Wer hat hier was gegen pure Lebenslust?

Über Fußball und Nationalstolz und was ich Deutschland-Fans entgegnen würde

Am 4.7.2010 wurden Guiseppe L. und Francesco S. in einer Bar in Hannover von Holger B. hingerichtet, einer der Getöteten hatte laut einer Augenzeugin auf Knien um sein Leben gebettelt. Was hatte den Todesschützen so wütend gemacht? Die Deutsch-Italiener hatten behauptet, dass die italienische Herrenfußballmannschaft mehr WM-Titel als die deutsche Auswahl gewonnen hätte – womit sie übrigens auch recht hatten. Ein ziemlich drastisches Beispiel für „fröhlichen Patriotismus“. Die konservative Tageszeitung „Die Welt“ beeilte sich deswegen auch, die schon wieder in Nationalfarben schwelgenden Massen aus dem Blick zu nehmen, indem sie erklärte, es habe sich ja nicht um einen Streit um die aktuelle, sondern um vergangene Weltmeisterschaften gehandelt. Die aus dem gleichen Lager stammende „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vermerkte den ganzen Vorfall gleich ganz unter „Kneipenstreit“, während die Staatsanwaltschaft Hannover erklärte, sie gehe „von einer Tat aus Mordlust aus“.

Ja, Spinner gibt es immer, sagen sie. Und sie haben teilweise Recht: So krass der Vorfall ist, so wenig können mit ihm doch all die Leute, die in der Party in „Schwarz-Rot-Geil“ einfach nur ein fröhliches Fest sehen, die meinen, „wir Deutschen“ sollten uns endlich mal entspannen, wirklich kritisiert werden. Denn wer will schon behaupten, dass alle, die Deutschlandfahnen schwenken, im nächsten Moment Leute erschießen? Auch an den z.B. in Lüdenscheid und Düsseldorf stattgefundenen Jagden auf (vermeintliche) Spanier_innen nach dem verlorenen Halbfinalspiel beteiligten sich nur wenige. Und wenn Linke auch zurecht auf die meist ungestörten und zahlreichen Nazi-Vorfälle wie Verteilen von Flugblättern und Sieg Heil-Geschrei auf den Fanfeiern verweisen, so will dieser Text aufzeigen, dass die reine Skandalisierung dieser Fälle, so krass sie und die Ignoranz der Presse auch sind, den wichtigsten Kritikpunkt verdeckt: Die Kritik richtet sich gerade gegen den Normalzustand, den handelsüblichen, demokratischen Bezug auf die „eigene Nation“.

Warum mich das „Für-Deutschland-sein“ nicht nur bei Fußball-Turnieren stört

»Wir werden kämpfen, dafür sind wir bekannt.
Jeder Moment schwimmt in Unsterblichkeit.
Ein Tag ganz ohne Zeit, ein Stückchen Ewigkeit.
Die Hand aufs Herz, Ihr kennt den Weg,
an Eurer Seite werden Millionen geh‘n.
Wenn Du dann müde ins Bett fällst, das Lächeln nicht los wirst,
den Augenblick festhältst, und einschließt in Dir,
kann Dir niemand mehr nehmen, was dich grad berührt hat,
und das ist mehr als nur mal eben.«

(Zeilen aus dem WM-Song von Thomas Godoj, DSDS-Sieger 2008)

Erst einmal ist der Gedanke an Deutschland für viele hier geborene Menschen einfach nur ein schönes Gefühl. Ein Gefühl aber für letztendlich etwas „Selbstverständliches“, selbstverständlich ist man Deutsche_r, warum sollte man das nicht auch sagen. Diese Emotion währt ewig, nicht so vergänglich wie beispielsweise die zu einem Menschen. Das feste Gefühl, selber endlich mal vorzukommen und nicht nur Mrs. oder Mr. Unwichtig zu sein, die_der innerhalb von 80 Jahren die Welt ohne Spuren wieder verlässt. „Wir“ hinterlassen große Spuren in der Geschichte.

