jobcenter gerät, wird mit der Drohung zur Arbeit gezwungen, sonst den Anspruch auf finanzielle Unterstützung zu verlieren. Das ist ja wohl eine verrückte Ordnung. Gegen die müsste mal etwas unternommen werden, anstatt sich für die Blumen zu bedanken.