Internationale Fußballmeisterschaften sind für viele das Spektakel, wo sie dieses Gefühl, diesen „nationalen Schauer“, das erste Mal in ihrem Leben spüren. Leute, die dieses nationale Spektakel stören, die vielleicht einfach nur für ein anderes Team fiebern als das von allen anderen „natürlich“ gewählte, gelten schnell als komisch. Gerade war noch alles nur ein Spiel und Spaß, schon herrscht eine seltsame Verhärtung bis hin zur krassen Aggressivität beim Gegenüber. Man dürfe doch wohl noch feiern, diese Verkrampftheit mit Deutschland solle auch einmal aufhören, Bevölkerungen in anderen Ländern würden das doch auch machen. Außerdem sei so eine Ablehnung nun auch wieder nur „typisch deutsch“ und dass das alles nicht „rechts“ sei, zeige doch, dass auch viele, die (oder deren Eltern) hier mal aus anderen Ländern herzogen, das auch machen.
Hier zeigt sich, dass auch all die scheinbar nur Party-Machenden genau wissen, dass es hierbei nicht einfach nur um ein Spiel geht. Es geht um mehr. Und genau dieses Mehr kritisieren wir. Sicherlich ist Männerfußball als Ort, wo Typen noch richtige Typen sein dürfen mit all dem doofen Rumgemacker, wo Schwule als seltsam bis abstoßend gelten, Frauen höchstens als Spieler-Frauen=Trophäen eine Rolle spielen und Konkurrenz, Körperideale & eklige „Tugenden“ gepriesen werden, schon als solches ein Problem. Aber hier soll es um das „Mehr“ bei einem Wettstreit von Nationen gehen.

Das erste Problem bei der Diskussion mit Deutschland-Fans während Fußballturnieren ist jedoch oft, dass sie so tun, als wüssten sie nichts von diesem „Mehr“. Es sei doch alles nur Spaß und was ich denn dagegen habe, schallt es einer_m entgegen. Wer die gesellschaftliche Norm(alität) auf ihrer_seiner Seite hat, kann Kritik einfach abtropfen lassen, indem er_sie sich auf diese Normalität als „selbstverständlich“ und „natürlich“ bezieht. Aber: Was tun? Ich würde die Person begründen lassen, Beweislastumkehr! Wie sie es sich denn erklärt, dass hier zufällig alle für Deutschland sind und nicht für das Team, das schöner spielt. Dass schon vor dem Spiel klar ist, für wen die Leute brüllen? Und schnell wird kommen: Warum Du Dich denn nicht auch für die „eigene Nation“ erwärmen würdest, das sei doch „Dein Land“. Was daran stimmt, ist, dass die Leute, die hier wohnen, sehr oft auch den Pass dieses Landes besitzen. Das heißt, es ist ihnen erlaubt, hier zu leben und zu arbeiten. Wenn sie keine Arbeit finden, ist es dann eine Behörde „Deines Landes“, die sie nervt und zu irgendeiner Arbeit zwingt. Es ist „Dein“ Land, das einer_m eine Welt voller Konkurrenzsituationen anbietet (Rückgabe ausgeschlossen), das in Kindergarten und Schule verständnisvoll lehrt oder auch nur einprügelt, dass mensch sich anstrengen muss um zu überleben. So ist z.B. der Sportunterricht dabei für „die Anstrengungsbereitschaft und die Erfolgszuversicht besonders bedeutsam“, wie der Lehrplan des übrigens rot-rot regierten Landes Berlin weiß. Das alles, weil der „eigene Staat“ sich gegen andere Nationen behaupten will, „Exportweltmeister“ werden will oder anderes und ich dummerweise auch noch davon abhängig bin. Und wenn „Dein“ Land beschließt, dass nun irgendein anderer Staat(enbündnis) gerade der „Feind“ ist und die Berufssöldner_innen nicht mehr ausreichen, darf ich mich auch noch totschießen lassen, coole Sache das.

Klar, so wird es der „Deutschland-Fan“ nicht ausdrücken, für sie_ihn ist das erstmal nur ein großes Glück, hier leben zu dürfen. Dankbar sein solle man dafür, anderswo wäre es doch noch schlimmer und immer nur klagen führe zu nichts. Manchmal wird dann noch drangehängt: „Geh doch woandershin“. Aber warum sollte ich von meinen Freund_innen weggehen, in anderen Ländern ist es ja auch nicht anders. Lieber versuche ich doch, mit diesen zusammen das Leben hier für mich und andere schön zu machen.
Gleichzeitig steckt in dieser Sehnsucht nach dem deutschen „Wir“ genau auch all die oben beschriebene Erfahrung drin. Wenn die Lehrerin Frau Bollinger nach der WM 2006 in das Poesiealbum meiner Kusine in der Rubrik „Das sollte es öfters geben“ schreibt: „Menschen, die sich so freuen können wie jetzt bei der Fußball-WM und alle so freundlich zueinander sind“, dann weiß sie, dass das sonst anders ist. Dass Leute sich normalerweise an der Supermarktkasse anrempeln, in der Klassenarbeit einen nicht abschreiben lassen, auf der Arbeit mobben, permanent sich in Konkurrenz sehen, weil sie es sind, die die Ellenbogen ausfahren und sich über die ausgefahrenen Ellenbogen der_des anderen beklagen. Das alles soll dieses „Wir“ vergessen machen. Da würde ich doch lieber diese Konkurrenz abschaffen, als sie für einen Monat alle zwei Jahre notdürftig mit Bier und Fanmeile zu verkleistern.

Von linksliberaler Seite wurde eingewandt, dass doch gerade die migrantische community die Lappen in Schwarz-Rot-Gold aufhängen würde. Das stimmt. Was aber kein Zeichen ist, wie schön das alles ist, sondern eher aufzeigt, wie krass Deutschland zu diesen Migrant_innen war und ist. Denn das ganze Fahnenschwenken ist oft ein verzweifelter Versuch, endlich dazuzugehören. Verzweifelt, weil klar ist, dass sie spätestens nach dem Turnier wieder die Leute sind, die höchstens mit der Müllabfuhr betraut werden. Und die, auch wenn sie einen besseren Job ergattern konnten, eben doch irgendwie „fremd“ und „anders“ bleiben – auch wenn sie hier geboren sind und einen deutschen Pass haben. Übrigens ein recht altes Phänomen, dass Menschen, die in einer Nation als nicht zugehörig angesehen wurden, sich besonders anstrengen, ihren Nationalismus zu zeigen. Und falls sie doch für das Land, aus dem sie oder ihre Eltern herzogen, fiebern (übrigens auch nicht weniger nationalistisch), kann ihnen eben auch irgendein Holger in Hannover begegnen.
Dieses alberne „Die ‚Anderen’ tun es doch auch“ gibt es auch noch in der Spielart, dass gesagt wird, dass das Fahnenrumgeschwenke doch in „anderen“ Ländern auch üblich wäre. Das stimmt, aber ist ein Argument – für nichts. Das sagen nämlich die gleichen, die sonst immer den Satz: „Und wenn andere aus dem Fenster springen, würdest Du das auch tun?“, parat haben, wenn’s ihnen nützt. Aber in dem Argument steckt noch etwas anderes, nämlich das Bedürfnis, endlich auch eine „normale Nation“ sein zu dürfen. Das ist eine Besonderheit des „Wirs“ in Deutschland, hier muss damit umgegangen werden, dass das ja angeblich über all die Jahrhunderte existierende „deutsche Wir“ vor gar nicht allzulanger Zeit sechs Millionen Juden und siebenundzwanzig Millionen Sowjet-Bürger_innen ermordete und die halbe Welt verwüstete.

Als weiteres „Argument“ wird dann häufig vorgebracht, nicht mitzufeiern sei einfach griesgrämig. Aber wie soll ich mitfeiern, wenn ich all das oben weiß? Wenn ich weiß, dass es um mehr als nur ein schönes Spiel geht (denn dann würden sie sich über schöne Tore der argentinischen oder nigerianischen Mannschaft auch freuen). Wie soll ich feiern, wenn ich weiß, dass die große Niederlage meines Lebens auf den Namen Deutschland hört? Der Staat, der mir das im konkurrierenden Verbund mit den anderen Staaten der Welt hier alles eingebrockt hat, weshalb ich, falls ich irgendwann Rente bekommen sollte, zu alt und kaputt bin, um damit noch irgendeine nette Zeit zu haben. Und bis dahin, das heißt mein Leben lang, ich mich schon am Montag aufs Wochenende freue. Wenn ich das alles weiß, warum sollte ich mich als „Wir“ mit all den Menschen fühlen, die dagegen nichts machen wollen? Die gern, wenn es ihnen gesagt wird, für den Erfolg „ihrer“ Nation den „Gürtel enger schnallen“ und mich bei alledem als Spielverderber betrachten? Die lauthals und begeistert den Namen ihrer Herrschaft rufen, deren Siege gegen die Herrschaft von anderen Menschen feiern und andere schon dafür am liebsten hauen würden, dass sie beim Gegröle von „Steh auf, wenn Du ein Deutscher bist“, sitzen bleiben? Just a game? Dieses Spiel verderbe ich gern.

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Deutschland du Opfer!